Auszug aus dem Buch „Anti-Sarrazin“ von Sascha Stanicic
Aus aktuellem Anlass veröffentlichen wir hier den Abschnitt zur Kopftuchfrage aus dem 2011 erschienen Buch „Anti-Sarrazin“ des SAV-Bundessprechers Sascha Stanicic.
Die Kopftuchfrage
Auch die Kopftuchfrage ist weitaus komplexer, als die BefürworterInnen eines Kopftuchverbots sie darstellen. Nachdem in verschiedenen Bundesländern ein Kopftuchverbot für Lehrerinnen eingeführt wurde, wird nun verstärkt ein solches Verbot auch für Schülerinnen gefordert. Das wird dann als Maßnahme gegen Frauendiskriminierung präsentiert. Hinzu kommen Forderungen nach einem generellen Verbot der Ganzkörperverschleierung in Form der Burka, welche auch das Gesicht verhüllt. Tatsächlich jedoch steckt hinter diesen Forderungen antimuslimischer Rassismus und sie führen zu keiner Verbesserung der Lebenssituation von Migrantinnen.
Für Thilo Sarrazin drückt das Tragen des Kopftuchs niemals nur Religiosität aus, sondern er sieht es als „Zeichen dafür, dass der Islam eine gesellschaftspolitische Dimension jenseits der Religion hat“ und als Bekenntnis zu „einer traditionellen Interpretation des Islam“. (QUELLE Thilo Sarrazin, Deutschland schafft sich ab, S. 314)
Pauschal setzt er es auch mit einer Anerkennung der Unterordnung der Frau unter den Mann gleich. Alice Schwarzer geht weiter: Sie vergleicht das Kopftuch mit dem Judenstern und rückt jede Kopftuch tragende Frau in die fundamentalistische Ecke. (QUELLE Achim Bühl, Islamfeindlichkeit in Deutschland, S. 164/165.)
Die Argumente der Verbotsbefürworter zeichnen sich durch Pauschalisierungen aus. Die Logik ist: Entweder werden Frauen zum Tragen des Kopftuchs gezwungen oder sie sind fundamentalistische Muslima. Damit ist die Forderung nach einem Kopftuchverbot Teil der Diskriminierung und Ausgrenzung der muslimischen Bevölkerung. Sarrazin sagt in seinem Buch unverblümt, er wolle nicht, dass die Frauen in Deutschland ein Kopftuch tragen.
Historisch betrachtet sind weder Schleier noch Kopftuch religiöse Symbole. Der Schleier ist nicht einmal eine spezifisch islamische Tradition, sondern wurde zu tragen begonnen lange bevor Mohammed den Islam begründete. Angefangen bei sumerischen Tempelpriesterinnen vor 5.000 Jahren über das vorislamische Persien bis zu jüdischen und christlichen Traditionen trugen Frauen aus verschiedenen Gründen verschiedene Arten der Verschleierung. Ruksana Mansur von der ‚Sozialistischen Bewegung Pakistans‘ schreibt dazu: „Es ist eine historische Tatsache, dass der Schleier ein Brauch und keine religiöse Verpflichtung ist. Er ist eine jahrhundertealte Stammes- und Feudaltradition, die nun zu einem Teil einer Religion geworden ist.“ (QUELLE www.socialistparty.org.uk/articles/1969)
Tatsächlich gab es weder zu Mohammeds Zeiten eine obligatorische Verschleierung muslimischer Frauen noch wird diese im Koran gefordert. Vielmehr übernahmen Muslime mit der Ausbreitung der Religion regionale Traditionen. Interessanterweise finden sich jedoch in der Bibel Stellen, die auf einen Zwang zur Verschleierung von Frauen hinweisen. In der Lutherbibel (Genesis 24,65 ) muss Rebekka sich verschleiern, als sie ihrem zukünftigen Gatten Isaak begegnet. (QUELLE http://www.die-bibel.de/online-bibeln/luther-bibel-1984/lesen-im-bibeltext/quelle/bibel/bibelstelle/1.mose%2024/cache/2d3564e8cd12c9a150e917a777030188/)
Das Kopftuch war in vielen Gesellschaften ein traditionelles Kleidungsstück. Auch in Deutschland haben bis in die 1950er Jahre viele Frauen, vor allem Bäuerinnen, ein Kopftuch getragen. Meine jugoslawische Großmutter, weder gläubige Katholikin noch Muslima, sondern antifaschistische Partisanin, habe ich selten ohne Kopftuch gesehen. Bei körperlicher Arbeit auf Feldern und bei heißem Wetter hatte das Kopftuch einen praktischen Sinn.
Die Motivation, das Kopftuch anzulegen, ist heute vielfältig. Während es zweifellos Frauen gibt, die durch Väter oder Ehemänner dazu gezwungen werden, ist davon auszugehen, dass in Deutschland die Mehrzahl von ihnen diese Entscheidung freiwillig getroffen hat – wobei Freiwilligkeit nicht absolut zu verstehen ist, da sie im Rahmen von gesellschaftlichen Normen, Traditionen und mehr oder weniger direkt geäußerten Erwartungshaltungen im sozialen Umfeld stattfindet. Aber die Entscheidungen von deutschen oder christlichen Frauen, sich die Beine zu rasieren oder Diäten durchzuführen, um im Bikini eine „gute Figur“ zu machen, basieren auf einer ähnlich relativen Freiwilligkeit.
Für viele Muslima ist das Kopftuch nicht nur ein Zeichen ihrer Religiosität, sondern ein Symbol kultureller Identität, nicht selten auch für eine Abgrenzung von einer Gesellschaft, die sie als rassistisch und sexistisch wahrnehmen. Es ist für viele ein Mittel, Selbstbewusstsein als Migrantinnen zum Ausdruck zu bringen. Das Bild der Kopftuch tragenden Frau als unterdrückte und unselbstständige Muslima könnte falscher nicht sein. Gerade unter den gebildeteren Muslima ist das Kopftuch weiter verbreitet. 71 Prozent der muslimischen Kopftuchträgerinnen ist es wichtig, in ihrem Leben etwas zu erreichen. (QUELLE: Sineb El Masrar, Muslim Girls, S. 32)
Natürlich ist das Kopftuch auch ein Symbol für eine männerdominierte Religionsgemeinschaft, und die Ablehnung des Kopftuchs durch viele Frauen aus muslimischen Ländern ist gerechtfertigt, gerade aufgrund der Erfahrungen in frauenfeindlichen Diktaturen wie in Saudi-Arabien und im Iran, wo Schleier bzw. Kopftuch gesetzlich vorgeschrieben sind und Frauen keinerlei Wahl haben. Aber gegen das Kopftuch zu sein, bedeutet nicht automatisch, für ein Verbot einzutreten, so wie gegen das Kopftuchverbot zu sein auch nicht bedeutet, das Kopftuch in dieser Symbolik zu unterstützen. Niemand fordert das Verbot der Lederhose, weil sie als Symbol für reaktionäre Deutschtümelei oder bayrischen Separatismus interpretiert werden kann.
Ruksana Mansur weist darauf hin, dass „die politische und religiöse Rechte das Thema in ihrem eigenen Interesse ausnutzen. Die einen fordern Frauen auf, den Schleier abzulegen, während die anderen die Frauen dazu zwingen wollen, es zu tragen.“ (QUELLE www.socialistparty.org.uk/articles/1969)
Als SozialistIn sollte man gegen das Kopftuch- und Burkaverbot sein, egal wo. Und für das Recht eines jeden Menschen, selber zu bestimmen, was er oder sie für eine Kleidung trägt. Das bedeutet auch, dass SozialistInnen aktiv gegen den Zwang, das Kopftuch zu tragen, eintreten und Frauen dabei helfen sollten, sich gegen entsprechende Zwänge zu organisieren und zu wehren.
Kopftuchstreit, „Ehrenmord“-Debatte und die Situation von Muslimas im allgemeinen werden von den selbst ernannten IslamkritikerInnen in einer Art und Weise geführt, die ein pauschales Bild höchster Unterdrückung von muslimischen Frauen zeichnet. Achim Bühl zitiert in seinem Buch einen muslimischen Sketch, der das auf den Punkt bringt: „Erste Szene: Eine Frau mit Kopftuch sitzt im Auto hinten, ein Mann fährt. Ein Vertreter der so genannten Mehrheitsgesellschaft: ‘Selber fahren dürfen die wohl nicht.’ Zweite Szene: Eine Frau mit Kopftuch fährt, ein Mann sitzt daneben. Ein Vertreter der Mehrheitsgesellschaft: ‚Jetzt lassen die sich auch noch fahren’. Dritte Szene: Eine Frau mit Kopftuch sitzt vorne neben ihrem Mann, der fährt, eine Frau ohne Kopftuch sitzt hinten. Ein Vertreter der Mehrheitsgesellschaft: “Jetzt kommen die auch noch mit mehreren Frauen.’“ (QUELLE Achim Bühl, Islamfeindlichkeit in Deutschland, S. 180) Dieser Sketch macht deutlich, dass die Lebensrealität muslimischer Frauen komplex ist und eine konkrete Auseinandersetzung mit Diskriminierung, Benachteiligung und Unterdrückung nötig ist – statt pauschaler Verurteilungen, die zu Forderungen nach Kopftuchverbot oder ähnlichem führen.
Hilfe für diskriminierte Frauen muss anders aussehen. Ein Kopftuch- oder Burkaverbot würde diejenigen Frauen, die zum Tragen desselben gezwungen werden, ohnehin nur weiter von der Gesellschaft isolieren. Die Frauen, die es freiwillig tragen, wären durch ein Verbot nur von ihrer Freiheit befreit, also unterdrückt und diskriminiert. Frauen, die tatsächlich häuslicher Gewalt, Zwang und Unterdrückung ausgesetzt sind, brauchen vor allem gut bezahlte Arbeitsplätze, um wirtschaftlich selbstständig zu sein, und ausreichende Angebote an Beratungsstellen und Frauenhäusern, in denen die Betreuung auch in türkischer, arabischer und anderen Sprachen stattfindet.