In gegenwärtigen politische Debatten wird von rechten Kreisen bis hin zum bürgerlichen Establishment von „Flüchtlingsströmen“ gesprochen und dieser vermeintliche „Massenansturm“ von etwa einer Millionen Menschen als für Deutschland unlösbar dargestellt. Gerne vergessen wird dabei, dass es nach Ende des Zweiten Weltkriegs tatsächlich eine Massenflucht in einem Ausmaß gab, im Zuge derer ungefähr zwölf bis vierzehn Millionen Deutsche, zusammen mit etwa ebenso vielen „Displaced Persons“ (Befreite KZ-Gefangene und ZwangsarbeiterInnen) auf der Flucht waren und in einem völlig kriegszerstörten Land bzw. in ihren Herkunftsländern eine neue Heimat finden mussten.
von Marcus Hesse
Sechzig bis achtzig Millionen Menschen hatte der von Nazi-Deutschland entfachte Krieg in Gesamteuropa zu Flüchtlingen gemacht. Am Ende des Krieges war es zum weitgehenden Zusammenbruch der Lebensmittelversorgung gekommen und in nahezu allen deutschen Großstädten gab es auf Grund der Zerstörungen akuten Wohnungsmangel. Hingegen war die Industrie, auf Grund der Konzentration der alliierten Bombardements auf Wohngebiete, in weitaus geringerem Maße zerstört und bei Einsatz profitabel. Dennoch lag die Produktion gegen Kriegsende weitgehend brach. Vor diesem Hintergrund ist es bemerkenswert, dass es letztlich doch gelang, diese Menschen in die Gesellschaften der BRD und DDR zu versorgen, unterzubringen und zu integrieren. Aber anders als es heute gerne dargestellt wird, ging dies nicht ohne Konflikte, Spannungen und Widerstände. Doch am Ende kam die Konjunktur den Betroffenen entgegen.
Die Arbeiterbewegung und die Vertreibungen
Es war Nazi-Deutschland, welches zuerst im Zuge seiner Eroberungsfeldzüge eine Politik der systematischen Zwangsumsiedlung und Vertreibung begann. Neben den sechs Millionen JüdInnen, die in die Ghettos und schließlich Vernichtungslager gebracht wurden, wurden allein 4,5 Millionen SowjetbürgerInnen und zwei Millionen PolInnen ins Reichsgebiet deportiert. Die Nazis planten auch die großangelegte Zwangsgermanisierung Tschechiens und weiter Teile der besetzten Gebiete Polens und der UdSSR. Durch die Niederlage Nazi-Deutschlands konnten diese Pläne aber zum Glück nicht umgesetzt werden.
In Folge der Niederlage des Dritten Reiches flohen nun ihrerseits Millionen von Deutschen aus den Ostgebieten vor der anrückenden Roten Armee und den Kampfhandlungen. Nach der deutschen Kapitulation zogen die Siegermächte die Landkarte Mitteleuropas neu: Der polnische Staat rückte nach Westen. Während große Teile des bis 1939 zu Polen gehörenden Gebietes Teil der UdSSR wurde, wurden Ostpreußen, Pommern, Danzig und Schlesien polnisch. Die dortige deutsche Bevölkerung wurde vertrieben und die Gebiete wurden mit PolInnen und RussInnen, die zum größten Teil selbst Vertriebene waren, besiedelt. In der Tschechoslowakei verfügte die Regierung in den Beneš-Dekreten die Vertreibung der dort lebenden deutschsprachigen Bevölkerung, der Sudetendeutschen. Ähnliche Maßnahmen wurden in Jugoslawien und Rumänien vollzogen.
Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung nach 1945 wird seitdem von rechten Kräften instrumentalisiert, um ein relativierendes Bild der Verbrechen der Nazis zu vermitteln. Dahingegen stellt die Bewertung der Politik der Vertreibungen für viele Linke ein Problem dar. Wie positionierten sich SozialistInnen und die Arbeiterbewegung damals dazu? Zunächst ist auffällig, dass die nach 1945 neu entstandenen „Volksdemokratien“ stalinistischer Prägung allesamt eine nationalistische Politik praktizierten, die keinen Unterschied machte zwischen deutschen Großgrundbesitzern und Kapitalisten einerseits und ArbeiterInnen und armen Bauern andererseits. Aktive Nazis und WiderstandskämpferInnen (die schlesischen Industriegebiete waren Hochburgen der Arbeiterbewegung vor 1933) waren gleichermaßen von den Vertreibungen betroffen. Die stalinistisch dominierten neuen Volksfrontregierungen in Polen und der Tschechoslowakei sprachen zeitweise von einem Gegensatz zwischen „Germanen“ und „Slawen“. Dem entsprach auch die Linie des Stalinismus im besiegten Deutschland selbst, wo die KPD in den ersten Jahren nach dem Krieg die These der nationalen Kollektivschuld vertrat. Diese entsprach den Interessen der sowjetischen Besatzungsmacht und diente als Rechtfertigung für Demontagen von Industrieanlagen in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und einer Politik des Misstrauens gegen jede unabhängige Selbstaktivität der Arbeiterklasse, was zur Auflösung von Antifa-Komitees und Betriebsräten führte. Die kleine trotzkistische Bewegung trat damals für eine Politik des strikten Internationalismus ein und bekämpfte die These von der nationalen Kollektivschuld ebenso wie die nationalistisch motivierte Zwangsumsiedlungspolitik. So schrieb die IV. Internationale in einer Flugschrift aller europäische Sektionen: „Was das Goebbels Propagandamaul Jahre hindurch gelogen hat, Hitler und das deutsche Volk seien eins, das ist jetzt die offizielle Begründung für die Behandlung dieses Volkes durch die siegreichen alliierten Mächte.“ Doch alle Hoffnungen der TrotzkistInnen richteten sich auf einen revolutionären Umsturz des Proletariats in Deutschland nach dem Vorbild der Revolution von 1918. Diese traf nicht ein und die Befreiung vom Faschismus wurde von den Alliierten geleistet, die natürlich keinerlei Interesse an einer proletarischen Revolution hatten. So blieb die Position des revolutionären Internationalismus isoliert. Die Arbeiterklasse Europas musste im Folgenden den Preis dafür zahlen.
Flüchtlinge im besetzten Deutschland
Im Gebiet des zusammengebrochenen Nazi-Reiches brauchten nun auf die Schnelle vierzehn Millionen Menschen eine neue Unterkunft und Arbeit. Sie landeten traumatisiert, lange Fluchtwege hinter sich, in behelfsmäßigen Zwischenlagern. Es gab keine Großstadt in Deutschland, in der nicht mindestens die Hälfte allen Wohnraums zerstört war. Die vier Besatzungszonen gingen sehr unterschiedlich mit den Flüchtlingen um: Die meisten fanden Aufnahme in der SBZ, was an der geografischen Nähe zu den Herkunftsorten der Flüchtlinge lag. Die britische und amerikanische Zone nahmen weit weniger Flüchtlinge auf. Die französische Besatzungsmacht verweigerte den Zuzug sogar ganz. Gerade in der SBZ und der späteren DDR war der Anteil der Vertriebenen an der Bevölkerung besonders hoch: Im April 1949 waren 24,8 Prozent der Bevölkerung Brandenburgs Geflüchtete von der anderen Seite der Oder.
Bis zu zehn Millionen Menschen waren während des Krieges in ländliche Gebiete evakuiert worden, wo sie in provisorischen Lagern hausen mussten und nicht selten dem Misstrauen der ländlichen Bevölkerung ausgesetzt waren, die in ihnen vor allem BettlerInnen sahen. Es sollte noch lange dauern, bis die Kommunalverwaltungen es den Evakuierten ermöglichten, wieder in ihre ursprünglichen Wohnsitze zurückzukehren. Neben den deutschen Flüchtlingen aus dem Osten zogen Millionen von KZ-Überlebenden und befreiten ZwangsarbeiterInnen durch das Land, die meist nicht wussten wo sie hingehen sollten, da ihre Heimat durch die Raubzüge der deutschen Armee verwüstet worden waren. Viele fürchteten sich auch davor, in ihren Ländern als Kollaborateure bestraft zu werden. Die „Displaced Persons“ (DP), eine bunte Menge aus Menschen aus rund zwanzig Nationalitäten und 35 Sprachen, wurden den Besatzungsmächten, ihrem Militär und denen mit ihnen zusammenarbeitenden offiziellen Hilfsorganisationen zugeteilt. Man versuchte schnell, sie in ihre Länder zurückzubringen. Ende 1945 waren noch 1,7 Millionen dieser Menschen in Deutschland. Gerade viele jüdische DP‘s fanden in keinem Land Aufnahme, was viele – ob ZionistInnen oder nicht – zwang, nach Palästina zu emigrieren. Als die Westalliierten 1950 die Verantwortung für die DP‘s an die Bundesregierung übergaben, dürften sich noch rund 150.000 von ihnen im Bundesgebiet aufgehalten haben. Etwa ein Drittel davon lebte immer noch in Lagern.
Alles andere als „Willkommenskultur“
Die bürgerliche Gesellschaftsordnung in ihrer Klassenteilung blieb unangetastet. Im Westen war das erklärte Politik der Besatzungsmächte. Die Kriegsfolgen (Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit, Hunger) trafen die deutsche Arbeiterklasse und die unteren Teile der Mittelschichten besonders schwer. Wohlhabende bürgerliche Vororte waren selten von Bombenschäden betroffen. Das stellte die sich neu aufbauende Arbeiterbewegung vor eine besondere Herausforderung. Galt es doch gerade in dieser Situation, dem Gedanken der Solidarität zur Durchsetzung zu verhelfen, in einer Zeit wo Mangel an Lebensmitteln und Wohnraum herrschte und jedeR ZuwandererIn als KonkurrentIn erschien. So waren es Antifa-Komitees und Basiseinheiten linker Parteien und Gewerkschaften, die Geflüchtete in ihre Reihen integrierten und – bis zu ihrer Auflösung durch Westalliierte oder Stalinisten im Osten – eigenverantwortlich Wohnraum für Bedürftige bereitstellten. Eine sehr informative Analyse und Überblicksdarstellung über die Aktivitäten der Basisorganisationen und Komitees der Linken bietet die von Peter Brandt, Lutz Niethammer und Ulrich Borsdorf 1976 herausgegebene Studie „Arbeiterinitiative 1945“ über die Antifa-Ausschüsse und den Wiederaufbau der deutschen Arbeiterbewegung. Damals gab es im ganzen Land Aktivitäten von Unten, die den unmittelbaren Wiederaufbau und die kollektive Bewältigung der drängendsten Probleme organisierten. Frühzeitig hatten die sich selbst organisierenden ArbeiterInnen entsprechende Maßnahmen, wie die Beschlagnahmung von Wohnraum zu Gunsten der Geflüchteten gefordert. Auf Grund der akuten Not griffen aber auch die Besatzungsmächte zu diesem Mittel.
Es wäre falsch, zu glauben dass Solidarität damals allgemein verbreitet war. In der Situation der Knappheit florierten Schwarzhandel und Schiebergeschäfte. Die allermeisten versuchten auf sich gestellt, irgendwie zu überleben. Mittellose Geflüchtete erschienen da als nutzlose EsserInnen. Hinzu kam, dass mit dem Zusammenbruch des städtischen Lebens viele StädterInnen (genauso wie die Flüchtlinge) aufs Land zogen, wo es noch genug Lebensmittel gab. BäuerInnen, vor allem GroßbäuerInnen, hatten trotz des Rückgangs der landwirtschaftlichen Produktion genug zu Essen. Manche waren sogar durch den Schwarzhandel mit Naturalien reicher geworden als vor dem Krieg.
Besonders viel Angst hatten Teile der Bevölkerung vor den DP‘s. Waren diese doch gemäß der nach nationalsozialistischer Ideologie erzogenen Menschen „Fremdrassige“. So manch ein Großbauer, der während des Krieges ZwangsarbeiterInnen ausbeutete und misshandelte, hatte sicherlich Furcht vor gewaltsamen Racheakten dieser befreiten SklavInnen. Doch kam es nur sehr selten zu solchen Racheaktionen, da die Besatzungsarmeen dies meistens verhinderten und frühzeitig die Kontrolle über die Unterbringung und Rückführung der DP‘s organisierten.
Bemerkenswerter Weise bekamen ethnische Deutsche, die als Flüchtlinge eine Bleibe suchten, nicht selten die selben rassistischen Diffamierungen zu hören, wie die DP‘s. In einem Artikel in der Zeit Online vom Januar 2015 werden einige Erfahrungen von Flüchtlingen eindrucksvoll geschildert: „Ihre ersten Erfahrungen in der neuen Heimat waren oft bitter. ‚Verschwinds, damisches Gesindel‘, entgegnete man im Chiemgau dem Flüchtlingsjungen Olaf Ihlau aus Ostpreußen, der sich später als Journalist und Autor einen Namen machte. Manchmal ließ man die Hunde von der Kette. ‚Flüchtlingsschweine‘ und ‚Polacken‘ schimpfte man Vertriebene wie die Ihlaus. Dabei waren sie, allein auf sich gestellt, auf das Mitleid fremder Menschen in einer fremden Umgebung angewiesen. Dass sie als ‚Zigeuner‘ oder ‚Gesindel‘ bezeichnet wurden, entsetzte und erbitterte viele von ihnen. ‚Die drei großen Übel, das waren die Wildschweine, die Kartoffelkäfer und die Flüchtlinge‘, sagte man im Emsland über die Zeit nach dem Krieg.“ (Zeit Online 5/2015)
Gerade in konservativ geprägten, ländlichen Gebieten, in denen die Linke und die Arbeiterbewegung schwach waren, mischten sich fremdenfeindliche Haltungen mit einer Furcht vor materieller Verschlechterung der eigenen Lebenslage durch die Zugezogenen. Hinzu kamen reaktionäre Moralvorstellungen. Denn viele Flüchtlinge damals waren alleinstehende Frauen, deren Männer im Krieg umgekommen, verschollen oder in Gefangenschaft waren. Sie zogen ihre Kinder entsprechend alleine auf und zogen sich in einer von konservativem und patriarchalischem Denken geprägten Umgebung nicht selten einen „schlechten Ruf“ zu, wenn sie wieder Beziehungen eingingen. In Martin Sperrs später auch verfilmtem Bühnenstück „Jagdszenen aus Niederbayern“, dessen Handlung im Jahre 1948 spielt, wird eine solche Außenseiterfigur exemplarisch in der Rolle der Bäuerin Maria verkörpert.
Aus heutiger Sicht kaum verständlich sind die aus dem Zusammentreffen mit den Flüchtlingen entbrannten konfessionellen Konflikte, die aber noch bis lange in die 1950er Jahre in Westdeutschland zu Konflikten und oftmals handfesten Auseinandersetzungen führten, etwa da wo protestantische Ostpreußen in katholischen Dörfern Oberbayerns lebten oder katholische Sudetendeutsche im protestantischen Schleswig-Holstein.
Die dennoch bewältigte Krise – in Ost und West
Die Besatzungsmächte und die von ihnen installierten Behörden hatten jedoch ein großes Interesse daran, diesen sozialen Sprengstoff zu beseitigen. In allen Besatzungszonen gelang das nur durch Eingriffe in das bürgerliche Eigentumsrecht: Wer unzerstörten Wohnraum frei hatte, wurde dazu gezwungen, Flüchtlinge aufzunehmen. Natürlich schuf das neue Konflikte und heizte bestehende an, aber es gelang so, zumindest die gröbste Not zu beseitigen. Jedoch unterschied sich das Vorgehen in Ost und West stark voneinander. So setzte die sowjetische Besatzungsmacht die Maßnahmen gegen Privateigentümer viel weiter durch als die Westalliierten. Dass viele Gutsbesitzer und Industrielle sich schon vor dem Einmarsch der Roten Armee in den Westen absetzten, war da sicher hilfreich: In deren verlassene Gutshäuser und Villen konnten – zumindest in denen, die nicht von der neuen privilegierten stalinistischen Führungsschicht bewohnt wurden – obdachlose Kriegsflüchtlinge einziehen. Einer der bedeutendsten, positivsten und einschneidendsten Maßnahmen der sozialen Umwälzungen im Osten war die Bodenreform, im Zuge derer Grundbesitz von Junkern, NS-Verbrechern und anderen Großgrundbesitzern ab einhundert Hektar Landbesitz entschädigungslos enteignet und an KleinbäuerInnen (so genannte „Neubauern“) verteilt wurde. Ein Drittel dieser NeubäuerInnen waren Geflüchtete.
Der Wiederaufbau nach dem Krieg in Ost und West ermöglichte – wenn auch unter unterschiedlichen Vorzeichen die Integration der Flüchtlinge in die Gesellschaft. Arbeitskräfte wurden dringend gebraucht. Dennoch sollte es noch lange dauern, bis die Geflüchteten – vor allem im marktwirtschaftlichen Westen – eine ihrer Qualifikation entsprechende Arbeit bekamen. So trat ein typisches Phänomen auf: Dass sie in geringqualifizierten und wenig beliebten Tätigkeiten arbeiten mussten. Das wohl schwierigste Problem bliebt die Wohnungssituation. Denn der Städtebau kam angesichts des Ausmaßes der Zerstörung nur schleppend voran. 1949 gab es noch 465 staatliche Flüchtlingslager (für über 90.000 Personen), erst 1957 wurden die letzten aufgelöst.
Die „Vetriebenen“ in der BRD und ihre Instrumentalisierung
Es sollte bis Mitte der 1950er dauern, bis eine vollständige Integration in die bundesdeutsche Gesellschaft gelang. Entscheidend dabei war der zu der Zeit einsetzende Nachkriegsaufschwung, der oft als „Wirtschaftswunder“ bezeichnet wird. Ende der 1950er Jahre gab es nahezu Vollbeschäftigung und man begann, Arbeitskräfte aus dem Ausland anzuwerben,während in der DDR die ab 1952 einsetzende bürokratische Planwirtschaft die ehemaligen Flüchtlinge in die Volkswirtschaft integrierte. Die konservative Adenauer-Regierung griff in der Anfangsphase der Bundesrepublik sogar zu einer Maßnahme der Umverteilung. So wurde 1952 das Lastenausgleichsgesetz beschlossen, das Besitzern großer Vermögen und Sachwerte (wie Immobilien) eine Abgabe auferlegte, die zu Gunsten von Flüchtlingen (sei es durch Krieg, Vertreibung oder Flucht aus der SBZ/DDR) ging. Durch die Verteilung der Last über mehrere Jahre betrug die Belastung der so zur Kasse gezwungenen nur 1,67 Prozent pro Jahr. Diese Summe war bescheiden und tat den Reichen nicht weh. Doch bis 1982 wurden so etwa 117 Milliarden D-Mark umverteilt. Bis heute laufen die Zahlungen an die Überlebenden des Krieges und die ehemaligen Geflüchteten fort. Alleine ihre Einführung durch eine bürgerliche Regierung und die Kontinuität der Zahlungen über die Jahrzehnte zeigt, was gesellschaftlich möglich ist, wenn nur genug politischer Druck da ist und eine offensichtliche Notwendigkeit besteht. Sicher trug die Systemauseinandersetzung mit dem Osten das Ihrige dazu bei, hier die Besitzenden zu Solidaritätsleistungen zu zwingen.
Im Laufe der 1950er Jahre wurden die Interessenvertretungen der Vertriebenen, die so genannten Landsmannschaften, die anfangs noch soziale und Betreuungsaufgaben übernahmen, zu Vereinigungen mit einer zunehmend nationalistischen politischen Agenda. Neben Folklore aus der Heimat und Erinnerungspflege wurden aus den Reihen dieser Verbände fortlaufend Forderungen nach Rückgabe der ehemals deutschen Ostgebiete laut, die ab 1945 von anderen Nationalitäten besiedelt wurden. Besonders PolitikerInnen der CDU/CSU, aber nicht selten auch weiter rechts stehende Kräfte begannen, in den in Landsmannschaften organisierten „Vertriebenen“ (und deren entsprechend gesinnten Kindern und Enkeln) eine feste Basis für ihre Politik zu suchen. Während das Thema der Zwangsumsiedlungen in der DDR politisch tabu war, war die Rückgewinnung der verlorenen Ostgebiete offizielle und aggressive Staatsdoktrin der BRD, was sich erst mit den Ostverträgen der Regierung Brandt änderte. Bis dahin waren Schlesien, Pommern und Ostpreußen auf bundesdeutschen Karten als „zur Zeit unter polnischer/russischer Verwaltung“ stehend gekennzeichnet. Es ist eine Ironie: Als die Vertriebenen endlich in der Mehrheit der deutschen Gesellschaft aufgingen und durch den Wirtschaftsaufschwung integriert wurden, begann die herrschende Klasse der Bundesrepublik sie und ihre Verbände als reaktionäre und antikommunistische Lobby im Kalten Krieg einzuspannen.
Welche Lehren können wir daraus ziehen?
Das Beispiels des Umgangs mit der Massenflucht nach 1945 ist in mehrfacher Hinsicht lehrreich. Zum einen zeigt sich, dass die schiere Zahl der Geflüchteten heute nicht im Ansatz den Massen entspricht, die damals ins Land kamen. Und zwar in ein völlig zerstörtes und hungerndes Land. Dennoch gelang es, damals vierzehn Millionen Menschen langsam in die Gesellschaft zu integrieren. Dies ging nur durch Eingriffe in das Privateigentum und durch Maßnahmen, die die Besitzenden belasteten. Auch heute ist es wichtig, dass wir einen Kampf darum führen, dass die Reichen für die Kosten, die mit der Aufnahme von Geflüchteten einher gehen, zahlen. Denn sie sind die Profiteure eines Systems, das ständig Fluchtursachen schafft. Heute wird viel über die Bedeutung von Kulturzugehörigkeit und Kultur gesprochen. Anders als die Geflüchteten heute waren die Flüchtlinge damals ethnische Deutsche. Doch wie wir sehen konnten, galt auch ein fremder deutscher Dialekt oder eine andere christliche Konfession damals als Hürde. Letztlich kam die ökonomische Erholung nach dem Krieg, der Nachkriegsaufschwung, den Betroffenen zu Gute. Es wurde nach der Zerstörung wieder aufgebaut und es wurden wieder Arbeitskräfte gebraucht. Das ist der Unterschied zu heute, zu einem Europa in der Krise und des Niedergangs. Doch die Krise heute ist eine Andere als die damals. Es herrscht nicht Mangel, sondern Überproduktion. Die Gesellschaft ist so reich wie nie zuvor. Aber der Reichtum ist in den Händen einer kleinen Minderheit. Dieses System lässt Menschen fliehen und ist die Ursache für Kriege und Fluchtbewegungen – damals wie heute. Nur eine sozialistische Reorganisation von Wirtschaft und Gesellschaft könnte diesen Krisen ein Ende machen und zu einer wirtschaftlichen Entwicklung im Interesse Aller führen, was auch die Sorge vor den „neuen KonkurrentInnen“ um Wohnung, Arbeitsplatz und Bildungsangebote zurückdrängen könnte. Es ist, wie damals, Aufgabe der Arbeiterbewegung – Gewerkschaften, linke Parteien – und sozialen Bewegungen, praktische Solidarität zwischen einheimischen ArbeiterInnen und Geflüchteten zu organisieren und den gemeinsamen Kampf gegen den Kapitalismus zu führen.