Von der Charité in die ganze Republik
Beim Berliner Universitätsklinikum Charité dauerten die Tarifverhandlungen zum Thema Personalbemessung und Gesundheitsschutz bei Redaktionsschluss noch an. Doch bereits jetzt weitet sich die Auseinandersetzung in die Bundesrepublik aus. Lucy Redler sprach mit Michael Quetting, zuständiger Gewerkschaftssekretär ver.di Region Saar Trier und Janine Balder, als ver.di-Gewerkschaftssekretärin zuständig für das Vivantes Klinikum in Berlin.
Interview mit Michael Quetting, Gewerkschaftssekretär ver.di Region Saar Trier
„Wir haben in Berlin und im Saarland schon mal die Lunte gelegt“
Auf dem Symposium „Krankenhäuser – wie krank ist das denn?“ im Oktober hat ver.di vorgeschlagen, für die 21 Krankenhäuser im Saarland einen Tarifvertrag für Entlastung zu erkämpfen. Am 21. März fand in Saarbrücken der 1. Ratschlag der TarifberaterInnen für einen Tarifvertrag Entlastung statt. Bisher haben sich beeindruckende 285 TarifberaterInnen gemeldet. Die Diskussion über mögliche Forderungen hat begonnen.
Was sind die Schwerpunkte in der Forderungsdiskussion?
Es geht um „Personal, Patienten und Recht“ – kurz PPR. Wir wollen Mindeststandards für mehr Personal im Interesse der Patientinnen und Patienten und mehr Rechte für die Kolleginnen und Kollegen. Ein Maßstab könnte die Wiedereinführung der Pflegepersonalregelung (PPR) von 1996 sein und deren Anwendung zu einhundert Prozent. Die PPR als System ist zwar an einigen Stellen veraltet, aber sie wäre ein guter Bezugsrahmen, da sie noch vielen KollegInnen bekannt ist. Die Einführung der „PPR 100%“ wäre ein riesiger Fortschritt – auch für die PatientInnen.
Soviel zu Personal und Patienten, worum geht es beim „Recht“?
Wir wollen, dass die KollegInnen Rechte erhalten, wenn die vereinbarte Mindestbesetzung unterschritten wird, Pausen nicht eingehalten oder KollegInnen aus dem Frei geholt werden. So sollte beispielsweise festgeschrieben werden, dass der Arbeitgeber im Falle von Gefährdungsanzeigen innerhalb von vier Stunden intervenieren und Maßnahmen zur Beseitigung der Gefährdung einleiten muss. Bei einer Unterschreitung der Mindestbesetzung werden Betten gesperrt. Bei Verstößen gegen gefasste Regeln sind verschiedene Sanktionen möglich, eine besteht aus Strafzahlungen des Arbeitgebers an die Gewerkschaft, welche die Gelder im Interesse der KollegInnen verwaltet. Das sind alles aber bisher nur Ideen, die beim zweiten Tarifberatertreffen diskutiert und beschlossen werden.
Welchen Einfluss hatte und hat der Kampf an der Charité für eure Auseinandersetzung?
Wir verfolgen mit großem Interesse, was in Berlin passiert und haben uns letztes Jahr während des Streiks solidarisch mit den streikenden Charité-KollegInnen gezeigt. Wir wollen von dem Kampf lernen, ohne ihn zu kopieren. Der Pflegestreik Saar ist eine regionale Auseinandersetzung, bei der nicht ein Haus, sondern alle 21 Häuser mit demselben Landesbasisfallwert mobilisiert werden, dann sind alle gleichermaßen von der Auseinandersetzung betroffen. Wir wenden das System der TarifberaterInnen von ver.di Charité auch bei uns an. Die Idee ist folgende: eine Kollegin (es sind in der Regel Frauen) pro Station kommuniziert die Interessen und Meinung ihrer Station mit der Tarifkommission und der Verhandlungskommission. Auch Nicht-Gewerkschaftsmitglieder werden eingebunden und es ist ein Bottom-up Prozess von Station zur Gewerkschaft. Die TarifberaterInnen werden damit zum dialektischen Bindeglied zwischen den Gesamtinteressen und Partikularinteressen der Streikenden. Ich finde es spannend, dass die Idee der TarifberaterInnen nun zunehmend im Fachbereich diskutiert wird.
Was sind eure Planungen für den Pflegestreik Saar, um den Entlastungs-TV zu erkämpfen?
Wir haben einen Neun-Punkte-Plan zur Vorbereitung und Durchführung des Pflegestreiks aufgestellt und liegen sehr gut im Plan. Die nächsten Schritte sind die Bildung der Tarifkommission und Festlegung der Forderungen. Jedes Krankenhaus entsendet eine Kollegin oder einen Kollegen in die Tarifkommission, die beim zweiten Tarifberatertreffen im Mai gewählt wird. Wenn alles gut läuft, wird der Arbeitgeber im Juni zu Verhandlungen zum Tarifvertrag Entlastung aufgefordert. Wenn er sich nicht bewegt, kann es ab September zu Streiks kommen.
Mit welcher bundesweiten Wirkung rechnest du – auch in Bezug auf Diskussionen im Fachbereich und Betriebsgruppen in anderen Krankenhäusern? Wird es einen Flächenbrand geben?
Das Thema Entlastung und Aufwertung wird uns die nächsten zwei Jahre sehr beschäftigen, dazu muss ver.di bundesweit agieren. In NRW tragen sich die KollegInnen in sechs Uniklinika mit der Idee, etwas ähnliches zu beginnen und auch in Hamburg und Baden-Württemberg laufen Diskussionen. Wir haben in Berlin und im Saarland schon mal die Lunte gelegt. Es wird zu einem Flächenbrand kommen.
Interview mit Janine Balder
„TVöD für alle erstreiken“
Janine, du bist als ver.di-Gewerkschaftssekretärin zuständig für das Vivantes Klinikum in Berlin. Du hast bei den Sozialismustagen über die Kampagne „Zusammenstehen“ berichtet, die ver.di am Vivantes Klinikum gestartet hat. Worum geht es in der Kampagne?
Mit dieser Kampagne wollen sich die Beschäftigten so ziemlich aller Berufsgruppen in Vivantes wehren gegen Zersplitterung und Ausgliederung, ungerechte Bezahlung und zu wenig Personal einhergehend mit einem hohen Maß an Arbeitsverdichtung und zunehmender bis kaum noch zu bewältigender Arbeitsbelastung. Ein besonderes Anliegen ist es, aufzuzeigen, wie wichtig jede und jeder einzelne Beschäftigte im Krankenhaus ist, damit die Patientenversorgung gut funktioniert und dass sich die KollegInnen nicht in „weiße“ und „graue“ Bereiche unterteilen und durch Ausgliederungen in Tochtergesellschaften spalten lassen!
Wenn der Patient nicht im OP ankommt, kann nicht operiert werden. Ein Operateur kann ohne sterile und intakte Instrumente nicht operieren. Wenn die Medikamente und die Maske fehlen und das Narkosegerät defekt ist, kann die Anästhesie keine Narkose vornehmen. Wenn der Patient hinterher nicht vernünftig versorgt wird – durch Pflegekräfte, Therapeuten, Ärzte – kann keine OP erfolgreich sein. Wenn nicht vernünftig gereinigt wird, hat die beste Therapie keinen Erfolg. Ohne Essen, saubere Wäsche geht gar nichts. Und wenn all diese Dinge nicht auf Station ankommen, läuft auch einiges schief. Dann ist Sand im Getriebe!
Begonnen hat alles im Juni 2014. Die Vivantes-Beschäftigten des Mutterkonzerns haben nach zehn Jahren Verzicht auf Jahressonderzahlungen erstmals den vollen TVöD erhalten – da stellt die Geschäftsleitung Vivantes fest, dass die Zahlung des vollen TVöD dem Unternehmen zu teuer kommt. Die Geschäftsführung kündigt die Ausgliederung des sogenannten „grauen Bereichs“ (Patientenbegleitservice, Lager, Logistik, Facilitymanagement) an, die bisher im Mutterkonzern angestellt und damit nach TVöD bezahlt wurden, sowie Gründung einer Tochtergesellschaft Therapeutische Dienste – in die, wie die Geschäftsleitung beteuert, keine Stammbelegschaft der Mutter ausgegliedert werden, aber neue Ergo-, Physiotherapeuten, Logopäden und andere zu marktüblichen Preisen eingestellt werden sollen. Das sind bei gleicher Tätigkeit, oft an gleichen Patienten achthundert bis eintausend Euro Unterschied!
Das wollen die Beschäftigten nicht länger hinnehmen. In Vivantes gibt es aktuell 13 Tochtergesellschaften, in denen diese unterschiedliche Bezahlung von Mutterbeschäftigten zu Neueingestellten mehr oder weniger Praxis ist.
Und nicht zu vergessen, das Thema der zunehmenden Arbeitsbelastung und damit die Forderung nach „Mehr Personal ins Krankenhaus“ Und so kam es bei der Geburtsstunde der Kampagne „Zusammenstehen“ im September letzten Jahres zu den drei Forderungen: TVöD für alle, mehr Personal im Krankenhaus, Tochtergesellschaften rückführen.
Wie hat der Streik an der Charité eure Kampagne und das Bewusstsein der Kolleginnen und Kollegen beeinflusst?
Eigentlich war der Streik bei der Charité mit ein Auslöser für die Kampagne „Zusammenstehen in Vivantes“ wie wir sie, mit den drei Forderungen seit September 2015 fahren. Vor allem aber die Forderung nach mehr Personal im Krankenhaus, wurde durch den Streik an der greifbar nahen Charité so richtig zur Forderung auch für die Beschäftigten bei Vivantes. Da, so schien es, sind einige Pflegende von Vivantes aus ihrem Dornröschenschlaf oder „Jammertal“ aufgewacht!
Bis zu diesem Zeitpunkt hatten wir zum Beispiel keine Ansprech- oder Kontaktperson im Klinikum Spandau – bis ich eines Abends im Sommer 2015 einen Anruf von einer Kollegin bekam, die meinte „So, mir reichts, was die Charité kann, können wir auch – ich will auch streiken“. Sie wurde von einem auf den anderen Tag Vertrauensfrau fürs Klinikum Spandau und organisierte dann binnen weniger Tage eine sehenswerte Beteiligung der Spandauer KollegInnen an der 162.000 Aktion. Solche und ähnliche Begegnungen geschahen häufiger.
Der Austausch, die Netzwerkarbeit und gemeinsame Aktionen mit KollegInnen und Aktiven der Charité und aus dem Bündnis Berlinerinnen und Berliner für mehr Personal im Krankenhaus waren ein stärkendes Element für unsere KollegInnen, welche die Macht von „Zusammenstehen“ auch noch über ihr Haus und ihre Klinik hinweg spüren konnten – nämlich durch die Solidarität der KollegInnen der Charité. Inzwischen stehen einige der TarifberaterInnen der Charité auch für die KollegInnen in Vorbereitung der Tarifauseinandersetzung im Öffentlichen Dienst zur Verfügung. Aber, es bringt auch nichts, wie Getriebene von „Zugpferden“ wie der Charité und Saarland auf etwas aufzuspringen, ohne die entsprechenden Ressourcen und letztlich ohne die KollegInnen mitzunehmen, das heißt für uns, „aufspringen – ja! Aber mit dem Tempo das wir brauchen!“
Eins eurer Ziele ist, dass alle – auch die KollegInnen in den Tochtergesellschaften – den Tarifvertrag Öffentlicher Dienst (TVöD) bekommen. Gerade laufen Verhandlungen bei der Service-GmbH von Vivantes. Was wäre die Wirkung, wenn es hier gelingen würde, den TVöD durchzusetzen?
Zum einen bräuchte es dann keine Tochter Service GmbH mehr, denn diese wurde einzig und alleine zur Einsparung von Kosten gegründet und die KollegInnen aus den Bereichen Patientenbegleitservice, Lager, Logistik, Einkauf, Facilitymanagement, in diese 2014 ausgegliedert.
Wenn wir es schaffen, und ich habe da wirklich Visionen, den TVöD für alle Beschäftigten in der Service GmbH zu erstreiken – am Verhandlungstisch wird uns die Arbeitgeberseite diese Forderung nämlich nicht erfüllen – wäre es das erste Mal in der Tarifauseinandersetzung in unserem Fachbereich, dass durch einen Tarifvertrag, wie ihn die Mutter hat, eine Tochter zurückgeführt wird in den Mutterkonzern. Dann würde das zweite Mal die gesamte Republik nach Berlin schauen, weil Beschäftigte im Krankenhaus aufstehen und für ihre Forderungen kämpfen!