Wien als Beispiel für eine andere Wohnungspolitik – Interview mit Irene Mötzl
Wien ist bekannt für den kommunalen Wohnungsbau. Welche Bedeutung hat dieser?
Wien hat ungefähr 1,8 Millionen EinwohnerInnen. Etwa 500.000 leben im Gemeindebau. Die Gemeindebauten sind über die gesamte Stadt verteilt. Zwar vermehrt in größeren Arbeiterbezirken, aber es entstehen dadurch keine besonders einkommensarmen Stadtteile.
Was ist die Historie des Wiener Gemeindebaus?
Wien wuchs im Zuge der Industrialisierung zwischen 1840 und 1918 von 440.000 auf zwei Millionen EinwohnerInnen an. Die Folge waren extrem hohe Mieten (vierzig bis fünfzig Prozent eines Arbeiterlohns) und extrem schlechte Wohnverhältnisse. Die Wohnfrage war daher von Beginn an ein zentrales Thema der erstarkenden Arbeiterbewegung. In Österreich gab es nach dem Ersten Weltkrieg wie in Deutschland eine Revolution und die Rätebewegung war in Österreich mit Ende des 1. Weltkrieges zu einer ernsthaften Bedrohung der kapitalistischen Verhältnisse geworden. Die Sozialdemokratie, die damals noch eine Arbeitermassenpartei war, nutzte die Angst des Bürgertums, um in Wien weitreichende Reformen umzusetzen.
Von 1923 an wurden innerhalb von zehn Jahren 65.000 neue Gemeindewohnungen errichtet. Wie konnte das erreicht werden?
Zunächst wurde die Beibehaltung des, während des Krieges temporär eingeführten, Mieterschutzes durchgesetzt. Damit konnten MieterInnen kaum gekündigt, und Mieten nicht erhöht werden. Wegen der hohen Inflation nach dem Krieg und zusätzlichen Immobiliensteuern brach der Immobilienmarkt praktisch zusammen. Die Stadt konnte daher sehr günstig Grundstücke kaufen. Eine stadteigene Baufirma, Baustofflieferanten und Transportmöglichkeiten senkten die Errichtungskosten auf ein Minimum. Zur Finanzierung wurden zusätzlich hohe Luxussteuern erhoben – sie brachten circa 35 Prozent aller Steuereinnahmen.
Wie hoch waren die Mieten damals?
Da sie nur die laufenden Kosten decken mussten, mit circa 4 Prozent eines durchschnittlichen Arbeiterlohnes, sehr niedrig.
Gab es in Wien Versuche den Gemeindebau zu privatisieren?
Nein, bisher hat sich das noch niemand getraut.
Heißt das, dass der Gemeindebau in Wien als große erkämpfte Errungenschaften gesehen wird, den sich niemand anzurühren traut?
Das könnte man so sagen – auch wenn das Bewusstsein über die Kämpfe der Arbeiterbewegung etwas verschüttet wurde, werden die Gemeindebauten als unantastbares Kulturgut betrachtet. Das Bedürfnis nach leistbarem Wohnraum tut das Übrige.
Hat die prokapitalistische Poltik der SPÖ und der anderen etablierten Parteien die Verhältnisse im Gemeindebau auf andere Art verschlechtert?
In den 1990er Jahren wurden kaum noch Gemeindebauten errichtet. Danach gab es einen kompletten Baustop. Die Folge sind 30.000 Menschen die auf eine (größere) Wohnung warten und eine Zunahme an überbelegten Wohnungen. Durch zusätzlichen Sozialabbau nimmt der Druck auf lohnabhängige Menschen stark zu und es kommt vermehrt zu Konflikten im Gemeindebau. Zudem sind die Mieten hier in den letzten Jahren extrem gestiegen.
Wie ist die Wohn- und Mietsituation in Wien heutzutage im Vergleich zu anderen europäischen Großstädten?
Die Gemeindebauten wirken sicher dämpfend auf die Mieten in Wien. Trotzdem beträgt die Miete für neu Einziehende im Gemeindebau schon neun bis zehn Euro pro Quadratmeter. Vor zwanzig Jahren war es fast die Hälfte. Das mittlere Nettoeinkommen liegt bei circa 1500 Euro. Ein großes Problem am privaten Wohnungsmarkt sind befristete und überteuerte Mieten. Sie sind hier um durchschnittlich 62 Prozent höher als erlaubt wäre. Das neoliberale Mietrecht arbeitet hier Vermietern zu.
Was ist nötig um den Gemeindebau wieder zu dem zu machen, was er ursprünglich mal war?
Mieten müssen wieder leistbar werden, alte Bauten saniert und mehrere tausend neue Wohnungen gebaut werden. Dafür bräuchte es eine massive Umverteilung aber auch Baufirmen im öffentlichen Eigentum. So etwas kann nur durch eine starke und kämpferische Bewegung von ArbeitnehmerInnen, Jugendlichen und Erwerbslosen durchgesetzt werden. Die gilt es aufzubauen!
Irene Mötzl, Mitglied der Sozialistischen Linkspartei (SLP) aus Wien. Sie arbeitet im Wohnservice Wien und ist dort Betriebsrätin. Das Interview führte Ursel Beck.