Zwei Artikel zur momentanen Situation in der Türkei und in Kurdistan
Im Folgenden veröffentlichen wir zwei Artikel, die sich mit den jüngsten Entwicklungen in der Türkei, dem Bombenanschlag vom 17. Februar in Ankara, dem anhaltenden Krieg gegen das kurdische Volk im Norden Kurdistans und die Herausforderungen befassen, denen sich Rojava gegenübersieht.
Keine Intervention in Syrien!
Für den Aufbau einer vereinten Bewegung der Arbeiterklasse gegen die türkischen Militäroperationen – sowohl im Inland wie auch jenseits der Landesgrenze
Von Murat Karin, „Sosyalist Alternatif“ (Schwesterorganisationder SAV und Sektion des CWI in der Türkei)
Am Abend des 17. Februar hat es in Ankara erneut eine Explosion gegeben. Die Angst vor solchen Attacken ist schon fast zum Bestandteil des täglichen Lebens geworden. Die Explosion fand in einer Gegend statt, in der sich wichtige staatliche Einrichtungen befinden: u.a. das Innenministerium, das Bildungsministerium, der Berufungsgerichtshof, der Sitz des Premierministers, des türkischen Generalstabs und die Militärakademie. Ein Mannschaftswagen der Armee ist in die Luft gesprengt worden, wobei 28 Menschen den Tod fanden und 65 weitere verletzt worden sind, so die offiziellen Angaben. Die Detonation war weithin zu spüren.
Die Liste der „üblichen Verdächtigen“, die das Regime wie sonst auch immer vorgelegt hat, umfasste erneut die Gruppen PKK, ISIS, TAK („Freiheitsfalken Kurdistans“, eine kurdisch-nationalistische Gruppierung, die aus einer Abspaltung der PKK hervorgegangen ist) und die DHKP-C (eine linksextreme Organisation der Stadtguerrilla). Die PKK steht immer an erster Stelle, wenn eine solche Liste vorgelegt wird. Nach der Explosion am 10. Oktober letzten Jahres hatte Premierminister Davutoglu gesagt, dass eine der möglichen Hauptverantwortlichen die PKK sei: „Im Augenblick ist klar, welche Organisationen in der Lage sind, eine derartige Attacke zu fahren: Daesh (ISIS), die PKK, die MLKP (eine weitere Organisation der Stadtguerrilla) und die DHKP-C. Jetzt wird eine intensive Untersuchung zu allen diesen Organisationen durchgeführt“. Auch wenn sie die PKK nicht direkt und ausschließlich verantwortlich machen konnten, haben alle offiziellen Vertreter der Regierungspartei AKP wie auch Präsident Erdoğan selbst die PKK ohne Vorbehalt beschuldigt und die HDP (die jüngst ins Parlament gewählte, linke und pro-kurdische „Demokratische Partei der Völker“) zum Sündenbock für diese Explosion gemacht. Auf dieser Grundlage hatten sie ihren Wahlkampf vorzeitig für beendet erklärt. Davutoglu hatte sogar seiner Freude darüber Ausdruck verliehen, dass die Zustimmung für seine AKP nach dieser Explosion nach oben gegangen ist.
Dabei sind die offiziellen Verlautbarungen, die nach der Explosion vom 17. Februar veröffentlicht worden sind, eklatant von der Liste der sonst üblichen Verdächtigen abgewichen: Lediglich vier Stunden nach der Explosion und noch vor Abschluss der Erste-Hilfe-Maßnahmen hat Präsident Erdoğan mit dem Finger auf eine Macht außerhalb des Landes gezeigt. Er nutzte dies, um auf das „Selbstverteidigungsrecht“ der Türkei hinzuweisen: „Wir werden an unserem Kampf gegen die Marionetten, die diese Angriffe verübt haben, und die Kräfte, die hinter ihnen stehen, festhalten. Mit jedem Tag werden wir entschiedener vorgehen. Unsere Entschlossenheit, mit der wir auf Attacken reagieren, die innerhalb und außerhalb unseres Landes stattfinden und die unsere Einheit, unser Gemeinwesen und unsere Zukunft gefährden, wird durch jeden neuen Anschlag nur noch größer. Dabei muss man wissen, dass die Türkei in keinem Fall zögern wird, um sein Recht auf Selbstverteidigung wahrzunehmen.“
Bei seiner Pressekonferenz, die am Folgetag stattfand, machte der Premierminister dann sehr selbstsicher die YPG („Volksverteidigungseinheiten“; militärische Einheiten, die mit der sogenannten autonomen Region Syrisch-Kurdistan in Verbindung stehen) verantwortlich. Dabei behauptete er, entsprechende Dokumente vorlegen zu können, und er sagte, dass größere Anstrengungen unternommen werden, um den Vergeltungsschlag vorzubereiten:„Der gestrige Anschlag richtete sich gegen die Türkei. Bei den Verantwortlichen handelt es sich um die YPG und die terroristische Organisation PKK. Aus diesem Grund werden unter allen Umständen und wo immer dies nötig ist die erforderlichen Maßnahmen gegen diese beiden Gruppierungen ergriffen. Es hat noch nie einen Angriff gegen die Türkei gegeben, der nicht angemessen beantwortet worden wäre. Die Entscheidung darüber, wie und wo eine solche Reaktion mit der größtmöglichen Effektivität folgen wird, liegt bei uns.“
Der Unterschied zu früheren Erklärungen hoher staatlicher Vertreter anlässlich vergleichbarer Bombenanschläge besteht nicht nur darin, wer nun zum Sündenbock gemacht wird. Die falschen Schuldzuweisungen und die Lesart der AKP waren immer an der öffentlichen Meinung im eigenen Land ausgerichtet. Nach den Anschlägen vom 17. Februar richtete sich das Augenmerk nun auf die öffentliche Meinung der Weltöffentlichkeit. Erdoğan betonte das Recht auf Selbstverteidigung und dass der Urheber dieses Anschlags außerhalb der Türkei zu finden ist. Davutoglu drohte sogar damit, dass die Rolle der Türkei in den internationalen Beziehungen nach der Explosion neu überdacht werden muss:„Diejenigen, die feindliche Organisationen der Türkei direkt oder indirekt unterstützen, laufen Gefahr, damit ihren ‚Freundesstatus‘ zu verlieren.“ Wie schon Präsident Erdoğan bemühte er sich umgehend, „seine Freunde zu überzeugen“ und mit viel Demagogie sein Bestes zu geben, um zu erklären wie grauenvoll doch die Terrororganisation YPG sei:„Für die internationale Gemeinschaft und besonders hinsichtlich unserer Freunde, denen wir immer wieder den Charakter der PYD und der YPG in Nord-Syrien sowie deren enge Verbindung zur PKK erklärt haben, wird dieser Vorfall dazu führen, dass sie die Situation nun besser verstehen. Natürlich haben wir ihnen mitgeteilt, dass wir ihnen sämtliche Informationen und Dokumente zukommen lassen. Wir bleiben allerdings dabei, was wir immer gesagt haben. Wir werden dies weiterhin verbreiten. Diejenigen, die verantwortungsvolle Positionen inne haben, mögen dies zwar nicht billigen. Aber ich glaube, dass alle Völker und alle Nationen unsere rechtschaffenen Anklagepunkte und Dokumente akzeptieren werden. Sie werden andere dazu auffordern, vor der Geschichte Rechenschaft abzulegen.“
Als diese Worte gerade vom Regime in Ankara verbreitet worden waren, folgte das Dementi der YPG auf dem Fuße. In einem Interview sagte Salih Müslim, der Co-Vorsitzende der YPG gegenüber der Nachrichtenagentur REUTERS, dass die YPG niemals in Überfälle in der Türkei verwickelt gewesen ist und dies auch für den letzten Bombenanschlag gelte:„Ich versichere Ihnen, dass keine einzige Kugel von der YPG in die Türkei abgefeuert worden ist. Die YPG betrachtet die Türkei nicht als ihren Feind. In den letzten vier Jahren gehört die Grenze von Rojava zum sichersten Grenzabschnitt zwischen Syrien und der Türkei. Von unserer Seite ist keine Militäroperation durchgeführt worden. Diejenigen, die über diese Tatsache am besten Bescheid wissen, sind die AKP und die türkische Armee selbst. Sie verdrehen absichtlich die Wahrheit und versuchen, uns als die Verantwortlichen für die Explosion in Ankara darzustellen.“
Die letzte Erklärung kam von der TAK, die ihrerseits die Verantwortung für den Bombenanschlag übernommen hat. Für einen Anschlag, für den der türkische Staat „behauptete Dokumente vorlegen zu können“, um damit angeblich „beweisen“ zu können, dass ein YPG-Mitglied namens Salih Necar hinter allem stecke, übernahm nun plötzlich die TAK die Verantwortung. Der Attentäter sei demnach das TAK-Mitglied Abdulbaki Sömer gewesen! Jenseits aller Unterstellungen von der einen oder der anderen Seite ist die DNA von Sömer mit der seines Vaters verglichen und diesem zugeordnet worden. Folglich stand fest, dass die TAK in der Tat die Verantwortung für alles trägt.
Wenn wir all diese Informationen zusammenlegen und in ihrer Gesamtheit berücksichtigen, dann sieht die Sachlage wie folgt aus: Die TAK hat einen Bombenanschlag im Herzen des Staatsapparats in Ankara durchgeführt. Das Motiv lautet Rache und Vergeltung für den Krieg, den der Staat seit Monaten in den kurdischen Gebieten der Türkei, in Nord-Kurdistan, führt. „Sosyalist Alternatif“ und das CWI sind der Ansicht, dass diese Methoden absolut keinen produktiven Beitrag zum gerechtfertigten Kampf des kurdischen Volkes um Befreiung oder überhaupt zum Klassenkampf leisten. Im Gegenteil trägt dieser Anschlag dazu bei, diesen beiden Kämpfen entgegenzuwirken. Er heizt den Chauvinismus an und bildet die Basis für künftigen staatlichen Druck auf die Reste der demokratischen Rechte, die wir noch haben. Das ist Wasser auf die Mühlen der Staatspolitik der Türkei – nicht nur im Inland sondern auch jenseits der türkischen Grenzen. Solche Anschläge unterhöhlen Bemühungen zur solidarischen Unterstützung der Forderungen der KurdInnen und wirken sich beim Versuch, die Unterstützung der Massen zu bekommen, nachteilig aus, obwohl dies so wichtig wäre, um die Forderungen durchsetzen zu können.
Diese Art von Anschlägen wünschen sich die türkischen Offiziellen geradezu herbei, weil sie als Rechtfertigung für ein militärisches Eingreifen gegen Rojava dienen können. Die TAK hat diese Möglichkeit nun wie auf dem Silbertablett geliefert, mit der ein Eingreifen gerechtfertigt werden kann. Es ist fast, als sei ein Traum, den die AKP-Regierung seit Jahren träumt, in Erfüllung gegangen.
Die Eroberungen der YPG entlang der türkischen Grenze verbunden mit den russischen Bombardements der letzten Monate in Nord-Syrien haben dazu beigetragen, dass die von der Türkei unterstützten bewaffneten sunnitischen Gruppen auf dem Rückzug sind. Es droht sogar die Unterbrechung der Nachschubwege zu diesen Gruppierungen. Dasselbe gilt folglich für die Einflussmöglichkeiten der Türkei auf das Machtspiel in Syrien. Eine Militärintervention würde der AKP die Möglichkeit geben, sowohl dem Erstarken der YPG ein Ende zu bereiten als auch die eigene Position innerhalb der türkischen Landesgrenzen zu stärken, indem damit der gegen die KurdInnen gerichtete Chauvinismus weiter angeheizt wird. Dies könnte unter dem Deckmantel des Kampfes gegen den IS vor sich gehen. Man würde somit versuchen, dem Image der Türkei als Kollaborateur dschihadistischer Gruppen entgegenzuwirken.
Die AKP hat bereits einen umfassenden Propagandafeldzug begonnen, um den Weg für eine solche angestrebte Intervention in Syrien zu ebnen. Das türkische Militär hat damit begonnen, Stellungen der YPG zu beschießen. Eine Bodenoffensive oder ein Eingreifen der türkischen Luftwaffe auf dem Schlachtfeld Syrien könnte sehr schnell außer Kontrolle geraten und würde wahrscheinlich Wutausbrüche der kurdischen Gemeinden innerhalb der Türkei zur Folge haben. Die überwältigende Mehrheit der arbeitenden Menschen in der Türkei hat weder ein Interesse an einem derartigen militärischen Abenteuer noch an den Folgen, die es nach sich ziehen würde. Eine Folge wäre, dass die Lage wesentlich unsicherer werden würde. Auch würde es zu Kürzungen bei den Sozialausgaben kommen, um darüber die kriegerischen Operationen im Ausland zu finanzieren. Deshalb ist es entscheidend, dass eine vereinte Bewegung aufgebaut wird, die Widerstand gegen die Operationen der türkischen Armee leistet – sowohl diesseits als auch jenseits der türkischen Landesgrenzen. Diese Bewegung muss mit einer Agenda des Kampfes für bessere Lebensbedingungen sowie gegen staatliche Beschränkungen der demokratischen Rechte verbunden werden.
Das Blutvergießen geht im Nahen Osten unvermindert weiter. Abgesehen von den Folgen, die dies für die internationalen Beziehungen haben würde, wird ein mögliches Eingreifen der Türkei in Syrien nur zu noch mehr Blutvergießen führen. Was der Nahe Osten braucht, ist nicht eine zusätzliche imperialistische Intervention oder eine weitere ethnische bzw. sektiererische Polarisierung sondern den Kampf für eine sozialistische Föderation des Nahen Ostens, die auf der gegenseitigen und freiwilligen Zusammenarbeit und Organisation der Völker des Nahen Ostens und der Arbeiterklasse basiert. Der Weg, der zu einer solchen Föderation führt, wird geebnet, wenn Widerstand gegen imperialistische Politik geleistet wird – egal, um welches Land es auch gehen mag
Stoppt den Krieg gegen die KurdInnen!
Von Paula Mitchell, Mitglied im Bundesvorstand der „Socialist Party“ (Schwesterorganisation der SAV und Sektion des CWI in England & Wales)
Am kurdischen Volk im Südosten der Türkei wird derzeit ein Verbrechen verübt. Seit dem Sommer 2015 hat die türkische Regierung in sieben Provinzen Ausgangssperren verhängt, deren Umsetzung mit Panzern und schwerer Artillerie erzwungen wird. Es sind hunderte Todesopfer zu beklagen, ebenso viele Menschen sind verhaftet worden, und in der Stadt Cizre wurde ein Blutbad angerichtet.
Wohnhäuser sind zum Ziel von Angriffen geworden, und zehntausende Menschen sind vertrieben worden. Auf ZivilistInnen, die sich Lebensmittel besorgen wollten, ist geschossen worden. In den Kellern sterben Menschen, weil den Krankenwagen die Durchfahrt verweigert wird.
Büros der HDP („Demokratische Partei der Völker“; eine linke und pro-kurdische Partei) sind verwüstet, angezündet und ausgebombt worden. Fast alle BürgermeisterInnen von Ortschaften mit mehrheitlich kurdischer Bevölkeurng sind festgenommen worden. Teile der Infrastruktur (wie etwa die Bildungseinrichtungen oder die Gesundheitsversorgung) funktionieren nicht mehr.
„Sosyalist Alternatif“, die Schwesterorganisation der „Socialist Party“ in der Türkei, beschreibt es wie folgt: „Präsident Erdogan und seine Regierung haben den Annäherungsprozess, an dessen Ende ein ‚Friedensabkommen‘ hätte stehen können, beendet und einen Krieg begonnen“.
Dieser Angriff findet zeitgleich zu schwerwiegenden terroristischen Bombenanschlägen statt. Im Juni ist in Diyarbakir ein Bombenanschlag auf eine Kundgebung der HDP verübt worden. Im Juli sind in Suruç 33 junge Menschen niedergemetzelt worden. Im Oktober haben mindestens 128 Personen in Ankara den Tod gefunden, als auf einer Friedenskundgebung von Gewerkschaften und der HDP zwei Bomben explodiert sind.
Was die Aufklärung dieser Anschläge und Übergriffe angeht, hat der türkische Staat versagt. In Ankara hat die Polizei Krankenwagen blockiert und die Menschenmenge gleichzeitig mit Tränengas beschossen.
Diesen Februar ist ein Militärkonvoi in die Luft gesprengt worden, wobei mindestens 28 Menschen umgekommen sind. Die Regierung macht die kurdischen Organisationen PKK und YPG dafür verantwortlich, die beide bestreiten, etwas damit zu tun zu haben. Letztlich hat sich die TAK, eine kurdisch-nationalistische Gruppe, zu dem Anschlag bekannt und damit die türkische Regierung der Lüge überführt. Letztere hatte behauptet, „Beweise“ gegen die PKK und die YPG vorlegen zu können. Dessen ungeachtet hat das türkische Militär damit begonnen, kurdische Ziele im Irak und in Syrien zu bombardieren. Der Anschlag von Ankara dient dabei als Rechtfertigung.
Weshalb geschieht all dies?
Bei den KurdInnen handelt es sich um ein Volk ohne Staat. Seit dem Sykes-Picot-Abkommen vom 16. Mai 1916, das zwischen den imperialistischen Mächten zur Aufteilung der Region geschlossen wurde, leben sie im Irak, dem Iran, in Syrien und der Türkei.
Die KurdInnen sind überall unterdrückt worden. Aber aufgrund der Instabilität, die seit 2003 durch den Irak-Krieg hervorgerufen wurde, haben sie im Irak und in Syrien autonome Gebiete aufbauen können. Das Gespenst, das das türkische Regime jetzt zu erkennen meint, besteht in der anhaltenden Krise in Syrien, die das Sykes-Picot-Abkommen zunichte machen und den KurdInnen somit die Möglichkeit verschaffen könnte, weiter an Boden gutzumachen. Das wiederum könnte Folgen für die Türkei nach sich ziehen.
Bei den Parlamentswahlen vom 7. Juni dieses Jahres hat Präsident Erdogans „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“, die AKP, ihre bisherige Mehrheit verloren und die erst vor kurzem gegründete HDP schaffte mit 13 Prozent einen beispiellosen Durchbruch. Für den 1. November wurden dann Neuwahlen anberaumt, auf die sich Erdogan vorbereitet hat, indem er den KurdInnen den Krieg erklärte. Ein gegen die KurdInnen gerichteter Nationalismus wurde angeheizt.
Die AKP ging aus diesen zweiten Wahlen gestärkt hervor und war somit in der Lage, die Regierung zu bilden. Die HDP schaffte es aber erneut, über die Zehn-Prozent-Hürde zu kommen und ins Parlament einzuziehen. Die Gewalt und Einschüchterung, mit der die kurdischen Provinzen zu kämpfen haben, halten unvermindert an.
Erdogan setzt die PKK mit dem IS gleich. Es gibt zwar nichts, was zwischen diesen beiden Kräften vergleichbar wäre. Dennoch ist die „Socialist Party“ der Ansicht, dass individuelle bewaffnete Aktionen kontraproduktiv sind und nur vom Staat genutzt werden, um einen riesigen Keil zwischen TürkInnen und KurdInnen zu treiben.
Es besteht die Gefahr eines Bürgerkriegs – eine Gefahr, mit der Erdogan spielt und die er bereit ist einzugehen, um seine eigene Position zu wahren und die nationalen Bestrebungen der KurdInnen zu vereiteln.
Ein Alptraum für die Westmächte
Die Türkei hat eine Schlüssel-Position zwischen Europa und dem Nahen Osten inne, die für die europäischen Mächte extrem hohe Bedeutung hat. Schließlich kämpfen letztere sowohl mit der syrischen als auch der Flüchtlingskrise.
EU-Staaten haben mit Erdogans Regime Abkommen geschlossen, die auch finanzielle Anreize umfassen. Umgekehrt soll die Türkei Flüchtlinge daran hindern, nach Europa zu gelangen. Darüber hinaus haben die türkische und die US-Administration eine Vereinbarung getroffen, um gemeinsame Operationen gegen den IS durchzuführen. Das erlaubt es den USA, Luftschläge von der NATO-Airbase in Incirlik aus zu fliegen. Vor kurzem hat der türkische Premierminister Großbritannien besucht und sich mit Premier Cameron getroffen, um über eine „Lösung“ hinsichtlich der terroristischen Aktivitäten in Syrien zu sprechen.
Im Juli haben türkische Flugzeuge zum ersten Mal IS-Basen in Syrien bombardiert. Dabei wird auf die Rechtfertigung des Westens zurückgegriffen und vom „Krieg gegen den Terror“ gesprochen. Diese Angriffe werden genutzt, um kurdische Gebiete zu bombardieren.
Es geht hierbei um dieselben kurdischen Kräfte, die mit einigem Erfolg am Boden gegen den IS kämpfen! Letztes Jahr hat der tapfere Verteidigungskampf von Kobanê, den die YPG („Volksverteidigungskräfte“), die bewaffneten Einheiten der PYD („Partei der Demokratischen Union“), geführt haben, den IS zurückgedrängt – auch wenn dies nicht ohne die beinahe vollständige Zerstörung Kobanês aufgrund von US-amerikanischen Bombenangriffen vonstatten gegangen ist.
Die PYD steht mit der PKK, der „Arbeiterpartei Kurdistans“, in Verbindung, bei der es sich wiederum um eine Guerrilla-Organisation mit Massenunterstützung in den kurdischen Gebieten der Türkei handelt. Ihr Ansehen hat im Vergleich zum korrupten und kapitalistischen Regime von Barzani in der autonomen kurdischen Region des Nord-Irak zugenommen. Es war die PKK, die in irakisch-kurdische Gebiete einmarschiert ist, als die Gemeinschaft der Jesiden angegriffen worden ist. Sie hat in großen Teilen zum Rückzug des IS beigetragen.
Jetzt, da russische Luftschläge auf Aleppo und Gruppierungen niedergehen, die gegen Syriens Präsidenten Assad kämpfen, ist die YPG in weitere Gebiete vorgerückt. Russische Luftschläge hatten nicht nur terroristische Gruppierungen zum Ziel sondern (genau wie im Falle der von den Westmächten durchgeführten Luftschläge) auch zivile Opfer hervorgerufen, die Infrastruktur zerstört und zu massenhafter Flucht geführt.
Will die YPG sicherstellen, dass sie in diesen Gebieten weiterhin breite Unterstützung aus der Bevölkerung bekommt, so ist von zentraler Bedeutung, dass sie sich von solchen Methoden distanziert. Russland und Assad sind nur am Wiederaufbau einer brutalen Diktatur interessiert. Wesentlich ist nun ein Aufruf an die Volksmassen – seien sie TurkmenInnen, AraberInnen oder KurdInnen -, sich vereint zu organisieren.
Dem türkischen Staat wäre ein Sieg des IS lieber als ein Erfolg für die KurdInnen. Erdogan hat Truppen und Tränengas gegen die KurdInnen und TürkInnen auffahren lassen, die an der Grenze zusammengekommen waren, weil sie sich am Kampf gegen den IS in Syrien beteiligen wollten. Gleichzeitig wurde einer großen Zahl an Dschihadisten, die dem IS gegenüber freundlich eingestellt sind, der Grenzübertritt gestattet.
Die Türkei und die kurdische Frage sind nun Bestandteil des Kampfes zwischen den USA und Russland in Syrien. Im November kam es zu Spannungen mit Putins Regime in Russland, als die Türkei ein Flugzeug der russischen Luftwaffe abschoss.
Die Vertreter Russlands beschuldigen die Türkei, für das Scheitern der Genfer Friedensgespräche zu Syrien mitverantwortlich zu sein, weil Erdogan gegen die Teilnahme der PYD sein Veto eingelegt hatte. Unterdessen hat die PYD auf Putins persönliche Einladung ein Büro in Moskau eröffnet.
Einheit der Arbeiterklasse
Die Reichen, Großkonzerne und Grundbesitzer sowie ihre politischen Vertreter in der Türkei fürchten sich am meisten davor, dass die kurdischen und die türkischen ArbeiterInnen zusammengehen und eine gemeinsame Bewegung bilden, die das gesamte Regime in der Türkei herauszufordern in der Lage wäre.
Die „Socialist Party“ unterstützt das Recht der Gemeinschaften – in der Türkei wie auch in Syrien -, sich selbst zu verteidigen. Wir schlagen die Bildung demokratischer, nicht-sektiererischer, multi-ethnischer Verteidigungsausschüsse vor, die der Bevölkerung eine aktive Rolle übertragen.
Wir unterstützen das Selbstbestimmungsrecht des kurdischen Volkes, wozu auch die vollen demokratischen Autonomie-Rechte innerhalb des Staates zählen, in dem sie leben. Je nach Willensbildung ist auch die Errichtung eines unabhängigen Staates oder eines gemeinsamen Staates aller KurdInnen in Betracht zu ziehen.
Doch die größte Herausforderung, die sich dem kurdischen Volk stellt, besteht darin, einen Aufruf an die Menschen aus der Arbeiterklasse in der Türkei auszusenden. Das ist von grundlegender Bedeutung, will man die Gefahr eines Bürgerkriegs abwenden. Viele KurdInnen leben zur Zeit außerhalb der traditionellen kurdischen Gebiete und könnten gemeinsame Aktionen lostreten.
In einer derart schrecklichen Situation, wie der, in der wir uns momentan befinden, scheint dieser Ansatz fernzuliegen. Aber ein solcher Aufruf könnte in Verbindung mit einem Programm zur Verteidigung demokratischer Grundrechte, für Arbeitsplätze und Wohnraum, für die Überführung der enormen Ressourcen der Region in öffentliches Eigentum und unter demokratischer Kontrolle im Sinne der Bedürfnisse aller helfen, Angst und Hass zu überwinden.
ArbeiterInnen und verarmte Schichten in der Türkei haben keinen Vorteil, wenn die KurdInnen weiterhin unterdrückt werden. Das stärkt nur die Regierung und die Position der Arbeitgeber, von denen auch sie ausgebeutet und unterdrückt werden. Im schlimmsten Fall würde ein Abstieg in den Bürgerkrieg nur noch mehr Todesopfer und Zerstörung mit sich bringen.
Türkische ArbeiterInnen und junge Leute haben gezeigt, dass sie bereit sind zu kämpfen. Vor drei Jahren ist einer Massenbewegung entstanden, weil man gegen den Eingriff in die Natur des Gezi Parks war. 2014 haben Bergleute nach einem Grubenunglück gegen ihre Chefs gestreikt, und 2015 sind auch Beschäftigte in der Autoindustrie in den Ausstand getreten. Äußerst wichtig ist, dass es im Oktober 2015 zu Massendemonstrationen und einem zweitägigen Generalstreik als Antwort auf den Bombenanschlag von Ankara gekommen ist.
Die HDP sollte zusammen mit den Gewerkschaften und SozialistInnen zu Massenprotesten und Streiks gegen den Krieg gegen die KurdInnen, rassistische Übergriffe, Polizeigewalt und Terrorismus aufrufen.
Es ist ein Schritt in die richtige Richtung, wenn die kurdischen Organisationen in Großbritannien die Menschen hier zu einer landesweiten Demonstration aufrufen. Die hiesigen SozialistInnen und Arbeiterorganisationen müssen Bewegungen gegen imperialistische Interventionen aufbauen und demokratische Rechte sowie angemessene Bedingungen für Flüchtlinge einfordern.
Die verschiedenen imperialistischen bzw. Regionalmächte (darunter auch die USA und Russland) haben kein Interesse daran, dass es dem kurdischen Volk gut geht. Sie interessieren sich ausschließlich für die eigene Macht und werden die KurdInnen fallen lassen, sobald sie keinen Nutzen mehr in einer weiteren Zusammenarbeit sehen (wie schon im Jahr 1991, als US-Präsident George Bush einen kurdischen Aufstand gegen Saddam Hussein im Irak anfeuerte, nur um sie am Ende im Stich und zum Opfer eines Massakers werden zu lassen).
Es kann jedoch eine Bewegung aufgebaut werden, die den Schulterschluss zu den ArbeiterInnen und verarmten Schichten in der gesamten Region sucht, wenn man sich entschlossen gegen sämtliche imperialistische Mächte und reaktionäre Regimes stellt sowie auf dem Selbstbestimmungsrecht der Völker beharrt. Mit einem sozialistischen Programm wären die Völker in der Türkei, Syrien, dem Irak und der gesamten Region in der Lage, den IS, die korrupten Regionalmächte und die imperialistischen Mächte in der Region zurückzudrängen.
Eine freiwillige sozialistische Föderation des Nahen Ostens würde die Menschen dort in die Lage versetzen, frei und demokratisch über das eigene Schicksal entscheiden zu können.