Fünf Jahre nach dem Sturz Ben Alis sind die Forderungen der Revolution noch immer nicht erfüllt
von Al-Badil al-Ishtiraki, Schwesterorganisation der SAV in Tunesien
Diejenigen, die den Geist des tunesischen revolutionären Aufstands von 2010-2011, der damals ganz Nordafrika und den Nahen Osten erschütterte, für tot erklären wurden wieder einmal widerlegt. In den letzten Tagen wurde Tunesien von einer neuen Welle der „Intifada“ der verarmten Jugend erfasst, die von ihrem von Elend und Massenarbeitslosigkeit geprägten Leben genug hat. Ihr Protest nimmt zunehmend den Charakter eines landesweiten Aufstands an.
Die Proteste wurden durch ein Ereignis ausgelöst, das dem Beginn des „arabischen Frühlings“ vor fünf Jahren frappierend ähnelt: Ein junger Arbeitsloser, Ridha Yahyaoui, beging am letzten Sonntag (17.1., AdÜ) Suizid, indem er auf einen Strommast kletterte nachdem seine Bewerbung bei der Stadtverwaltung in Kasserine abgelehnt worden war. Kasserine ist bekannt für enorme Armut und die höchste Arbeitslosigkeit in ganz Tunesien.
Obwohl über den Suizid Ridhas in den Medien intensiv berichtet wurde, ist er kein besonderer Einzelfall: hunderte von arbeitslosen und verzweifelten TunesierInnen haben seit dem Sturz des Präsidenten Ben Ali im Januar 2011 das gleiche Schicksal erlitten.
An dem Tag im Oktober 2015, an dem der tunesischen Regierung der Friedensnobelpreis verliehen wurde verbrannte sich in der Industriestadt Sfax im Südosten Tunesiens ein Mann in aller Öffentlichkeit selbst. Dadurch wurde der Kontrast zwischen der von westlichen Medien gefeierten tunesischen „Erfolgsstory“ und dem Alltag der meisten TunesierInnen eindrücklich gezeigt.
Diese Woche Mittwoch hat in Sfax wieder jemand Suizid durch Selbstverbrennung begangen, nachdem die Waren, die er verkaufen wollte von der Polizei beschlagnahmt wurden – ein weiteres Echo der Selbstverbrennung des Straßenhändlers Mohamed Bouazizi in Sidi Bouzid im Dezember 2010, die die ersten Proteste gegen Ben Alis Diktatur auslöste.
Der Mangel an Arbeitsplätzen ist noch schlimmer geworden als unter dem alten Regime. Laut einem aktuellen Bericht der OECD sind 62% der tunesischen HochschulabsolventInnen arbeitslos. Viele werden aus Verzweiflung in die illegale Schattenwirtschaft gezwungen. Für HändlerInnen ohne Lizenz, die versuchen genug Geld für Nahrung zu verdienen, ist das Leben von täglichen Polizeirazzien und der Angst vor Verhaftung oder Beschlagnahmung der Ware geprägt.
Nichts hat sich geändert
Die Meinung, seit der Revolution habe sich nichts verändert ist in Tunesien weit verbreitet, besonders in den marginalisierten Binnenlandgebieten wie Kasserine. Dort ist der Mangel an Infrastruktur und Investitionen extrem, während die Arbeitslosen- und Analphabetenzahlen doppelt so hoch sind wie an der Küste. Die Menschen haben genug von gebrochenen Versprechen, politischer Vernachlässigung und wachsender Armut.
Die Wut wird dadurch verstärkt, dass in Kasserine während der Revolution vor fünf Jahren sehr viele EinwohnerInnen von der Polizei getötet wurden und es bis heute keinerlei Entschädigung für die Hinterbliebenen gibt. Zudem liegt Kasserine in der Nähe des Chambi-Gebirges, das Dschihadisten als Basis dient, die regelmäßig SoldatInnen und die Zivilbevölkerung angreifen.
Das Fass läuft über
Als die ersten Jugendlichen am Sonntag nach Yayahouis Tod auf die Straße gingen, um Arbeit und Entwicklung zu fordern tat das Regime das, was es in solchen Situationen immer tut und setzte auf staatliche Repression. Im ganzen Jahr 2015 hat die Regierung auf die wirtschaftlichen Probleme der Armen und ArbeiterInnen immer nur mit Repression reagiert. Der Kampf gegen den Terrorismus wird als billige Ausrede für willkürliche Gewalt gegen soziale Bewegungen genutzt.
Daher wurde in Kasserine sofort die Polizei losgeschickt, um die Flammen in den Stadtvierteln zu ersticken. Gleichzeitig setzte die Regierung den für die Stadt zuständigen Verwaltungschef ab, in der vergeblichen Hoffnung, damit die Situation zu beruhigen. Am Dienstag bestätigte das Regionalkrankenhaus in Kasserine, dass 246 Menschen bei Polizeieinsätzen gegen Jugendliche durch Tränengas verletzt wurden.
Die Repression bewirkte das Gegenteil von dem, was die Behörden gehofft hatten. Die Protestierenden wurden noch wütender und eine Welle der Unterstützung für ihre Forderungen in anderen Teilen des Landes wurde ausgelöst. Überall haben die TunesierInnen genug von rasant wachsender Arbeitslosigkeit, hohen Lebenshaltungskosten, einem von sozialer Unsicherheit geprägten Alltag und einer immer aggresiver auftretenden Polizei, die sich stetig ihrer Praxis unter dem alten Regime Ben Alis annähert.
Eine am Dienstag eingeführte Ausgangssperre (die mittlerweile auf ganz Tunesien ausgeweitet wurde) um „Eskalation zu vermeiden“ wurde von DemonstrantInnen nicht beachtet, sie blieben die ganze Nacht auf der Straße. Statt Eskalation zu vermeiden hat die Regierung sie ausgelöst. Zunächst hatten sich Jugendliche in anderen Städten im Gouvernement Kasserine den Protesten angeschlossen, ab Mittwoch begannen Demonstrationen auch in anderen Teilen des Landes, zu denen die UDC (Verband der Arbeitslosen AkademikerInnen) und der Studentenverband UGET aufgerufen haben. Tunis, Siliana, Tahala, Feriana, Sousse, Sbeïtla, Meknessi, Menzel Bouzayene, Sidi Bouzid, Kairouan, Gafsa und Redeyef wurden von Straßenprotesten erschüttert.
Das zeugt von einer weit verbreiteten und tief verankerten Wut: „Jobs oder eine neue Revolution“ fordern Jugendliche aus Sidi Bouzid in Sprechchören. Sprechchöre und Forderungen, die an die Revolution erinnern wie „Arbeit, Freiheit, Würde“ sind wieder zu hören. Ein Aktivist aus Kasserine berichtete am Mittwoch: „Die Ereignisse in Kasserine heute waren wichtiger als die letzten Tage. Es waren doppelt so viele Menschen auf der Straße wie gestern. Es hat uns an die großen Ereignisse von 2011 erinnert. Es geht jetzt um mehr als nur Arbeitslosigkeit.“
Schwache Regierung
Verschiedene Faktoren haben zur Entstehung der aktuellen Situation beigetragen. Einer davon ist zweifellos der Eindruck, dass die Regierung hinter ihrer Fassade der Stärke und der brutalen Polizeirepression zunehmend schwach und gespalten ist. Die regierende Partei, Nidaa Tounes, ein neues Instrument von vielen Profiteuren des alten Regimes und korrupten Geschäftsleuten, hat sich Anfang des Jahres gespalten und musste danach die Regierung umbilden. Sie hat jetzt weniger Parlamentssitze als ihr größter Koalitionspartner, die rechte islamistische Partei Ennahda.
Wie alle Regierungen nach Ben Ali hat die Regierung von Habib Essid nicht nur die Forderungen der Revolution nicht erfüllt, sie hat auch bewusst weiterhin die alten neoliberalen ökonomischen Rezepte angewendet, die Millionen von Familien aus der Arbeiter- und Mittelklasse in ganz Tunesien ins Elend gestürzt haben. Das Versprechen des Präsidenten Essebsi, der unter starkem Druck am Mittwoch angekündigt hat 6000 Arbeitslose aus Kasserine einzustellen, wird daran nichts grundlegend ändern.
Während die Mehrheit unter Austerität und Kürzungen bei Subventionen leidet, entspricht das Vermögen von 70 tunesischen Milliardären zusammengerechnet dem 37-fachen des Staatshaushalts! Die Enteignung dieser Vermögen und die Verstaatlichung der wichtigsten Betriebe und Banken würde dem Staat zweifellos riesige Finanzmittel zur Verfügung stellen, um massiv in Infrastruktur, den öffentlichen Dienst und Sozialleistungen zu investieren. Ein so finanziertes großes öffentliches Aufbauprogramm könnte für hunderttausende Arbeitslose gesellschaftlich nützliche Jobs schaffen und die Ungleichheit zwischen den Regionen überwinden. Aber eine solche Maßnahme würde eine dramatische Änderung der politischen Prioritäten voraussetzen und könnte nur von einer Regierung durchgesetzt werden, die bereit ist sich gegen die Interessen der Großkonzerne zu stellen, eine Regierung aus VertreterInnen der Arbeiterklasse und der Armen, die für die Erfüllung der Forderungen der Revolution kämpfen würde, so wie die jetzige Regierung für den Erhalt der Herrschaft der kapitalistischen Elite und die Umsetzung der Diktate imperialistischer Mächte und ihrer Finanzinstitutionen kämpft.
Arbeiterklasse
Die gesellschaftliche Wut ist weit verbreitet. In dieser Situation braucht es einen verallgemeinerten Kampf der Massen, an dem sich breite Schichten der tunesischen Bevölkerung beteiligen, wie 2010/11. Aber eine wichtige Lehre aus der Entwicklung unserer Revolution lautet folgendermaßen: Das Schicksal Ben Alis war in dem Moment besiegelt, als der Gewerkschaftsbund UGTT sich entschieden auf die Seite der Bewegung stellte und in mehreren Regionen zu Massenstreiks aufrief.
Vor kurzem wurden die Bosse durch die Drohung mit einem weiteren Generalstreik gezwungen, die Löhne in der Privatwirtschaft um 6% zu erhöhen. Das zeigt, wovor die Kapitalisten und ihre Regierung am meisten Angst haben: davor, dass die Arbeiterklasse sie an der Quelle ihrer Profite trifft, indem sie die Arbeit niederlegt und Fabriken, Minen, das Transportwesen, Schulen, die Verwaltung und die Landwirtschaft lahmlegt.
Damit die Jugendlichen und Arbeitslosen in der aktuellen Bewegung nicht ihrem Schicksal überlassen werden, sollten ArbeiterInnen die sofortige Erstellung eines mutigen Plans für Streikaktionen verlangen. Solidaritätsdemonstrationen sind ein wichtiger Anfang, aber die Beteiligung der Arbeiterbewegung könnte das Kräftegleichgewicht radikal zugunsten der Menschen auf den Straßen verändern. Zum Beispiel könnte ein Generalstreik im Gouvernement Kasserine der Auftakt für eine Serie von Generalstreiks in verschiedenen Regionen sein, die mit einem landesweiten 24-stündigen Generalstreik endet. So einen Aktionsplan sollte die Führung der UGTT vorschlagen, anstatt sich mit Gesten und „Warnungen“ an die Regierung über den Ernst der Lage und symbolischen Aufrufen zu einem „nationalen Dialog“ zu begnügen.
Wenn kein Plan entwickelt wird, könnten einige Jugendliche aufgrund fehelnder Perspektiven in die Sackgasse von Krawallen und Gewalt geraten, um ihre legitime Wut abzureagieren. In den letzten Tagen wurden einige Polizeiwachen, Büros der regierenden Partei und andere Gebäude, die die Staatsmacht repräsentieren niedergebrannt oder angegriffen. Im Ort Feriana starb ein Polizist, nachdem sein Auto umgeworfen wurde. Lokale Verteidigungskomitees könnten gebildet werden, um Demonstrationen zu schützen, mögliche Provokateure fernzuhalten und sicherzustellen, dass soweit wie möglich auf disziplinierte Massenaktionen gesetzt wird. Allgemein wird es nützlich sein in Stadtteilen, Schulen, Universitäten und Betrieben Aktionskomitees zu bilden, um der Bewegung eine Struktur zu geben und ein Abflauen zu verhindern.,
Die neue Generation, die an der Seite ihrer älteren Brüder und Schwestern in den Kampf eintritt, muss die Lehren aus dem revolutionären Kampf 2010-11 ziehen und die besten Traditionen übernehmen, um die gleichen grundlegenden Ziele zu erreichen: das Recht auf Freiheit, Arbeit und ein Leben in Würde.