Alptraumszenario der EU setzt sich fort
von Per-Ãke Westerlund, Rattvisepartiet Socialisterna (CWI Schweden)
Die Entscheidung der schwedischen Regierung, auf der Öresundbrücke [Schwedens Verbindung mit Dänemark, AdÜ] Personenkontrollen einzuführen, zeigt die Krise der EU und die steigenden Spannungen zwischen den beiden nordeuropäischen Ländern. Es handelt sich nicht nur um ein innerskandinavisches Drama, sondern auch um einen weiteren Baustein im Prozess des buchstäblichen Wiederaufbaus der Schlagbäume zwischen verschiedenen EU-Staaten.
Schwedens größte Zeitung, das sozialdemokratische „Aftonbladet“, kommentierte im Dezember, dass „die Flüchtlingskrise die riesigen Widersprüche offen gelegt hat“, die im Innern der EU existieren, und fasste dann zusammen: „Europa war noch nie so bedroht.“
Die neuen schwedischen Flüchtlingsgesetze sollen so viele wie möglich vom Erreichen des Landes abhalten. An der Autobahn nach Malmö in Schweden gibt es, noch auf dänischem Gebiet, die Kontrollstation Kastrup in Kopenhagen. Dort kontrollieren 150 Wachtleute der Firma Securitas die Identität jedes einzelnen Individuums und fotografieren jeden Ausweis. Wer keinen Ausweis oder Pass hat, wird abgewiesen. Im letzten Jahr hatten achtzig Prozent der Geflüchteten, die nach Schweden kamen, keinen Identitätsnachweis. Von 25.000 Kindern aus Afghanistan hatten nur 18 einen. Schweden verhandelt derzeit mit der afghanischen Regierung über Abschiebungen.
Jahrzehnteland war die Öresundbrücke einer der offensten Grenzübergänge der Welt. Täglich pendeln 15.000 Personen zwischen Kopenhagen und Malmö, um zur Arbeit und wieder nach Hause zu kommen. Seit Einführung der Personenkontrollen hat sich die Reisezeit um bis zu eine Stunde verlängert.
Viele Jahre lang nahm Schweden die meisten Geflüchteten pro Einwohnerzahl auf, während Dänemark die mit am strengsten gestalteten Regelungen hatte. Inzwischen haben sich ihre Rollen umgekehrt! Die rechte dänische Regierung beschuldigt die schwedische sozialdemokratisch-grüne Regierung, das Recht auf Asyl abzuschaffen – hat aber unverzüglich ähnliche Kontrollen an der Grenze zu Deutschland eingeführt.
Beide Seiten verteidigen ihre Entscheidungen, indem sie vom „Staatsnotstand“ sprechen und Notstandsgesetze sowie „Recht und Ordnung“ zitieren, um ihre drastischen Maßnahmen zu rechtfertigen. Die schwedische Regierung zog sogar in Betracht, die Brücke kurzfristig „aufgrund des Notstandes“ zu schließen.
In Schweden wurde die Einführung der neuen Regelungen durch eine Propagandakampagne vorbereitet, die von den rassistischen „Schwedendemokraten“ begonnen und von den Konservativen und Sozialdemokraten fortgesetzt wurde. Sie behaupteten, Schweden stehe „kurz vor dem Systemkollaps“, ohne Details zu nennen: Welches System und an welcher Stelle? Die ArbeiterInnen und Freiwilligen, die beim Empfang und bei der Versorgung der Geflüchteten mitmachten, gaben trotz großem Drucks und Anspannung keine solchen Kommentare ab.
Währenddessen verzeichnen übrigens Banken und Unternehmen Rekordprofite, und der Regierung zufolge haben sich sogar die Staatsfinanzen stark verbessert. Trotzdem werden keine Maßnahmen ergriffen, um die notwendigen Behausungen zu bauen und die notwendigen Mittel für Schulen, das Gesundheitswesen etc. bereitzustellen. Im Gegenteil – die schwedische Regierung droht mit noch mehr Kürzungen und schließt Vereinbarungen mit den etablierten Parteien auf dem rechten Flügel des Parteienspektrums.
Die Krise der Europäischen Union
Die Flüchtlingskrise hat sich zur drängendsten Krise der EU entwickelt. Gipfel um Gipfel endet mit scharfen Spannungen oder Abkommen, die nie umgesetzt werden.
Die EU „muss den Zustrom von Migranten eindämmen oder riskieren, das Schicksal des römischen Reiches zu teilen!“ Diese gräßliche Warnung des niederländischen Premierministers Mark Rutte illustriert die Einstellung einiger führender Politiker. Am 1.1.2016 haben die Niderlande turnusgemäß den EU-Vorsitz übernommen.
Eine Million nach Europa gelangter Geflüchteter hat den Zusammenhalt zwischen den Anführern dieser „großartigen demokratischen Gemeinschaft“ stark beschädigt – dabei hat die EU 508 Millionen EinwohnerInnen. Das Schengener Abkommen, vor 20 Jahren zur Schaffung eines grenzfreien Europas eingeführt, wird immer mehr eingeschränkt. Es ist „einer der Grundpfeiler Europas“, sagte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker Ende November, und „wenn es scheitert, gibt es keine einheitliche Währung mehr.“
Knapp drei Monate vorher hatten führende EU-PolitikerInnen protestiert, als Ungarn Stacheldrahtzäune an der Grenze zu Serbien – gleichzeitig die EU-Außengrenze – errichtete. Ungarn baute dessen ungeachtet eine ähnliche Sperre gegen ein EU-Mitglied, nämlich Kroatien, auf. Seitdem sind mehr und mehr Länder dem Beispiel gefolgt und versuchen, ihre Grenzen zu schließen.
Deutschland hält alle Fahrzeuge aus Österreich auf und kontrolliert sie – dabei war diese Grenze bis zum Sommer eine der am wenigsten kontrollierten. Österreich wiederum verstärkt die Grenze zu Slowenien. Mazedonien, das nicht in der EU ist, hat eine Mauer an der Grenze zu Griechenland gebaut usw. Die bayerische CSU hat öffentlich damit gedroht, die Grenzen des Bundeslandes zu schließen.
Die schwedische Einführung der Kontrollen auf der Öresundbrücke und die unmittelbar daraus resultierenden Maßnahmen der dänischen Regierung fallen der schwedischen Regierung auf die Füße und sind beschämend für das Land – denn im Gegensatz zu ihrer Argumentation, dass verschlechterte Bedingungen für Geflüchtete in Schweden die übrigen EU-Länder zwingen würden, mehr aufzunehmen, haben viele andere Länder ebenfalls ihre Gesetze verschärft. Das Beispiel Norwegens, dessen Regierung sich neuerdings damit brüstet, „eine der härtesten Positionen gegenüber Immigranten in Europa“ zu haben, ist dabei nur eines unter vielen.
Der Versuch der EU, 160.000 der in Griechenland und Italien auf EU-Gebiet gelangten Geflüchteten auf die übrigen EU-Länder aufzuteilen, endete in einem totalen Fiasko – bisher sind nur wenig mehr als 100 verteilt worden. Die Europäische Kommission entschied währenddessen, Griechenland, Kroatien und Italien zu verklagen, weil diese drei Länder die Geflüchteten nicht angemessen registriert hätten (zum Beispiel nicht innerhalb von 72 Stunden ihre Fingerabdrücke genommen). Abgesehen von der schieren Anzahl der Geflüchteten ist die Rechtsgrundlage für die Klage das Dubliner Abkommen [bzw. Dublin III-Verordnung, AdÜ], welches Ländern wie Schweden das Recht gibt, Geflüchtete in das EU-Land ihrer Erstregistrierung zurückzuschicken.
Neue Grenzpolizei und Kooperation mit Erdoğan
Die EU-Kommission will eine neue Grenzkontrolleinheit schaffen – für Land- und Seegrenzen –, um die aktuell operierende Frontex zu ersetzen. Im Gegensatz zu Frontex könnte die neue Formation in allen Schengen-Staaten sowie in Norwegen und in Grenzländern wie Serbien und Mazedonien (alle drei sind keine EU-Mitglieder) eingesetzt werden, um die Grenzen zu schließen. Sie soll das Recht haben, entscheiden und handeln zu dürfen, ohne die Regierungen informieren zu müssen.
Gleichzeitit umwirbt die EU den türkischen Präsidenten Erdoğan und hat ihm drei Milliarden Euro angeboten, wenn er Geflüchtete daran hindert, weiter nach Norden zu kommen. Während der Gespräche mit Erdoğan hat die EU auch bewusst die Augen vor der gewaltsamen und bewaffneten Eskalation verschlossen, die die türkische Regierung gegen die Kurden und die türkische Linke durchführt. Das einzige, was für die EU zählt, ist, dass die zwei Millionen Geflüchteten des Krieges in Syrien auf türkischem Gebiet bleiben.
Auf der politischen Landkarte der EU gibt es die Entwicklung, dass einige traditionell konservative, aber auch mehrere sozialdemokratische Parteien deutlich nach rechts gerückt sind. Was die extreme Rechte fordert, wird inzwischen von den etablierten Parteien diskutiert und schrittweise umgesetzt. Im französischen Wahlkampf hat der ehemalige Präsident Sarkozy Teile der Rhetorik von Marine Le Pen (Anführerin des Front National) kopiert. In der Slowakei spricht sich die regierende sozialdemokratische Partei dafür aus, dass alle Muslime das Land verlassen.
Die neue polnische Regierung tritt in die Fußstapfen von Orbán in Ungarn. In beiden Ländern wurden Gerichte, Verwaltungen und die Medien von Regierungskritikern regelrecht „gesäubert“. Orbán, der in der Vergangenheit schon Juden und Roma attackiert hat, ist nun ein Sprachrohr für islamophobe Äußerungen geworden. Dass Polen den gleichen Weg geht, ist für die EU noch gravierender, weil es sowohl bevölkerungs- als auch wirtschaftsmäßig das sechstgrößte Mitgliedsland ist. Und die Regierungen der tschechischen Republik sowie der Slowakei sind auf einem ähnlichen Weg – diese vier können faktisch als Block EU-Entscheidungen ignorieren.
Das schlimmste Jahr der EU – Fortsetzung folgt
Im Jahr 2015 wurden von der Europäischen Union die verheerendsten politischen Maßnahmen seit langem umgesetzt. Ihre wichtigste Rolle war es, den Banken und multinationalen Konzernen das Geschäft zu erleichtern und gleichzeitig Kürzungsmaßnahmen, „Sparprogramme“, Angriffe auf Gewerkschaftsrechte und eine Erhöhung der Rüstungsausgaben durchzuführen. Aber die Schwierigkeiten der letzten Zeit – insbesondere die Euro-Krise – haben gezeigt, wie wenig die EU wirklich als Gemeinschaft handelt. Der Kapitalismus ist zum Funktionieren auf die Nationalstaaten als Basis für die jeweiligen Bourgeoisien angewiesen, und dies wird weiterhin zu Spannungen führen.
Gleichzeitig gibt es neue linke Bewegungen und Kämpfe der ArbeiterInnen und der Jugend. Sie sind notwendig, um gegen die Politik der EU und die Gefahr der rassistischen rechten Parteien zu kämpfen. Im letzten Herbst gab es zudem eine riesige Welle der Solidarität von ArbeiterInnen und der Bevölkerung gegenüber den Geflüchteten. In Schweden und Dänemark sind neue Proteste für das Asylrecht geplant. Die Alternative zur EU ist nicht Nationalismus, sondern die Einheit der Arbeiterinnen und Arbeiter über nationale Grenzen hinweg.