Interview mit „Solidarität“-Redakteur Sascha Stanicic
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Was führte im März 2002 zur ersten Ausgabe der „Solidarität – Sozialistische Zeitung“?
Der Start der „Solidarität“ war nicht die Neugründung einer Zeitung. Seit 1973 erschien in der Bundesrepublik die marxistische Zeitung VORAN, deren UnterstützerInnen viele Jahre eine Gruppe in SPD und Jungsozialisten gebildet hatten und 1994 als Schlussfolgerung aus dem weitgehenden Rechtsruck der Sozialdemokratie die SAV gründeten. Das „V“ in SAV stammt noch aus dieser Zeit, denn um die historische Kontinuität zum Ausdruck zu bringen, nannten wir die Organisation zuerst „Sozialistische Alternative Voran“.
Die 1990er Jahre waren geprägt von dem Triumphalismus der Kapitalisten und ihrer Vertreter in Politik und Medien angesichts des Zusammenbruchs der stalinistischen Staaten und der Wiederherstellung kapitalistischer Ausbeutungsverhältnisse in diesen Ländern. Die Linke und die Arbeiterbewegung befanden sich in einer ideologisch-politischen Defensive. Wir schwammen gegen den Strom und eine sozialistische Veränderung der Gesellschaft erschien vielen als entweder unmöglich angesichts der Kräfteverhältnisse oder nicht erstrebenswert, weil der Stalinismus die sozialistische Idee diskreditiert hatte bzw. das Versprechen der blühenden Landschaften geglaubt wurde.
Aber zum Ende der 1990er Jahre entwickelten sich die ersten Risse in der kapitalistischen Globalisierung und ihrer ideologischen Dominanz. Eine neue Generation von jungen Menschen begann sich politisch nach links zu orientieren. Der Name „VORAN“ erschien uns altbacken und für die neue Generation, denen die Begriffe der alten Arbeiterbewegung unbekannt waren, auch inhaltslos.
Also war der Schritt mehr als nur eine Namensänderung. Welche politischen Perspektiven drückte das aus?
1999 gab es „The Battle of Seattle“ – die ersten Massenproteste gegen ein Gipfeltreffen der imperialistischen Mächte. Damals gegen die WTO. Erstmals kamen junge Aktivistinnen und Aktivisten zum Beispiel der Umweltbewegung mit Gewerkschaftsaktiven im Protest zusammen. Das war ein Wendepunkt und die Geburtsstunde der so genannten Antiglobalisierungsbewegung, die ja tatsächlich eine Bewegung gegen internationalen Neoliberalismus und kapitalistische Profitgier, gegen die Aufhebung von Handelshemmnissen im Interesse der großen Banken und Konzerne war. Wenn man sich alte Ausgaben der „Solidarität“ anschaut, meint man die Zeit sei stehen geblieben. Zum Beispiel findet man in der ersten Ausgabe Argumente gegen das GATS-Abkommen, was sehr an die heutige Bewegung gegen TTIP erinnert.
Jedenfalls wollten wir mit der Namensänderung unserer Zeitung einen Schritt in Richtung dieser Bewegungen machen. Damals wurde attac gegründet und hatte tausende aktive Mitglieder. Auch SAV-Mitglieder engagierten sich bei attac und trieben dort die Diskussion voran, dass eine Kritik an neoliberaler Politik nicht ausreicht, sondern das kapitalistische Wirtschaftssystem selbst in Frage gestellt werden muss. Ich selbst war aktiv in der Berliner attac-Gruppe gegen den Krieg.
„Solidarität“ war aus unserer Sicht ein Begriff, der dem Bewusstsein dieser neuen Generation von Aktiven entsprach, aber auch von denen, die nach 1989/90 sozusagen nicht von Bord gegangen waren und in gewerkschaftlichen und linken Strukturen aktiv geblieben waren. „Solidarität“ ist aber auch ein Begriff der alten sozialistischen Arbeiterbewegung und drückte unserer Meinung nach die Verbindung zwischen neuer Antiglobalisierungsbewegung und „alter“ Gewerkschaftsbewegung aus, die wir als nötig betrachteten. Aber auch „Sozialistische Zeitung“ gehört zum Namen. Es war und ist uns auch wichtig, die Idee des Sozialismus offensiv zu propagieren und zu rehabilitieren.
Was ist denn die Rolle einer Zeitung in der heutigen Zeit?
Eine Zeitung ist für eine linke Organisation sehr wichtig. Wir führen auch den Kampf um die Köpfe und die Kapitalisten haben eine ganze Armee von Propagandawaffen in ihren Händen – und natürlich das Geld diese einzusetzen. Schauen wir uns die Situation nach dem Terroranschlag von Paris an. Alle großen Medien blasen in dasselbe Horn, weil sie letztlich auch interessegeleitet sind. Mit Informationen oder dem zurückhalten von solchen wird Politik gemacht. Ein Beispiel: Wladimir Putin, der ja nun selber die russischen Medien in seinem Interesse beeinflusst, hat auf dem G20-Gipfel offenbart, welche Staaten mit dem so genannten Islamischen Staat Geschäfte machen. Das wird in den Massenmedien aber so gut wie gar nicht berichtet. Ähnliches gilt für die Massenproteste in Afghanistan gegen die Taliban und die Regierung.
Eine linke Gegenöffentlichkeit, Gegeninformation ist dringend nötig. Erklärungen für das Chaos in der Welt müssen verbreitet werden.
Aber die „Solidarität“ ist mehr, sie ist Handelnde, kann Kampagnen voran treiben, zur Aktion aufrufen und sie spielt eine wichtige Rolle für die Meinungsbildungsprozesse und die Aktivitäten der SAV. Früher hieß es in der revolutionären Bewegung immer, dass eine Zeitung „kollektiver Agitator und kollektiver Organisator“ ist. Da ist immer noch viel dran. Aber heute ist die Zeitung natürlich nur eines von vielen publizistischen Mitteln für eine sozialistische Organisation. Wir geben von der SAV zusätzlich das vierteljährlich erscheinende Magazin sozialismus.info heraus und betreiben die gleichnamige Webseite, die täglich aktualisiert wird. Heute sprechen wir mit unterschiedlichen Publikationen auch unterschiedliche Schichten an. Die Zeitung richtet sich mehr an den Erstleser und die Erstleserin, die wir auf Demonstrationen, auf der Straße oder vor Betriebstoren treffen und denen wir die SAV vorstellen wollen. Wir gehen davon aus, dass linke Aktivistinnen und Aktivisten heute stärker das Internet nutzen und unsere Webseite für sie wichtiger ist. Natürlich sind auch die Möglichkeiten einer Monatszeitung sehr begrenzt. Darum sollten wir alles daran setzen, möglichst bald zu einer 14-tägigen oder sogar wöchentlichen Erscheinungsweise überzugehen. Das würde den Wirkungsgrad der „Solidarität“ enorm steigern.
Warum findet man keine Anzeigen in der „Solidarität“?
Finanzielle Unabhängigkeit ist uns wichtig. das heißt wir wollen nur von unseren Leserinnen und Lesern abhängig sein und unsere Inhalte nicht nach den Interessen von Anzeigenkunden ausrichten müssen. Deshalb verkaufen wir die „Solidarität“ und verteilen sie nicht kostenlos, wie das manche Parteien oder Organisationen machen, die entweder durch Anzeigen, Stiftungsgelder oder staatliche Zuschüsse ihre Publikationen finanzieren lassen.
Wenn Du auf die letzten 150 Ausgaben zurück blickst, was war dann der wichtigste Beitrag, den die „Solidarität“ geleistet hat?
Der wichtigste Beitrag ist politisch. Eine, einfach verständliche, marxistische Erklärung für die Ereignisse in der Welt geben, daraus politische Perspektiven ableiten und Alternativen zu den Krisen, den Kriegen und dem ganzen kapitalistischen System zu formulieren. Natürlich auch die konkreten Vorschläge für Bewegungen und Kämpfe zu verbreiten. In den letzten 13 Jahren gehörten dazu zweifellos eine Erklärung der kapitalistischen Globalisierung und nach 2007 der so genannten Großen Rezession bzw. der neuen Krisenperiode, in die der weltweite Kapitalismus eingetreten ist. Aber auch die Debatte darüber, wie eine neue Linke aussehen sollte. SAV-Mitglieder waren ja von Anfang an bei der WASG dabei und haben dort für antikapitalistische Positionen gerungen. Wir sind aber schon in den Jahren zuvor für eine neue Arbeiterpartei eingetreten, haben vor Ort linke Bündnisse ins Leben gerufen und so den Boden für die WASG und später DIE LINKE mit gelegt. Die „Solidarität“ hat hier einen wichtigen Beitrag geleistet, die innerparteilichen Debatten zu dokumentieren und von einem sozialistischen Standpunkt zu beeinflussen.
Welche Rolle spielt die Berichterstattung über internationale Entwicklungen?
Eine ganz besonders große. Zum einen natürlich weil internationale Entwicklungen objektiv von großer Bedeutung sind. Zum anderen aber auch, weil sie gerade auf die Entwicklung der Linken und Arbeiterbewegung in Deutschland stark zurück wirken. Wir haben, weil die SAV Teil der weltweiten Organisation Komitee für eine Arbeiterinternationale ist, den großen Vorteil über Korrespondenten in über vierzig Ländern auf der Welt zu verfügen. So sind wir gerade bei internationalen Themen in der Lage, Ereignisse und Sichtweisen zu berichten, die niemand anders veröffentlicht. Ob über Klassenkämpfe in China, den Kampf gegen die Nazerbajew-Diktatur in Kasachstan oder die Bergarbeiterstreiks in Südafrika 2013. Aber die „Solidarität“ berichtet nicht nur, sondern wird ihrem Namen hier gerecht und organisiert auch praktische Unterstützung.
Für die Debatten innerhalb der Linken können wir zudem einen besonderen Beitrag leisten, weil wir durch unsere internationale Organisation mittendrin stecken in der Bewegung in anderen Ländern. So haben wir früher als andere auf die bürokratischen Entwicklungen in Venezuela und Bolivien unter Chavéz und Morales hingewiesen und diejenigen zu Wort kommen lassen, die dort für Selbstorganisation und sozialistische Demokratie kämpfen. Oder wir haben in den letzten Jahren die Entwicklung von Syriza in Griechenland kritisch kommentiert und über die Anstrengungen von SozialistInnen eine vereinigte und revolutionäre Linke zu bilden, berichtet.
Was waren die wichtigsten Aktivitäten der SAV, die von der „Solidarität“ begleitet wurden?
Das sind so viele, dass es unmöglich ist, alle aufzuzählen. Wir haben einen wichtigen Beitrag im Kampf gegen die Agenda 2010 geleistet. Die SAV hat damals als erste Gruppe die Initiative zu der bundesweiten Großdemonstration am 1. November 2003 ergriffen, die mit 100.000 Menschen der Startpunkt für die weiteren Massenproteste gegen Agenda 2010 und Hartz IV war und die „Solidarität“ hat diese Idee natürlich propagiert. Wir haben die jungen SAV-Mitglieder unterstützt und zu Wort kommen lassen, die eine führende Rolle bei den riesigen Schülerstreiks gegen den Irak-Krieg gespielt haben. Wir haben ganz viele lokale Kampagnen geführt, zum Beispiel haben SAV-Mitglieder in Dresden einen wichtigen Beitrag geleistet, die Privatisierung des Klinikums zu verhindern. In Köln haben wir die Schließung von Schwimmbädern verhindert. In Stuttgart haben wir eine wichtige Rolle beim Kampf gegen Stuttgart 21 gespielt und den Schülerstreik am so genannten „Schwarzen Donnerstag“ gemeinsam mit anderen organisiert, der dann zu dem Polizeieinsatz führte, der im November von einem Gericht als rechtswidrig verurteilt wurde. Die „Solidarität“ hat auch immer sehr ausführlich über gewerkschaftliche und betriebliche Kämpfe berichtet und die Solidaritätsarbeit der SAV dokumentiert. Da fallen mir aus den letzten Jahren vor allem der wilde Streik bei Opel Bochum 2004, der Streik gegen die Schließung des Bosch-Siemens-Hausgerätewerks in Berlin 2006, die Streiks der GDL 2007 und 2014/15 und die Streiks an der Berliner Charité ein.
Du hast ja schon auf die Aktivitäten in WASG und LINKE hingewiesen. Wenn man die Ausgaben der „Solidarität“ durchblättert, fällt die sehr ausführliche Berichterstattung dazu tatsächlich auf.
Das war und ist sicher von besonderer Bedeutung, der Aufbau der WASG und die politischen Auseinandersetzungen um den Kurs dieser neuen Partei bzw. heute von der LINKEN. Auch wenn die WASG gar nicht explizit antikapitalistisch war, hatte sie aus den Erfahrungen mit SPD, Grünen und PDS eine wichtige Schlussfolgerung gezogen: sie sprach sich deutlich gegen Regierungsbeteiligungen aus, die zu Sozialabbau, Privatisierungen und ähnlichem führen. Damit stand die WASG faktisch links von der PDS, die ja im Berliner rot-roten Senat seit dem Jahr 2001 für eine solche Politik mitverantwortlich war. Der Berliner WASG war klar, dass eine linke Kandidatur gegen diesen Senat aus SPD und PDS dringend nötig war und auf viel Resonanz stoßen würde. Damals kam dann nur der Rücktritt der Schröderregierung und die Neuwahlen 2005 „dazwischen“ und die Initiative von Oskar Lafontaine ein politisches Comeback zu machen unter der Bedingung, dass WASG und PDS zusammen gehen. Das führte zu der absurden Situation, dass Lafontaine und die bundesweite Führung der WASG vom Berliner Landesverband forderten, bei den Abgeordnetenhauswahlen auf die eigene Kandidatur zu verzichten und stattdessen die PDS zu unterstützen, also zur Wahl der Politik aufzurufen, die man bekämpfte. SAV-Mitglieder waren damals ein wichtiger Teil der Berliner WASG und auch stark im Landesvorstand vertreten und haben sich dieser Gängelung von oben widersetzt. Unsere Genossin Lucy Redler wurde zur Spitzenkandidatin der Berliner WASG gewählt. Leider hat die WASG- und PDS-Führung und auch so manche im Berliner Landesverband dann mehr Kraft in die Verhinderung eines Wahlerfolgs der WASG als in den Kampf gegen die pro-kapitalistischen Parteien gelegt und so dazu beigetragen, dass die WASG an der Fünf-Prozent-Hürde scheiterte. Wobei das Ergebnis von 50.000 Stimmen eigentlich ein Erfolg war.
Würdest Du sagen, dass Ihr im Hinblick auf Partei DIE LINKE mit Eurer Einschätzung richtig lagt?
Zu 95 Prozent ja. Es war ein Fehler, dass SAV-Mitglieder in Ostdeutschland und Berlin bei der Fusion von WASG und PDS nicht in die neue Partei gegangen sind. Diesen Fehler haben wir schnell korrigiert und sind nach einem Jahr beigetreten. Für Fehler wird man aber bestraft und die Führung der LINKEN hat gegen die Mitgliedschaft von Lucy Redler, mir und anderen Einspruch erhoben und unseren Beitritt in einem bürokratischen Verfahren zwei Jahre hinauszögern und so unsere Mitarbeit für diesen Zeitraum verhindern können, weil wir unsere Kritik an der Politik der Koalitionsbildung mit SPD und Grünen ja nicht eingestellt hatten. Aber das war ein taktischer Fehler. Unsere Einschätzung, dass DIE LINKE, wenn sie den Kurs der alten PDS wesentlich fortsetzt, keine massenwirksame Alternative wird, bestätigt sich – leider. Aber wir sind auch der Meinung, dass DIE LINKE in vielen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen tatsächlich links wirkt und bei Kämpfen zwischen Kapital und Arbeit oder gegen Rassismus hilft. Vor allem aber ist der Kampf um die Ausrichtung der Partei noch nicht beendet und findet die Auseinandersetzung um die Frage, wie eine neue Linke aussehen soll, nicht zuletzt in der Partei und in ihrem Umfeld statt. SAV-Mitglieder sind deshalb aktiv in der Antikapitalistischen Linken (AKL) und dem BAK Revolutionäre Linke (RL) im Jugendverband, um gemeinsam mit anderen einen starken sozialistischen und kämpferischen Flügel in der Partei zu bilden.
Wo steht die „Solidarität“ heute und was liegt vor uns?
Die 150. Ausgabe erscheint zu einer Zeit, in der die Welt aus den Fugen gerät und immer mehr Menschen das auch so empfinden. Das führt zu einer völlig neuen Qualität von Zukunftsängsten, wie wir sie vielleicht seit den Zeiten des Wettrüstens in den 1980er Jahren nicht mehr kannten. Das beinhaltet die Gefahr der Stärkung rechtspopulistischer und faschistischer Kräfte und des weiteren Abbaus demokratischer Rechte. Beides müssen wir leider beobachten. Aber auf der anderen Seite sehen wir auch das Potenzial für soziale und gewerkschaftliche Kämpfe, Massenbewegungen und dass viele Menschen auf der Suche nach Antworten und Erklärungen sich nach links orientieren. Hier kann und wird die „Solidarität“ eine wichtige Rolle spielen, wie auch unsere Webseite und das Magazin sozialismus.info.
Unsere Möglichkeiten sind noch eingeschränkt aufgrund der monatlichen Erscheinungsweise und dem begrenzten Umfang. Trotzdem sind wir überzeugt, dass wir auch heute schon die beste sozialistische Zeitung in diesem Land machen. Die SAV hat gerade im letzten Jahr durch unseren entschlossenen Kampf gegen Pegida, AfD und Rassismus, durch unsere Aktivitäten bei den Streiks der LokführerInnen, an der Charité und im Sozial- und Erziehungsdienst neue UnterstützerInnen und Mitglieder gewonnen. Vor allem konnten wir viele Schülerinnen und Schüler und Jugendliche ansprechen. Das wird uns die Möglichkeit geben, auch unsere publizistische Arbeit in den nächsten Jahren auszuweiten. Wie genau dies aussehen wird, welche Rolle dabei die „Solidarität“, welche Rolle Webseite, Magazin, Bücher und Broschüren spielen werden, werden unsere Mitglieder demokratisch entscheiden. Aber sicher ist, dass wir jeden Tag und jede Woche mehr und mehr sozialistische Ideen für den Widerstand gegen den Kapitalismus in die Welt setzen werden.