Zum Mythos vom sicheren Westbalkan

By Peter Fitzgerald (Own work based on the blank worldmap) [CC BY-SA 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)], via Wikimedia Commons
By Peter Fitzgerald (Own work based on the blank worldmap) [CC BY-SA 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)], via Wikimedia Commons
Fakten gegen Vorurteile

Seit dem Sommer 2014 gelten Serbien, Bosnien-Herzegowina und Mazedonien in Deutschland als sichere Herkunftsstaaten. Dies bedeutet, dass die Anträge von Asylbewerberinnen und Asylbewerbern aus diesen Ländern nur noch oberflächlich geprüft werden und damit schneller abgelehnt werden können, da aus Sicht der Behörden in diesen Ländern nicht von politischer Verfolgung auszugehen ist. Flüchtlinge müssen beweisen, dass sie entgegen dieser Annahme verfolgt werden, wenn sie als Flüchtling anerkannt werden wollen.

von Heinrich Fedun, Berlin

Bereits vor der aktuellen Flüchtlingskrise wurden immer lauter Forderungen nach Abschreckungs- und Repressionsmaßnahmen gegen Flüchtlinge gefordert. Insbesondere solche vom Westbalkan müssen als Begründung herhalten. Diesen wird unterstellt, dass sie es nur auf die Sozialleistungen in Deutschland abgesehen hätten und eigentlich keinen „echten“ Asylgrund vorweisen könnten. Schließlich werde niemand vom Westbalkan vertrieben, wie Joachim Herrmann, dem die Bezeichnung „Vertriebene“ für heutige Flüchtlinge eine Beleidigung der deutschen Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg ist, kürzlich behauptete. Daher sollen Kosova, Albanien und Montenegro auch im Zuge der bevorstehenden Asylrechtsverschärfung zu „sicheren Herkunftsstaaten“ erklärt werden.

Auf der einen Seite also „echte“ Flüchtlinge aus dem Irak, aus Eritrea und Syrien, auf der anderen „falsche“, das heißt „Wirtschaftsflüchtlinge“ vom Westbalkan? Interessant sind vor diesem Hintergrund die Anerkennungsquoten anderer Staaten. Pro Asyl weißt darauf hin, dass die Schweiz circa 37% der serbischen und 40% kosovarischen Antragsstellerinnen und Antragssteller als Flüchtlinge anerkennt, in Finnland circa 43% der kosovarischen Flüchtlinge Schutz finden und Frankreich und Belgien 20% bzw. 18% der bosnischen Flüchtlinge Schutz gewährt1. In der gesamten EU schwanken die Schutzquoten von Staat zu Staat für Flüchtlinge und insbesondere für die vom Westbalkan. Erkennen die genannten Staaten also wirtschaftliche Motive als Asylgrund an? Mitnichten. Auch andere EU-Staaten und die Schweiz erkennen „Wirtschaftsflüchtlinge“ nicht an. Der Unterschied ist, dass die Bundesrepublik schlicht ein Hardliner in dieser Frage ist, und den Begriff der Verfolgung sehr eng auslegt.

Wer flieht also aus Serbien, Kosova, Mazedonien und den anderen „sicheren Herkunftsstaaten“ und warum? Welche Zustände herrschen dort, die in Deutschland keinen Asylgrund darstellen, in anderen Staaten jedoch schon. Dies soll im Folgendem dargestellt werden. Einen breiteren Raum wird die Situation der Roma in dieser Region einnehmen, da ein Großteil der Flüchtlinge aus diesen Staaten mit Ausnahme Kosovas und Albaniens Roma sind (laut Bundesregierung 91 Prozent der serbischen, 72 Prozent der mazedonischen, 60 Prozent der bosnischen und 42 Prozent der montenegrinischen Flüchtlinge)2.

Serbien

Serbien wurde von der Krise 2007/2008 schwer getroffen. Seit 2008 erlebt Serbien sein sechstes Jahr in Rezession. Das Nettodurchschnittseinkommen liegt bei circa 380 Euro im Monat. Auch sind Korruption und organisiertes Verbrechen weit verbreitet3. Die Arbeitslosenquote liegt seit Jahren bei circa 21 Prozent4.

Außerdem war Serbien im Sommer 2014, wie auch Bosnien-Herzegowina, von schweren Überschwemmungen betroffen, die schwere wirtschaftliche Schäden verursachten und Wohnhäuser, Schulen, Straßen und Krankenhäuser im Lande zerstörten. Geschätzt fielen durch die Flut und deren Folgen 125.000 Menschen unter die Armutsgrenze5.

Berichten zufolge wurden Roma der Zugang zu Aufnahmelagern für Menschen, die ihre Häuser verloren hatten, verwehrt6. Auch ist Gewalt gegen Roma ein weitverbreitetes Problem. Roma und Romasiedlungen bzw. -viertel werden regelmäßig von serbischen Faschisten und nach Fußballspielen von rechten Hooligans angegriffen.

Pro Asyl berichtete über mehrere Übergriffe7 und ausführlich über die Situation der serbischen Roma. 2010 griffen in der Ortschaft Jabuka in der Vojvodina Dorfbewohnerinnen und -bewohner wahllos Häuser von Roma an, nachdem ein jugendlicher Roma einen Serben im Streit ermordet hatte. Die anwesende Polizei griff erst nach Tagen ein. Nur ein Bruchteil der Angreifenden wurde festgenommen und zu Strafen unterhalb des gesetzlichen Strafmaßes verurteilt.

Aus Belgrad und dem Rest des Landes werden immer wieder Ausschreitungen und körperliche und verbale Angriffe gegen Roma berichtet. Das Romamuseum in Belgrad wird immer wieder mit romafeindlichen Graffitis und Hakenkreuzen beschmiert.

Auch Polizeigewalt im allgemeinen und speziell gegen Roma ist ein enormes Problem. Polizeiübergriffe werden teils aus Unwissenheit über die eigenen Rechte, teils aus Furcht vor Repression nicht zur Anzeige gebracht. Wenn doch Anzeige erstattet wird, werden Verfahren verzögert oder eingestellt.

Siedlungen serbischer Roma werden häufig im Zusammenhang von Infrastrukturprojekten zwangsgeräumt. In der Regel geschieht dies unangekündigt, es kommt zu Gewaltanwendungen, häufig wird kein neuer Wohnraum oder nur kalte Wohncontainer ohne Anschluss an Kanalisation zur Verfügung gestellt und beschädigtes oder zerstörtes Eigentum wird nicht ersetzt. Auch müssen viele Roma in sogenannten informellen Siedlungen Leben, d.h. Siedlungen, die nicht legalisiert sind. In einem Drittel dieser Siedlungen gibt es keine Wasseranschlüsse und in 70 Prozent keinen Anschluss an das Abwassersystem. Diese Siedlungen sind auch oft nicht an das Stromnetz angeschlossen.

Auch im Bildungssystem ist die Lage für Roma prekär. Laut der Europäischen Kommission gegen Rassismus und Intoleranz des Europarats beenden nur ein Viertel der Romakinder die Schule und der Besuch weiterführender Schulen ist im einstelligen Prozentbereich. Viele Romakinder werden pauschal auf Sonderschulen für Lernbehinderte abgeschoben oder in spezielle Romaklassen. Auch Diskriminierung durch Mitschülerinnen und Mitschüler, Lehrende und die Schulbehörden ist weit verbreitet.

Auch ist vielen Roma der offizielle Arbeitsmarkt verschlossen, wodurch sie sich durch selbstständige Beschäftigung als Straßenhändler, mit Gelegenheitsjobs oder dem Sammeln von Altmetall durchschlagen müssen. Wenn Roma an Arbeit kommen, wird diese oft geringer entlohnt (durchschnittlich 48 Prozent weniger als Nichtroma) und ist körperlich schwer und gefährlich.

Noch schlimmer ist die Situation für binnenvertriebene Roma aus Kosova. Neben dem Umstand, dass auch diese durch antiziganistische Gewalt bedroht sind, vielfältiger Diskriminierung ausgesetzt sind und in informellen Siedlungen leben, sind auch viele durch fehlende oder unvollständige Personaldokumente völlig rechtlos. Um Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen, zum Bildungssystem und andere öffentliche Dienstleistungen zu erhalten müssen sich Binnenvertriebene registrieren. Jedoch wird dies durch widersprüchliche Vorschriften, bürokratische Hürden und über ganz Serbien verstreute Melderegister erschwert. Mit unvollständigen Dokumenten ist eine Anmeldung nicht möglich und Roma, Ashkali und Ägypter, die schon in Kosova in informellen Siedlungen lebten, können sich de facto in keinem Ort um- und abmelden und geborene Kinder werden nicht registriert, wodurch diese nicht die Schule besuchen können und gesundheitlich versorgt werden. In Serbien entsteht eine immer größere Schicht von rechtlosen Roma, die offiziell nicht existieren.

Weitere Gruppen, die enormer Diskriminierung ausgesetzt sind, sind Homosexuelle, Trans- und Interpersonen. Zwar gibt es Antidiskriminierungsgesetze, die erst durch den Druck der EU-Beitrittsverhandlungen eingeführt wurden, jedoch ist Homo- und Transphobie in der serbischen Gesellschaft weit verbreitet und wird durch serbische Politikerinnen und Politiker, den orthodoxen Klerus und Rechtsradikale und Faschisten angestachelt. Übergriffe sind an der Tagesordnung und werden selten bestraft, da Anzeigen aus Angst vor weiterer Diskriminierung nicht erstattet werden und die Behörden kaum gegen Gewalt und Anfeindungen vorgehen.8

20 Prozent der serbischen Bevölkerung befürwortet Gewalt gegen Homosexuelle und über 60 Prozent sehen Homosexualität als eine Krankheit9. Die erste Pride Parade in Belgrad 2010 endete in stundenlangen Straßenschlachten zwischen der Polizei und serbischen Faschisten. Danach wurden alle Demonstrationen der Folgejahre mit dem vorgeschobenen Argument, dass es wieder zu Ausschreitungen kommen könnte, verboten. Erst 2014 fand wieder eine Pride Parade unter massiven Polizeischutz statt. Einen Tag zuvor hatten 20000 serbische Rechte mit Unterstützung des serbischen Klerus gegen Homosexualität demonstriert10.

Kosova

Seit der von den NATO-Mächten unterstützen Unabhängigkeitserklärung Kosovas hat sich die ökonomische Lage im Land nicht gebessert. Kosova ist das Armenhaus Europas. Die Arbeitslosigkeit ist unvermindert hoch, je nach Quelle wird sie auf 3511 bis 45 Prozent12 geschätzt, die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 60 Prozent. Die Arbeitslosenquote unter Roma beträgt annähernd 100 Prozent13. 17 Prozent der Bevölkerung lebt in extremer Armut, d.h. sie bestreiten ihren Tagesunterhalt von unter einem Euro pro Tag und 45 Prozent lebt in absoluter Armut, d.h. weniger als 1,42 Euro pro Tag14. Das Bildungs- und Gesundheitssystem Kosovas ist völlig marode. Kosova ist enorm von Geldern aus dem Ausland abhängig, seien es Gelder der EU oder Überweisungen von Auslandskosovaren.

Hinzu kommt die weitverbreitete Korruption und organisierte Kriminalität. Alles unter den Augen der Europäischen Union und der Vereinten Nationen. Hilfsgelder versickern in dunklen Kanälen, Mitarbeiter der Eulex-Mission, die eigentlich einen Rechtsstaat aufbauen soll, sind in Korruptions- und Justizskandale verwickelt15, weite Teile der Elite des Landes gelten als mit der organisierten Kriminalität verbandelt. Beispielweise wurde über Hashim Thaçi, Ministerpräsident Kosovas von 2008 bis 2014, immer wieder berichtet, auch unter Verweis auf deutsche oder US-amerikanische Geheimdienste, dass er Kontakte zur organisierten Kriminalität hält. Auch die Polizei und die Justiz werden von der kosovarischen Bevölkerung als zutiefst korrupt wahrgenommen. Außerdem ist Kosova zu einer Drehscheibe des Menschen-, Drogen- und Waffenhandels in Europa avanciert.

Das politische Leben ist von Stillstand geprägt, die derzeitige Regierung kam erst nach einer sechsmonatigen Pattsituation auf Druck der EU und USA zustande und im Norden herrschen weiterhin staatliche Parallelstrukturen der serbischen Minderheit, mit der es immer wieder zu Zusammenstößen kommt.

Die Roma in Kosova, sowie die Ashkali und Ägypter, die den Roma zugerechnet werden, jedoch eine eigene ethnische Identität beanspruchen, sind massiven Diskriminierungen ausgesetzt. Innerhalb der albanischen Gemeinschaft gelten sie als Kollaborateure mit Serbien. Die Flüchtlingsinitiative „alle bleiben“ dokumentierte 2013 die Zustände, in denen Roma in Kosova leben müssen. Romakinder werden innerhalb der Schule gemobbt, die Kosten für Schulmaterial müssen selbst getragen werden und die bürokratischen Hürden sind für Roma hoch, insbesondere wenn ihre Kinder vorher in der Bundesrepublik zur Schule gingen16. Zeugnisse aus Deutschland und anderen EU-Staaten werden oft nicht anerkannt. Hinzu kommt die Sprachbarriere vieler Romakinder, die in einem EU-Staat geboren wurden und aufgewachsen sind. Viele sprechen kein oder kaum albanisch oder serbisch.

Auch vom Arbeitsmarkt werden Roma systematisch ausgeschlossen, wodurch sich viele mit Müllsammeln oder Gelegenheitsarbeit durchschlagen müssen. Abgeschobene Roma aus Deutschland oder Frankreich können meist nicht in ihre Häuser, die sie vor dem Krieg bewohnt hatten, zurückkehren. Viele Häuser sind zerstört, mussten vor der Flucht zu Schleuderpreisen verkauft werden oder werden jetzt von albanischen Familien bewohnt. Da oft keine Dokumente mehr existieren, die die Besitzverhältnisse vor der Flucht belegen, stehen zurückgekehrte Roma ohne Dach über dem Kopf da.

Erschwerend kommt die Untätigkeit von Polizei und Justiz hinzu. Gewalttaten gegen Roma und andere Minderheiten werden kaum angezeigt, da auch hier Ermittlungen verzögert und eingestellt werden und die Polizei schlimmstenfalls die Opfer auch noch demütigt.

Bosnien-Herzegowina

Auch Bosnien-Herzegowina hat mit wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen. Die Arbeitslosigkeit liegt offiziell bei 40 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit erreicht sogar 60 Prozent17. Die Löhne im Land sind, selbst für gut ausgebildete Fachkräfte, sehr niedrig. Staat und Wirtschaft sind wie in den restlichen Westbalkanstaaten von Korruption und Klüngel geprägt. Oft schustern Parteibürokraten sich und ihren Familien Posten in der Verwaltung oder privatisierte Unternehmen zu. Gleichzeitig erlebt Bosnien seit seiner Unabhängigkeit eine zunehmende Deindsutrialisierung. Jeder zehnte Bewohner gilt als arm18. Deutschland zieht einen enormen Nutzen aus solchen Verhältnissen. Allein 2014 wurden circa 1000 medizinische Fachkräfte aus dem Land gezielt abgeworben19. Die Abwanderung gut ausgebildeter (medizinischer) Fachkräfte nach Westeuropa ist ein Phänomen des gesamten Balkans.

Die politische Elite des Landes hat sich in die Nachkriegsordnung bestens eingerichtet. Mit dem von den USA aufoktroyierten Dayton-Abkommen entstanden zwei Staaten in einem, die Föderation Bosnien-Herzegowina und die Republik Srpska. Auf dem ersten Blick ein System, was der ethnischen Vielfalt Bosnien-Herzegowinas Rechnung trägt, spaltet es die Bevölkerung immer noch entlang ethnischer Kategorien und trägt zur politischen Stagnation des Landes bei. Außerdem diskriminiert diese politische Ordnung andere Minderheiten wie Roma und Juden. Für die Kandidatur bestimmter politischer Ämter, für eines der beiden bosnischen Parlamente und für einen Job in der öffentlichen Verwaltung müssen Bewerberinnen und Bewerber einer der drei Gruppen der Serben, Kroaten oder Bosniaken angehören bzw. werden letztere entsprechend der Volkszählung von 1991 besetzt20, gewisse Beziehungen stillschweigend vorausgesetzt.

Roma haben so gut wie keine Möglichkeit in der Verwaltung angestellt zu werden, da laut der Volkszählung von 1991 nur 9000 Roma im Land lebten (sie hatten sich mehrheitlich als Jugoslawen oder den drei Entitäten zugeordnet). Von anderen Sektoren des Arbeitsmarktes sind ebenso Roma ausgeschlossen, das Sammeln von Altmetall oder Betteln zur Sicherung des Lebensunterhalts sind unter den bosnischen Roma weit verbreitet. Dadurch sind sie auch von der Gesundheitsfürsorge ausgeschlossen21.

Durch die Armut sind viele Roma auch vom Schulbesuch ausgeschlossen. Der bosnische Staat übernimmt keine Kosten für Schulmaterial, Verpflegung oder Verkehrsmittel, wodurch der Schulbesuch für viele Roma zu einer enormen finanziellen Belastung wird. Auch können Kinder der Schule verwiesen werden, wenn sie nicht in angemessener Kleidung in der Schule erscheinen. Und auch von der Abschiebung von nicht lernbehinderten Romakindern auf Sonderschulen wurde berichtet22.

Montenegro

In Montenegro beträgt die Arbeitslosigkeit offiziell 13 Prozent, geschätzt sind es inoffiziell sogar 20 Prozent23. Die Schere zwischen arm und reich ist in Montenegro enorm groß und auch die Korruption weit verbreitet. In der Regel werden nur Beamtinnen und Beamte in niedrigeren Positionen belangt, Beamtinnen und Beamte in höheren Positionen und Politikerinnen und Politiker dagegen kaum und wenn, dann werden diese durch den Regierungspräsidenten oft amnestiert.

Das durchschnittliche Einkommen abhängig Beschäftigter beträgt laut Auswärtigem Amt lediglich 480 pro Monat24. Ein Großteil der Großindustrie aus jugoslawischen Zeiten ist nach dem Zerfall Jugoslawiens weggebrochen. Auch die organisierte Kriminalität ist bis zur Regierungsebene hinauf verbreitet.

Journalistinnen und Journalisten, die über die weit verbreitete Korruption berichten, müssen mit Repressalien rechnen. Diese reichen von Schmerzensgeldklagen von Regierungsangehörigen und ihren Verwandten über Morddrohungen bis hin zu Sprengstoffanschlägen. 2004 wurde ein Journalist auf offener Straße erschossen. Bis heute wurde niemand dafür verurteilt. Angriffe gegen nicht regierungstreue Journalistinnen und Journalisten sind praktisch straffrei, da mysteriöserweise fast nie ein Täter oder eine Täterin ermittelt werden kann, und offensichtlich politisch gewollt25.

Ähnlich wie in Serbien ist Homo- und Transphobie in Montenegro weit verbreitet. Laut einer Umfrage aus dem Jahre 2013 halten circa 60 Prozent der montenegrinischen Homosexualität für krankhaft. Umfragen für bestimmte Berufsgruppen (unter anderem der Polizei) kommen auf ähnliche Ergebnisse26. Insbesondere die orthodoxe Kirche schürt die Transphobie nach Kräften und die Regierung unternimmt abgesehen von der Verabschiedung von Gesetzen und schönen Worten nicht viel um Homosexuelle, Transpersonen und deren Familien zu schützen. Gewalt und Anfeindungen werden selten geahndet und das Strafmaß ist in aller Regel niedrig. Entsprechend selten werden homo- und transphobe Übergriffe selten angezeigt. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass der schwule Aktivist Zdravko Cimbaljević 2013 Asyl in Kanada erhielt, da die montenegrinischen Behörden ihn nicht vor homophoben Anfeindungen und Todesdrohungen beschützten27. Irgendwie unpassend für einen „sicheren Herkunftsstaat“.

Noch schwieriger gestaltet sich die Situation der Roma. Zwar gibt auch die Regierung weit verbreitet Vorurteile gegenüber Roma zu, erklärt sie jedoch auch mit ihrem „spezifischen Lebenswandel“28. Auch in der restlichen Bevölkerung ist ein gewisses Bewusstsein für die Unterdrückung der Roma vorhanden, immerhin betrachten 63 Prozent der Montenegrinerinnen und Montenegriner Roma als am stärksten diskriminierte Gruppe in Montenegro. Jedoch ist weit über die Hälfte der Bevölkerung engeren Kontakt (Freundschaft, Heirat) negativ eingestellt29.

Auch auf dem Arbeitsmarkt sind Roma massiv diskriminiert. Nur fünf Prozent der in Montenegro lebenden Roma befindet sich in einer Festanstellung. Montenegros Regierung führt dies auf ihr niedriges Bildungsniveau zurück. Tatsächlich besuchen nur die Hälfte aller Romakinder zwischen 7 und 15 Jahren eine Schule mit einer starken Abnahme in höheren Jahrgängen. Allerdings wird der Schulbesuch durch Armut, schlechte Wohnbedingungen, Diskriminierung und auch frühes Heiraten erschwert. Auch lehnt die Mehrheitsbevölkerung den Unterricht ihrer Kinder mit Romakindern oft ab, was auch in Montenegro zu dem Phänomen von Romasonderklassen geführt hat. Zudem erwähnt die Regierung nicht, dass auch studierte Roma kaum Arbeit finden30.

Hinzu kommen die Probleme für Roma aus Kosova. Viele sind staatenlos. Oft existieren keine Dokumente mehr oder haben nie existiert, die ihre Staatsangehörigkeit nachweisen oder mit denen sie einen Aufenthaltstitel in Montenegro erwerben könnten. Damit sind sie vollständig aus der Gesellschaft, das heißt von Bildung, Gesundheitsfürsorge, Arbeit usw., ausgeschlossen. Im Grunde hofft der montenegrinische Staat immer noch auf eine Rückkehr dieser Roma nach Kosova. Viele leben heute immer noch in Flüchtlingslagern vor allem in der Hauptstadt Podgorica. 2012 brande das seit 1999 bestehende Lager in Konik am Rande Podgoricas ab. Hunderte Menschen wurden dadurch obdachlos und mussten monatelang in Zelten leben und erhielten schließlich nur Wohncontainer gestellt. Die Lebensbedingungen in Konik gleichen denen von Slums31.

Albanien

Albanien gilt als eines der ärmsten Länder Europas. Die Armutsquote liegt bei 14 Prozent32, der Durchschnittslohn im staatlichen Sektor liegt bei 377 Euro und die Arbeitslosigkeit bei offiziell circa 18 Prozent33.

Auch die Schattenwirtschaft, d.h. Drogen-, Waffen- und Menschenhandel sind ein Problem in Albanien. Die Elite des Landes gilt als korrupt. Von den neoliberalen Reformen seit dem Sturz des stalinistischen Regimes profitierten vor allem ausländische Konzerne und die im Ausland ausgebildete Elite des Landes.

Amnesty International berichtet von einer weitgehenden Straflosigkeit von Polizeibeamtinnen und -beamten, die Häftlinge misshandeln oder foltern34. Gewalt in der Familie (hauptsächlich gegen Frauen) wird von der albanischen Justiz nur in einem Drittel der Fälle tatsächlich auch strafrechtlich verfolgt35. Flüchtlinge werden inhaftiert oder nach Griechenland zurückgeschickt. Dies auf Druck der EU36.

Prekär ist auch die Situation für Roma, die wie in den anderen besprochenen Ländern des Westbalkan umfassender Diskriminierung ausgesetzt sind. Laut Frankfurter Rundschau kommt selbst das Auswärtige Amt kommt zu der Einschätzung, dass Roma in der Arbeitswelt, der gesundheitlichen Versorgung und im Bildungssystem massiv ausgegrenzt würden37.

Mazedonien

Mazedonien war bereits zu jugoslawischer Zeit die ärmste der Teilrepubliken, seit dem Zerfall Jugoslawiens hat sich die Lage nicht gebessert. Die Arbeitslosigkeit liegt offiziell bei circa 28 Prozent, das durchschnittliche Einkommen bei 345 Euro im Monat38. Zusätzlich verschärft wird die Lage durch die anhaltend hohe Inflation. Mitte 2014 lag diese bei 20 Prozent39.

Außerdem ist Mazedoniens politische Elite durch und durch korrupt und versucht Kritiker mit allerlei Methoden mundtot zu machen. Beispielsweise werden mithilfe des sogenannten Lustrationsverfahrens, dass offiziell dazu dient ehemalige jugoslawische Geheimdienstmitarbeiterinnen und -mitarbeiter zu enttarnen und aus dem Staatsdienst zu entfernen, jegliche Kritikerinnen und Kritiker der Regierung angeschwärzt. Zwischenzeitlich wurde sogar versucht dieses Verfahren auf Journalistinnen und Journalisten oder NGO-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter auszuweiten, was jedoch vom Verfassungsgericht kassiert wurde40. Ein Drittel der anfangs auf Listen veröffentlichten Personen waren selbst Opfer des jugoslawischen Geheimdienstes. Verfahren gegen Mitglieder der konservativen Regierung verlaufen im Sande oder Richter werden ihres Amtes enthoben. Dies bedeutet nicht, dass Illusionen in die sozialdemokratische Partei in Mazedonien oder andere Parteien gerechtfertigt wären. Auch diese gelten als ähnlich korrupt.

Mazedoniens Eliten baut lieber Denkmäler und Monumente um eine nationale Identität zu beschwören, als die Lage der einfachen Bevölkerung zu bessern. Auch wird der seit Jahren schwellende Konflikt zwischen der albanischen Minderheit und der mazedonischen Mehrheit angeheizt und zum Machterhalt genutzt. Im Mai diesen Jahres kam es in der Stadt Kumanovo zu Schießereien zwischen mazedonischem Militär und der Polizei einerseits und vermutlich albanischen Bewaffneten andererseits. Wer die Bewaffneten waren ist weiterhin unklar, doch einiges deutet darauf hin, dass dies von Teilen der konservativen Regierung fingiert war, die nach Korruptions- und Abhöraffären und Massenprotesten für den Rücktritt des Regierungschefs Nikola Gruevski geschwächt ist.

Noch schlechter ist die Lage der im Land lebenden Roma, insbesondere der Roma ohne Papiere, überwiegend aus Kosova. Auch in Mazedonien gibt es das Phänomen der überwiegenden Abschiebung von Romakindern auf Sonderschulen41. Den öffentlichen Zahlen nach sind 70 Prozent der Roma arbeitslos und schlägt sich mit Kleinhandel, Altmetall- und Papiersammeln durch42.

Nur 74 Prozent aller Roma besuchen die Grundschule und nur 27 Prozent eine Sekundarschule verglichen mit 90 und 64 Prozent in der restlichen Bevölkerung. Die Analphabetenrate von Roma liegt allgemein bei 17 Prozent, bei Romafrauen sogar noch höher43. Die Kindersterblichkeit ist unter Roma doppelt so hoch, wie in der Restbevölkerung44.

Auch sind Roma ein bevorzugtes Ziel polizeilicher Schikanen und Gewalt. Beispielsweise wurden im Mai 2014 zwei Romakinder, die fälschlicherweise des Diebstahls bezichtigt wurden, von der Polizei geschlagen. Das ältere der beiden wurde von der Polizei zwei Stunden lang verhört und wies danach Verletzungen im Kopf-, Hals- und Brustbereich auf45.

Seitdem die EU und insbesondere Deutschland Druck auf Serbien und Mazedonien ausübten, damit diese die Zahl von Asylbewerbern aus ihren Ländern verringern, wird vor allem Roma die Ausreise erschwert. Personen, die verdächtigt wurden in der Europäischen Union Asyl zu beantragen, erhielten Stempel oder Markierungen in ihren Pass und wurden gehindert auszureisen. Personen, die aus EU-Staaten abgeschoben wurden, konnte der Pass für ein Jahr entzogen werden, dank einer Änderung des Passgesetzes im Jahre 2011. Abgeschobene verloren nicht nur ihren Pass, sondern auch ihren Anspruch auf Sozialhilfe. Im selben Jahr wurde vom mazedonischen Parlament eine Gesetzesänderung verabschiedet, die „Missbrauch des visafreien Regimes mit den Mitgliedstaaten der Europäischen Union“ unter Strafe stellt. Das heißt ein Asylantrag in der EU wurde damit strafbar. Alle diese Maßnahmen zielten vor allem auf Roma und wurde vor allem selektiv gegen sie angewendet46. Auch wenn das Verfassungsgericht Mazedoniens das Passgesetz 2014 für teilweise verfassungswidrig erklärte47, haben diese Maßnahmen den Antiziganismus in Mazedonien verstärkt.

Ferner werden auch Trans- und Interpersonen sowie Homosexuelle massiv diskriminiert. Homophobie wird von Regierungskreisen geschürt und ist weit verbreitet, das Lesben, Schwulen und Transsexuellenzentrum Skopjes war mehrfach Ziel homophober Angriffe, mazedonische Medien hetzen offen gegen die LGBTIQ-Community, Schwule und Lesben werden offen im Berufsleben benachteiligt und körperliche Attacken, die meist straffrei bleiben, sind häufig48.

Keine sicheren Herkunftsstaaten

Es sollte deutlich geworden sein, dass es mit der vielbeschworenen Sicherheit in den Ländern des westlichen Balkans nicht weit her ist. Selbst wer wirtschaftliche Stagnation und Perspektivlosigkeit nicht als Fluchtgrund anerkennen will, muss einsehen, dass mannigfache Fluchtgründe bleiben. Die umfassende Ausgrenzung bis hin zur Verfolgung der Roma und die Diskriminierung anderer ethnischer Minderheiten, Gewalt gegen Frauen, ein homophobes Klima, welches Repression gegen Homosexuelle und andere sexuelle Minderheiten den Weg ebnet, mafiöse Strukturen, Polizeigewalt und andere Gründe treiben Menschen in den Westbalkanländern in die Flucht.

Der Maßnahmenkatalog der Bundesregierung zum Asylrecht, der neben der Aufnahme Kosovas, Albaniens und Montenegros in die Liste der „sicheren Herkunftsstaaten“ auch längere Zwangsunterbringungen in Erstaufnahmeeinrichtungen, die Kürzung des Taschengeldes für abgelehnte Asylbewerber und eine Ausweitung des Sachleistungsprinzips enthält, wird auch mit den angeblichen „Asylbetrügern“ vom Balkan begründet. Die Bundesrepublik müsse so unattraktiv wie möglich für die „Wirtschaftsflüchtlinge“ gemacht werden. Angesichts der skizzierten westbalkanischen Zustände sind Behauptungen von der Sicherheit dieser Länder blanker Hohn. Bertolt Brecht legte einst seinem Galilei die Worte in den Mund: „Wer die Wahrheit nicht weiß, der ist bloß ein Dummkopf. Aber wer sie weiß, und sie eine Lüge nennt, der ist ein Verbrecher!“. Es gibt Menschen, die vom Westbalkan vertrieben werden. Die Hetzer auf der Straße und im Bundestag behaupten das Gegenteil.

1www.proasyl.de/de/home/gemeinsam-gegen-rassismus/fakten-gegen-vorurteile/ , die Angaben beruhen auf den Statistiken von Eurostat: http://appsso.eurostat.ec.europa.eu/nui/show.do

2http://www.die-linke.de/fileadmin/download/themen/fluechtlinge_willkommen/fakten_und_argumente/asylstatistik_august2015/2015-08-18_ergaenzende_asylstatistik_linke_2015_zweites_quartal.pdf

3http://mediendienst-integration.de/fileadmin/Dateien/Informationspapier_Herkunftslaender_Asyl.pdf

4http://www.ahk.de/fileadmin/ahk_ahk/GTaI/serbien.pdf

5http://mediendienst-integration.de/fileadmin/Dateien/Informationspapier_Herkunftslaender_Asyl.pdf

6http://www.sueddeutsche.de/politik/balkan-harte-heimat-1.2575597

7http://www.proasyl.de/fileadmin/proasyl/Serbien_kein_sicherer_Herkunftsstaat.pdf

8Ebenda.

9http://diefreiheitsliebe.de/balkan21/29878/

10Ebenda.

11http://mediendienst-integration.de/fileadmin/Dateien/Informationspapier_Herkunftslaender_Asyl.pdf

12Amnesty International; Not Welcome Anywhere, Stop the Forced Return of Roma to Kosovo; London 2010, S. 40.

13Ebenda.

14http://www.zeit.de/politik/ausland/2015-02/kosovo-fluechtlinge-beschaeftigungspakt-eu-armut-arbeitslosgikeit

15http://www.zeit.de/politik/ausland/2014-11/kosovo-korruption-eulex

16http://www.alle-bleiben.info/wp-content/uploads/2014/12/kosovo_web.pdf

17http://www.sueddeutsche.de/politik/balkan-harte-heimat-1.2575597

18http://www.swp-berlin.org/de/publikationen/kurz-gesagt/der-bosnische-aufschrei.html

19http://mediendienst-integration.de/artikel/gastkommentar-albert-scherr-bosnien-herzegowina-kein-sicherer-herkunftsstaat-roma-diskriminiert.html

20https://www.hrw.org/report/2012/04/04/second-class-citizens/discrimination-against-roma-jews-and-other-national

21Ebenda.

22Ebenda.

23http://wko.at/awo/publikation/laenderprofil/lp_me.pdf

24http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/Montenegro/Wirtschaft_node.html

25http://www.proasyl.de/fileadmin/fm-dam/q_PUBLIKATIONEN/2014/PRO_ASYL_Gutachten_zu_Einstufung_von_Albanien_und_Montenegro_als_sichere_Herkunftslaender_Juni_2014.pdf

26Ebenda.

27Ebenda.

28Ebenda.

29Ebenda.

30Ebenda.

31Ebenda.

32http://mediendienst-integration.de/fileadmin/Dateien/Informationspapier_Herkunftslaender_Asyl.pdf

33http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/Albanien/Wirtschaft_node.html

34https://www.amnesty.de/jahresbericht/2015/albanien?destination=node%2F2871

35Ebenda.

36Ebenda.

37http://www.fr-online.de/politik/zuwanderung-von-roma-blutrache-und-ausgrenzung,1472596,27040114.html

38http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/Mazedonien/Wirtschaft_node.html

39Ebenda.

40http://www.proasyl.de/fileadmin/fm-dam/NEWS/2014/Pro_Asyl_Gutachten_zum_Vorhaben_der_Einstufung_von_Serbien__Mazedonien_und_Bosnien_und_Herzegowina_als__sichere_Herkunftsstaaten_.pdf

41Ebenda.

42Ebenda.

43Ebenda.

44Ebenda.

45https://www.amnesty.de/jahresbericht/2015/mazedonien?destination=node%2F2979

46http://www.proasyl.de/fileadmin/fm-dam/NEWS/2014/Pro_Asyl_Gutachten_zum_Vorhaben_der_Einstufung_von_Serbien__Mazedonien_und_Bosnien_und_Herzegowina_als__sichere_Herkunftsstaaten_.pdf

47http://www.nds-fluerat.org/14235/aktuelles/verfassungsgericht-mazedonien-passgesetz-z-t-vefassungswidrig-freie-ausreise-ist-menschenrecht/

48http://www.proasyl.de/fileadmin/fm-dam/NEWS/2014/Pro_Asyl_Gutachten_zum_Vorhaben_der_Einstufung_von_Serbien__Mazedonien_und_Bosnien_und_Herzegowina_als__sichere_Herkunftsstaaten_.pdf