Debatte über die Perspektiven des Kampfes um Demokratie in Hong Kong und die Krise in China
Am 10. und 11. Oktober hat in Hong Kong ein Treffen stattgefunden, das eine unheimlich große Bedeutung hat und vom sehr niedrigen Durchschnittsalter der TeilnehmerInnen gekennzeichnet war. Es war die zweite Konferenz der Sektion des Komitees für eine Arbeiterinternationale (CWI), die in China, Hong Kong aber auch Taiwan arbeitet. Die Konferenz, die auf drei Sprachen (Mandarin, Kantonesisch und Englisch) abgehalten wurde, war Ausdruck des multinationalen Charakters des CWI in China und der Region. Von Taiwan bis Indonesien waren TeilnehmerInnen mit acht verschiedenen Staatsangehörigkeiten angereist, die am Ende gemeinsam „Die Internationale“ gesungen haben, was in so vielen Sprachen eine echte Leistung war. Der Spendenappell erbrachte eine Summe von 4.990 Hong Kong-Dollar (circa 560 Euro), was ebenfalls ein starkes Zeichen dafür ist, dass es das CWI in China, Hong Kong und Taiwan wirklich ernst meint.
Von Dikang, www.chinaworker.info (Internetportal für China und Südostasien des Komitees für eine Arbeiterinternationale)
Für SozialistInnen war das letzte Jahre ein sehr turbulentes. Es war das Jahr, in dem die Regenschirm-Revolution“ genannte Massenbewegung in Hong Kong ihr Ende gefunden hat und in dem die Stoßwellen, die von der Wirtschaftskrise in China ausgehen, die gesamte Weltwirtschaft in Beschlag genommen haben.
„Die Regenschirm-Revolution war die größte Massenbewegung in Hong Kong seit 1989“, sagte Sally Tang Mei-ching, die den Arbeitskreis zu Hong Kong mit einem Referat einleitete. In der Zeit nach diesem gesellschaftlichen Kampf hat sich die soziale Krise zugespitzt, so Sally weiter. „Die 25 reichsten Industriellen kommen zusammengenommen auf ein Privatvermögen von 1,5 Billionen Hong Kong-Dollar (circa 17 Milliarden Euro), eine Summe, größer als das finanzielle Polster der Regierung von Hong Kong“, meinte Sally. Die Anzahl der sogenannten „working poor“ (dt.: „Arme trotz Arbeit“) steigt trotz der Behauptungen der Regierung, dass die Armut zurückgehen würde. Das liegt daran, dass das offizielle Niveau so niedrig angesetzt wird.
Die „Regenschirm-Revolution“ ist ohne Erfolg geblieben. Das Ziel, das allgemeine Wahlrecht durchzusetzen, wurde nicht erreicht, weil das nicht weniger als einen revolutionären Sturz der Diktatur in China und des kapitalistischen Systems erfordern würde, auf die sich die sogenannte Kommunistische Partei Chinas (KPC) stützt. Die wichtigsten führenden Köpfe dieser Bewegung – von den „pan-demokratischen“ Gruppierungen, über die Studierenden bis hin zu den NGOs – haben kein Programm vertreten, mit dem ein solcher fundamentaler Wandel möglich gewesen wäre. Die Strategie der Besetzungen hat für diese Aufgabe einfach nicht ausgereicht.
Seit die Bewegung nachgelassen hat, herrscht eine unbehagliche Patt-Situation. Die Regierung investiert viel in einen Zermürbungskrieg, in dem sie von repressiven Maßnahmen Gebrauch macht. Dazu gehört etwa eine Blockade bei der Ernennung des Pan-Demokraten Johannes Chan Man-mun zum Vize-Kanzler der Universität von Hong Kong. Wie Sally aber erklärte, ist sich die Regierung selbst nicht sicher, ob sie kurzfristig beim Thema des Paragrafen 23 wirklich weiter vorpreschen soll. Hierbei geht es um die sogenannte „innere Sicherheit“, und die Regierung fürchtet, dass dadurch erneut eine Massenbewegung hervorgebracht werden könnte.
Nathan aus Hong Kong berichtete über die wichtige Arbeit, die Socialist Action (Schwesterorganisation der SAV und Sektion des CWI in Hong Kong) bei der Unterstützung der WanderarbeiterInnen und Flüchtlinge geleistet hat. Die jüngsten Proteste von Hausangestellten aus dem Ausland hat erneut ein Licht darauf geworfen, wie ungerecht und diskriminierend das Arbeitsrecht in Hong Kong angelegt ist.
„Im September sind MigrantInnen auf die Straße gegangen, um eine Anhebung des Mindestlohns auf 4.500 Hong Kong-Dollar im Monat ( circa 510 Euro) einzufordern. Für hiesige ArbeiterInnen liegt der Mindestlohn allerdings höher: 6.149 Hong Kong-Dollar monatlich (circa 710 Euro). Weil es noch immer kein Gesetz über die einheitlichen Arbeitszeiten in Hong Kong gibt, ist es für AusländerInnen hier normal, sechzig, siebzig oder mehr Stunden in der Woche zu arbeiten. Die Regierung hat demgegenüber lediglich einer Anhebung um hundert Hong Kong-Dollar (virca elf Euro) auf 4.110 Hong Kong-Dollar monatlich (circa 465 Euro) zugestimmt. Das bedeutet, dass die Löhne für ausländische Arbeitskräfte in 17 Jahren nur um 250 Hong Kong-Dollar (circa 28 Euro) gestiegen sind“, erklärte Nathan.
China
„Im vergangenen Jahr hat China alle fünf Minuten einen neuen Milliardär hervorgebracht, und jeden fünften Tag sind 41.000 Bäuerinnen und Bauern von ihrem Land vertrieben worden, 22.000 Menschen starben an den Folgen der Luftverschmutzung und bei Arbeitsunfällen sind 930 ArbeiterInnen ums Leben gekommen“.
Diese Informationen trug Pasha zur Diskussion bei, der zu einem der größten Arbeitskreise der Konferenz, bei der Debatte zu China, das Einleitungsreferat hielt. GenossInnen aus vom chinesischen Festland nahmen per Video-Schaltung an der Konferenz teil.
2013 sind die Löhne der gigantischen Schar an WanderarbeiterInnen in China um 13,9 Prozent gestiegen, erklärte Pasha, während die Lebenshaltungskosten pro Kopf um 21,7 Prozent in die Höhe geschnellt sind. Das ist hauptsächlich auf den Anstieg der Wohnkosten zurückzuführen, die für WanderarbeiterInnen mittlerweile rund die Hälfte der gesamten Lebenshaltungskosten ausmachen. Und das war die Situation, bevor die Wirtschaftskrise dieses Jahr mit voller Wucht eingeschlagen hat.
Der Abschwung hat zu einem starken Anstieg bei den betrieblichen Auseinandersetzungen geführt. In den ersten neun Monaten dieses Jahres ist es zu 1.642 Streiks gekommen, verglichen mit 1.379 Arbeitsniederlegungen im gesamten Jahr 2014 und 656 im Jahr davor, zählte Pasha auf. Der Viertel der Streiks, zu denen es in diesem Jahr bereits gekommen ist (also 1.211 an der Zahl), hatten mit dem Problem nicht ausgezahlter Löhne zu tun.
Pasha beschrieb die Folgen des Crashs, der den Wert der chinesischen Börsen um mehr als vierzig Prozent hat schrumpfen lassen. Dies sei lediglich ein Symptom für eine viel tiefgreifendere wirtschaftliche Krankheit, die sich in Rekord-Schuldenständen, Überkapazitäten in der Produktion und Deflation widerspiegelt, so meinte er.
Gary, ein junger Werkstattarbeiter, sagte, dass Chinas offizielle Gewerkschaften die Interessen entweder im Sinne der Unternehmensprofite oder der staatlichen Sicherheit bzw. „Stabilität“ vertreten. Deshalb sei das Ansehen der offiziellen Gewerkschaften auch so schlecht. Der Streik der ArbeiterInnen bei Fushun Honda im Jahr 2010 war so etwas wie ein Wendepunkt. Seither würde der Begriff der „schwarzen Gewerkschaft“ (die mit der Polizei verbündet ist) die Runde machen. Eine „schwarze Gewerkschaft“ ist schlimmer als eine „gelbe Gewerkschaft“ (die mit der jeweiligen Unternehmensführung gemeinsame Sache macht).
Gary ging auch auf eine Umfrage unter FabrikarbeiterInnen in der Provinz Guangdong ein, mit der die Propaganda des Regimes der KPC widerlegt wird, die unter anderem behauptet, dass ArbeiterInnen nun in der Lage seien, ihre lokalen Gewerkschaftsvorsitzenden wählen zu können. Die Erhebung zeigte vielmehr, dass 82 Prozent der Beschäftigten nicht wissen, wer an der Spitze der Gewerkschaft steht und 95 Prozent noch nie an einer derartigen Abstimmung teilgenommen haben.
Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die sich mit Arbeitnehmerfragen befassen, haben eine immer größer werdende Rolle bei der Unterstützung und Beratung von Beschäftigten geführt, die sich im Kampf befinden. „Die NGOs haben gesagt, dass die ArbeiterInnen, wenn sie nicht radikal sind und die Regierung nicht herauszufordern versuchen, auch keine Repression zu befürchten hätten“, so Gary. Seine Schlussfolgerung lautete hingegen: „Jetzt sieht es aber so aus, dass die reformistischen NGOs selbst Repressionen erleiden und sogar verboten werden. Es gibt also keine Alternative zu einem radikalen Vorgehen“.
Nationalismus auf dem Vormarsch
Ebenfalls wurde bei dieser Konferenz diskutiert, wie SozialistInnen sich zur nationalen Frage und hinsichtlich zunehmender Forderungen nach Selbstbestimmung verhalten sollten. Wir haben es hierbei mit einem Thema zu tun, dem man nicht entkommt, wie die Ereignisse auf internationaler Ebene, so zum Beispiel der Bürgerkrieg in der Ukraine, die Annektion der Krim, die zunehmende Stimmung gegen die Austerität im Zuge des schottischen Unabhängigkeitsreferendums, die Entwicklungen in Katalonien und andernorts, zeigen.
Jaco aus Hong Kong erklärte, dass der Sieg der Arbeiterklasse in der Russischen Revolution nur deshalb möglich war, weil deren Führer Lenin und Trotzki sehr behutsam mit den nationalen Ansprüchen der Minderheiten in Russland umgegangen sind. Indem das Recht auf Separation und Abtrennung zugestanden worden ist, wenn das der Wunsch der entsprechenden Volksgruppe war, konnten die Führer der Russischen Revolution die unterdrückten Nationalitäten für sich und die Idee einer freiwilligen sozialistischen Revolution gewinnen.
„In China fördert Xi Jinping den Nationalismus der Han-ChinesInnen, um auch darüber seine Herrschaft zu zementieren. Die zunehmende Repression gegen ethnische Minderheiten, wozu auch die Repression auf kultureller Ebene vor allem in Tibet und Xinjiang zählt, Polizeikontrollen religiöser Einrichtungen, das Verbot von bestimmten Kleidungsmerkmalen und religiösen Regeln verstärkt die Spannungen und bereitet den Boden des Terrorismus“, sagte er. Die Verbrechen an der Umwelt, die vom Regime Chinas in Tibet und anderen von Minderheiten geprägten Regionen verübt werden (darunter auch der Bau von riesigen Staudämmen) lässt den Ruf nach Unabhängigkeit ebenfalls stärker werden.
Die an den Han-ChinesInnen ausgerichtete nationalistische Agenda von Xi und die Tatsache, dass Chinas ökonomische Macht zunimmt, geben dem zunehmenden Verlangen nach Unabhängigkeit – vor allem unter den jungen Leuten dort – neue Nahrung. Gleichzeitig kann die nationale Frage nicht auf der Grundlage des Kapitalismus gelöst werden, vor allem nicht in einer Epoche, die von Krisen und kapitalistischem Abschwung gekennzeichnet ist. „Das heutige Taiwan befindet sich so nah an der Unabhängigkeit wie es auf kapitalistischer Grundlage nur geht. Dabei steht das Land unter permanentem Druck von Seiten Chinas“, so Jaco. „Dem Lager, das die Unabhängigkeit anstrebt und selbst seiner eher links eingestellten Flanke mangelt es an einer antiimperialistischen Perspektive. Man fokussiert sich darauf, Namen und Bezeichnungen oder die Verfassung zu ändern, ist aber nicht in der Lage, die Frage aufzugreifen, welche ökonomische Klasse und welche Staaten die Macht ausüben und welche Art von Bewegung fähig wäre, ein Ausweg anzubieten. Nach unserer Vorstellung kann das nur eine sozialistische Bewegung leisten.“
Vincent aus Taipeh skizzierte die vielen verschiedenen Stränge, die – oftmals mit vollkommen wirren Ideen im Gepäck – innerhalb des taiwanesischen Lagers existieren, die für die Unabhängigkeit sind. Es gibt da rechtsgerichtete Kräfte, so sagte er, deren Unterstützung für die Unabhängigkeit auf ihrem Verlangen gründet, einen „normalen Staat“ zu haben, der von Seiten des US-amerikanischen und japanischen Imperialismus Unterstützung haben will. Und innerhalb dieses rechten Flügels ist wiederum eine rassistische Schicht vorhanden, die auf rohe „Argumente“ gegen Festland-ChinesInnen zurückgreift.
Außerdem besteht eine größer werdende linksgerichtete Schicht, die für die Unabhängigkeit Taiwans ist. Sie findet sich vor allem unter der jungen Generation und diese treibt eine allgemein als korrekt zu bezeichnende linke bzw. antikapitalistische Kritik gegen die Regierung unter Ma ins Feld. Dabei gehe es beispielsweise gegen das für China äußerst vorteilhafte Handelsabkommen, so Vincent weiter. Doch dieselben Gruppen haben eine widersprüchliche und wirre Haltung zu anderen Aspekten wie zum Beispiel der Remilitarisierung Japans, die sie fälschlicherweise als dienliches Mittel gegen den chinesischen Staat betrachten.
SozialistInnen betonen, dass es nur die Arbeiterklasse ist, die unabhängig von allen kapitalistischen Regierungen und Parteien handeln, sowie Verbindungen auf internationaler Ebene knüpfen kann, mit denen der Kapitalismus bezwungen und auf diesem Weg tatsächliche Selbstbestimmung erreicht werden kann. Das CWI unterstützt das Recht auf Selbstbestimmung für Taiwan als Teil eines Asien-übergreifenden und globalen Kampfes gegen Kapitalismus – für eine freiwillige sozialistische Föderation in Südostasien und darüber hinaus.
Andere Debatten bei der Konferenz befassten sich mit der Wahlkampagne von „Socialist Action“ in Hong Kong (hier: Bezirksrat des Distrikts Sham Shui Po) und dem Parteiaufbau. Tony Saunois vom Internationalen Sekretariat des CWI leitete eine Diskussionsrunde zu den Weltperspektiven mit einem Referat ein, dass er per Video-Schaltung aus London hielt. Die TeilnehmerInnen waren sich einig, dass die Diskussionen bei dieser Konferenz dabei geholfen haben, unsere politische Analyse zu schärfen und eine sehr gute Basis für den Aufbau der Kräfte zu schaffen, die in China und der umliegenden Region für wirklichen Sozialismus kämpfen.