Historischer Handschlag zwischen Barack Obama und Raúl Castro, Aufruhr in Venezuela, abgewürgte Reformen in Bolivien und die Krise in Brasilien … Steht all dies für eine erneute Wende in Südamerika und den Ländern der Karibik?
von Tony Saunois, aus der Mai-Ausgabe der „Socialism Today“, Monatsmagazin der „Socialist Party“ (Schwesterorganisation der SAV und Sektion des CWI in England & Wales)
Das historische Handeschütteln zwischen Barack Obama und Raúl Castro, das politische wie auch wirtschaftliche Durcheinander in Venezuela, die abgewürgten Reformen in Bolivien und die Krisen, von denen Brasilien in letzter Zeit heimgesucht wird … Das alles symbolisiert eine neue Wende in Lateinamerika und den Ländern der Karibik. Doch in welche Richtung wird dies führen? Wenn die sozialen Kämpfe der ArbeiterInnen und Unterdrückten einen neuen Aufschwung nehmen, dann steht uns eine neue unbeständige Phase bevor, so TONY SAUNOIS in seinem Artikel aus der „Socialism Today“ (Ausgabe: Mai 2015).
Lateinamerika ist in eine neue Phase eingetreten, die von Wirtschaftskrisen, politischem Durcheinander und sozialem Aufruhr gekennzeichnet ist. Die hohen Erwartungen, die durch die radikal-reformistischen Regierungen in Venezuela, Bolivien und Ecuador geweckt worden sind, sind der Krise und der Enttäuschung gewichen. Die Ankündigungen von Hugo Chávez und Evo Morales, die einen Weg zum Sozialismus versprochen hatten, sind nicht mit einem Bruch mit dem Kapitalismus einhergegangen. Der Aufbau einer sozialistischen Alternative ist ausgeblieben. Dadurch ist es möglich geworden, dass die Reformen, die von ihnen eingeführt worden sind, wieder rückgängig gemacht werden. Aktuell sind erneut wirtschaftliche wie auch soziale Auflösungserscheinungen zu verzeichnen.
Länder wie Brasilien und Chile, wo unter Lula und nun unter Dilma Rousseff bzw. unter Michelle Bachelet „Mitte-Links“ regiert, sind ebenfalls in eine neue Phase eingetreten, die von Krisen gekennzeichnet ist. In beinahe unvorstellbarem Ausmaß befinden sich die meisten Regierungen – von Mexiko im Norden bis Argentinien im Süden – fest im Griff von Korruption und politischer Krise.
Seit mehr als zehn Jahren erlebte der Kontinent rasches Wachstum und wirtschaftlichen Aufschwung. Die Regierungen Brasiliens und Argentiniens strebten das Etikett „Staat der Ersten Welt“ an. Eine immer größer werdende Mittelschicht und steigende Lebensstandards für viele ArbeiterInnen und (vor allem in Brasilien) sogar für die Ärmsten der Armen führte etliche KommentatorInnen dazu, diese Perspektive zu übernehmen. Über ein Jahrzehnt lang verzeichnete Argentinien ein jährliches Wirtschaftswachstum von fünf Prozent bis sieben Prozent!
In einigen Fällen erlaubte dieses Wachstum den o.g. „Mitte-Links“-Regierungen die Einführung einiger Reformen und die Hebung des Lebensstandards für einen Teil der ArbeiterInnen. Allerdings bekamen auch in Aufschwung-Phasen Millionen von Menschen kaum etwas oder gar nichts davon ab und waren weiterhin gezwungen ein Leben in Armut zu fristen. Dieses Wachstum ist nun schlagartig zu einem Ende gekommen. Zuvor war es noch durch steigende Preise für Rohstoffe und Exporte nach China befeuert worden. Der steil anwachsende Markt in China hatte Öl, Gas, Kupfer, Soja und andere Naturschätze, die in Südamerika zu Hauf vorhanden sind, dringend nötig. Chile, das reich an Kupfer ist, lieferte 40 Prozent seiner Exporte nach China. Der Kupfer-Preis vervierfachte sich auf vier Dollar für ein halbes Kilo. Ähnlich verhielt es sich mit dem Öl und anderen Rohstoffen.
Die Abkühlung der chinesischen Wirtschaft hatte drastische Auswirkungen auf die Rohstoffausfuhren, und die Preise gingen in den Keller. Das hatte auf wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und auch auf politischer Ebene verheerende Folgen. Die Aufschwung-Zeiten und somit auch die Perspektiven für Länder wie Brasilien, die doch eigentlich dem Club der „Ersten Welt“ beitreten wollten, stellten sich wieder einmal als Luftschlösser heraus. Plötzlich stand auf dem gesamten Kontinent eine neue Ära aus Krisen und Klassenkampf bevor. Brasiliens Wirtschaft wird nun schon das zweite Jahr in Folge einen Rückgang verzeichnen (für 2015 geht man von einem Minus von bis zu einem Prozent aus). Das Land steht vor seinem heftigsten Abschwung seit 1932. Auch Argentinien befindet sich in einer tiefen Rezession und in Chile hat sich die Lage merklich abgekühlt.
Dass sich diese Staaten während des Booms derart abhängig gemacht haben von den Rohstoffexporten, hat zur zunehmenden De-Industrialisierung in diesen Ländern geführt. Das wiederum wird sie umso schwächer dastehen lassen als zuvor, und das CWI hat diese Gefahr damals nicht unkommentiert gelassen. Der Anteil der Produktion an der Wirtschaftsleistung Gesamt-Lateinamerikas geht seit über einem Jahrzehnt kontinuierlich zurück. Im Vergleich zu den 1980er Jahren (damals lag der Anteil bei 52 Prozent) lag der Anteil der Rohstoffexporte in den 1990er Jahren bei nur noch 27 Prozent. Heute entfallen wieder mehr als 50 Prozent auf die Rohstoffexporte. Die Ausfuhren Brasiliens bestehen zu 60 Prozent aus dem Verkauf von Rohstoffen. In Venezuela gehen 96 Prozent der Exporteinnahmen auf die Ausfuhr von Öl zurück. Angaben des Harvard-Analysten Dani Rodrik zufolge hat die Rolle, die China in Südamerika spielt, zu einer „voreiligen De-Industrialisierung“ des Kontinents geführt.
Dass diese neue Krisen-Ära den Kontinent ausgerechnet dann befällt, da in so vielen Ländern linksgerichtete oder „Mitte-Links“-Regierungen das Zepter in der Hand halten, hat innerhalb der Linken Südamerikas für viel Verwirrung gesorgt. Dadurch fragen sich viele, ob der Kontinent nach rechts gerückt ist. Schließlich haben traditionell rechtsgerichtete und kapitalistische Kräfte auf populistische Art und Weise versucht, Kapital aus der Situation zu schlagen. Das ist ein Prozess, der durch die drohende kapitalistische Restauration in Kuba offenbar noch verstärkt wird. Jonathan Watts von der britischen Tageszeitung „The Guardian“ stellte diese Frage in seinem Artikel „Scandals, Protests, Weak Growth: Is Latin America’s Left in Retreat?“ (dt.: „Skandale, Proteste, schwaches Wachstum: Befindet sich Südamerikas Linke auf dem Rückzug?“, 22. März 2015). Darin kommt er zu der Schlussfolgerung: „Der Linksruck sieht heute wesentlich düsterer aus als noch vor zehn Jahren, aber vorbei ist er noch nicht“.
Dabei haben Regierungen wie die unter Lula bzw. Rousseff in Brasilien oder unter Christina Kirchner in Argentinien keine linke Politik umgesetzt. Sie haben eine pro-kapitalistische Politik vertreten, die anfangs mit einigen Zugeständnissen versehen war. In Venezuela sind Chávez und vor allem sein Nachfolger Nicholás Maduro aber auch Morales in Bolivien Opfer ihres Fehlers geworden, nicht mit dem Kapitalismus gebrochen zu haben. Stattdessen haben sie lediglich bedeutungsvolle Reformen umgesetzt, die nun unter Beschuss geraten. In jüngster Zeit sind diese Regierungen zu einer noch kapitalistischeren Politik zurückgekehrt und somit heftigst nach rechts gerutscht.
Unglaubliches Ausmaß an Korruption in Brasilien
Die um sich greifende Gefahr und die Unzufriedenheit, die sich breit macht, hat es einigen traditionellen Parteien der Rechten ermöglicht, auf das Mittel populistischer Proteste und Kampagnen zurückzugreifen und darüber an Unterstützung zu gewinnen. Das ist zwar kein Beleg für einen Rechtsruck in der Gesellschaft. Es zeigt aber, dass eine einflussreiche sozialistische Alternative für die Massen fehlt. Dadurch war es einigen Formationen der populistischen Rechten möglich, in das sich auftuende Vakuum hineinzustoßen. Ganz deutlich zutage tritt diese Entwicklung im Falle der umfassenden Krise, zu der es in Brasilien gekommen ist.
Brasilien hat es mit einer vielschichtigen Krise zu tun, die in einen „veritablen Orkan“ münden könnte, was zu massiven, beispiellosen sozialen und politischen Erschütterungen führen kann. Den entstandenen sozialistischen, linken Kräften wie PSOL („Partido Socialismo e Liberdade“; dt.: „Partei für Sozialismus und Freiheit“) und der Obdachlosenbewegung MTST („Movimento dos Trabalhadores Sem Teto“; dt.: „Bewegung der ArbeiterInnen ohne Dach“) wird dies große Möglichkeiten bieten, um stärker zu werden und eine einflussreiche sozialistische Alternative aufzubauen. Die Wirtschaftskrise hat zu Kürzungen, Entlassungen und Angriffen auf die Arbeiterklasse und die Mittelschicht geführt. Dies hat in diesem Jahr eine regelrechte Protestwelle hervorgerufen. Beschäftigte im öffentlichen Dienst, LehrerInnen, AutobauerInnen und MetallerInnen waren allesamt an Streiks und sozialen Kämpfen beteiligt. In Paraná zwang ein unbefristeter Streik der Beschäftigten im öffentlichen Dienst die Regierung des Bundesstaates dazu, ihr Kürzungspaket wieder zurückzunehmen. ArbeiterInnen bei „Volkswagen“ und „General Motors“ konnten mit ihrem Streik gegen Kündigungen einen Teil-Erfolg erzielen.
„Petrobras“, Brasiliens Öl-Gigant, steht im Zentrum eines äußerst brisanten Korruptionsskandals, der die Bezüge der britischen Abgeordneten fast schon mickrig erscheinen lässt. Bis zu 10 Milliarden US-Dollar sind aus dem Konzern geschleust und in Form von Schmiergeldern an Bauunternehmen sowie als Spenden an Parteien geflossen. Vor allem betroffen ist davon die PT („Partido dos Trabalhadores“; dt.: „Partei der ArbeiterInnen“) von Rousseff und Lula. Ein Manager hat bereits zugestimmt, 100 Millionen Dollar zurückzahlen zu wollen, die er auf ausländische Konten umgeleitet hatte.
103 Personen sind angeklagt worden und gegen 33 Mitglieder der PT sowie aus der Koalition von Rousseff werden Ermittlungen geführt. João Vaccari, der Schatzmeister der PT, sitzt in Haft und wurde zum Rücktritt gedrängt. Gegen mehr als 40 Politiker ist Anklage erhoben worden, darunter die Vorsitzenden beider Kammern des Parlaments. Der größte Koalitionspartner in der Regierung Rousseffs lehnte es vor kurzem ab, eine Präsidial-Vorlage im Kongress zu unterstützen, weil ein führender Kopf dieser Partei nicht von den Untersuchungen wegen Korruptionsverdachts verschont worden ist! Auch der Wahlkampf von Rousseff zur Präsidentschaftswahl 2010 ist Berichten zufolge mit Geld finanziert worden, das auf Korruption zurückgeht. Angaben der Bundespolizei zufolge laufen Untersuchungen gegen zehn große Baukonzerne. Dieser Skandal und das Einsetzen der wirtschaftlichen wie auch der sozialen Krise haben dazu geführt, dass so gut wie niemand mehr Vertrauen ins politische System und seine Vertreter hat.
Zu allem Übel steht auch noch eine drohende große Dürre ins Haus, von der der Süden des Landes (und vor allem São Paulo) betroffen ist. Für Millionen von Menschen wird das Wasser rationiert und es droht eine schwerwiegende humanitäre Katastrophe in einem der größten urbanen Zentren der Welt. Das größte Reservoir, mit dem São Paulo mit Trinkwasser versorgt wird, hatte 2014 noch Kapazitäten von 39 Prozent. In diesem Jahr ist das Volumen auf 19,4 Prozent zurückgegangen. Und da ist die „Todes-Reserve“ (port.: „volume morto“), eine Not-Ration, für die ein besonderes und teures Aufbereitungsverfahren nötig ist, bereits mit eingerechnet.
Eine neue Welle an sozialen Kämpfen
Die jetzige Situation ist die direkte Folge von Privatisierungen und des Kahlschlags. Fehlende Investitionen in die Infrastruktur (Schätzungen gehen davon aus, dass bis zu 30 Prozent des Trinkwassers in São Paulo aufgrund von schadhaften Leitungen im Erdboden versickern) haben die Krise beschleunigt. Das hat schon vor gut zehn Jahren angefangen schief zu laufen. Weder die Regierungen der Bundesstaaten noch die Zentralregierung haben daran etwas getan. Und die jetzt privatisierten Wasserkonzerne gehen das Problem natürlich ebensowenig an. Es ist bereits zu Protesten gekommen, und in den kommenden Monaten wird dieses Thema weiter in den Fokus rücken.
Vor drei Monaten hat Rousseff es geschafft, gerade so im Amt bestätigt zu werden. In den Umfragen ist sie von 25 Prozent Zutimmung auf 13 Prozent abgesackt. Das ist der niedrigste Wert seit der Massenbewegung gegen den ehemaligen Präsidenten Fernando Collor de Mello, den ein Staatsoberhaupt erreicht hat. De Mello ist 1992 aus dem Amt geworfen worden und sah sich mit einem Amtsenthebungsverfahren aufgrund von Korruption konfrontiert. Die traditionell rechte und pro-kapitalistische PSDB („Partido da Social Democracia Brasileira“; dt.: „Sozialdemokratische Partei Brasiliens“) hat die jüngsten Entwicklungen auf populistische Weise ausgenutzt, um eine Kampagne für ein Amtsenthebungsverfahren gegen Rousseff zu starten. Im Anschluss daran ist es zu Massenprotesten gekommen, die im Wesentlichen von der Mittelschicht dominiert waren und die von der politischen Rechten initiiert worden sind. Viele der TeilnehmerInnen an diesen Protesten gehören nicht zur Stammwählerschaft der Rechten. Bei ihnen handelt es sich um Menschen, die einfach in Rage sind wegen der Dinge, die in letzter Zeit bekanntgeworden sind – vor allem wegen der Korruption.
Analog dazu haben PT und die Regierung versucht, die ArbeiterInnen zu mobilisieren, die die PT traditionell unterstützt haben. Diese Entwicklungen haben zu unheimlicher Verwirrung geführt, bei der es breite Schichten ablehnen, die führenden Köpfe der PT zu unterstützen. Es ist auch auf die Arbeit von LSR („Liberdade Socialismo e Revolução“, der Schwesterorganisation der SAV und Sektion des CWI in Brasilien) zurückzuführen, dass es abgesehen davon Proteste gegeben hat, bei denen die Forderung nach sozialen Reformen aufgestellt und Widerstand gegen die Regierung geleistet wurde aber bei denen die traditionell rechten und pro-kapitalistischen Parteien genauso zurückgewiesen worden sind. Am 15. April versammelten sich bis zu 30.000 Menschen in São Paulo zu einer Kundgebung, die anfangs vom MTST und der PSOL, später aber auch mit stärkerer Unterstützung des Gewerkschaftsbündnisses CSP-Conlutas organisiert wurde. Als Indiz für den Druck von unten, war der offizielle Gewerkschaftsbund CUT gezwungen, den Protest ebenfalls zu unterstützen, der somit zum landesweiten Aktionstag wurde. Es kam zu Protesten und Streiks auch in Porto Alegre, Recife und vielen anderen Städten.
Mittlerweile wird auch die Frage eines eintägigen Generalstreiks diskutiert, die seit einiger Zeit von LSR in die Diskussion eingebracht wird. So fordert CSP-Conlutas korrekter Weise, dass umgehend ein Termin für einen solchen Generalstreik-Tag benannt werden muss. Seit dem Beschluss über ein arbeitnehmerfeindliches Gesetz, das prekäre Beschäftigung erleichtert, unter zunehmendem Druck stehend sieht sich die CUT zum ersten Mal seit etlichen Jahren gezwungen, die Idee eines Generalstreiks in der Zukunft zu unterstützen. Diese Entwicklungen in Brasilien, dem wirtschaftlichen wie politischen Koloss des südamerkanischen Kontinents, werden aller Voraussicht nach für den gesamten Kontinent nicht folgenlos bleiben. Das gilt vor allem, wenn PSOL und die sozialen Bewegungen wie die MTST in der Lage sein werden, eine mächtige sozialistische Alternative zur Regierung und der rechten pro-kapitalistischen Opposition aufzubauen.
Auch Argentinien steckt fest in einer verheerenden ökonomischen Situation. Kirchner hat zwar zu Hause einen klar pro-kapitalistischen Kurs eingeschlagen, ist aber auf internationaler Ebene mit den Interessen des Imperialismus in Konflikt geraten. Ihr Privatvermögen hat sie seit 2003 verzwanzigfacht! Von großer Bedeutung ist, dass das trotzkistische Bündnis FIT („Frente de Izquierda y de los Trabajadores“; dt.: „Front der Linken und der ArbeiterInnen“) auf der Wahlebene spürbar zulegen konnte. Das straft die Ansicht Lügen, wonach der Kontinent nach rechts driftet. Allerdings stellt der Erfolg der FIT, den das CWI begrüßt, auch eine neue Herausforderung dar. Wird dieses Bündnis in der Lage sein, an den bisher erzielten Erfolgen anzuknüpfen und durch den Aufbau einer breit aufgestellten Partei der Arbeiterklasse auch diejenigen Teile aus ehemaligen peronistischen ArbeiterInnen und GewerkschafterInnen erreichen?
Auch in Chile, dem „Musterland“ des Kontinents, ist eine neue Ära angebrochen. Am 18. April sind 150.000 junge Leute auf die Straße gegangen, um ihren Kampf für kostenlose bildung fortzusetzen und die politische Elite anzugreifen, die ebenfalls in einem Sumpf aus Korruption und Skandalen steckt. Die Wirtschaft kühlt sich ab, was auch auf die sinkenden Kupfer-Preise und zurückgehende Exporte nach China zurückzuführen ist. Michelle Bachelet und ihre „Neue Mehrheit“ haben die Wahlen gewonnen, indem sie Reformen versprochen haben, von denen seither keine einzige umgesetzt worden ist. Der Autoritätsverlust der etablierten Parteien und des politischen Systems spiegelte sich in den Wahlen von 2013 wider. Nur 41 Prozent der 13 Millionen Wahlberechtigten haben daran teilgenommen. Dies ging mit einer massiven Jugendrevolte einher. Zudem begann sich eine neue Welle an Arbeiterkämpfen aufzubauen. Dabei kam es zu heftigen und gewalttätigen Zusammenstößen, an denen sich auch die indigene Minderheit der Mapuche beteiligte.
Regime in Venezuela steht unter Druck
In Venezuela stellt die rechte MUD („Mesa de la Unidad Democrática“) eine echte Gefahr für die Regierung Maduro dar. Die Führung unter Henrique Capriles hat eine extrem populistische Herangehensweise angenommen, mit der sie versucht, aus der massiven Unzufriedenheit, die aufgrund der wirtschaftlichen Lage besteht, Kapital zu schlagen. Und trotz seiner Bezugnahme auf den „Sozialismus“ rückt Maduro immer weiter nach rechts. Auf diese Weise meint er, den Kapitalismus besänftigen zu können. Die Rechte oder den US-Imperialismus beeindruckt dies jedoch wenig. Diese Kräfte wollen weiterhin den Sturz der Regierung.
Dieser Rechtsruck manifestiert sich in der Neubesetzung der Geschäftsführung beim staatlichen Öl-Riesen PDVSA unter Eulogio del Pino. Die privaten Minderheitseigner, die in Joint Ventures wiederzufinden sind, bekommen größeren Einfluss. Symbolisch dafür steht die Tatsache, dass die ArbeiterInnen bei PDVSA nicht länger angehalten sind rote T-Shirts zu tragen. Die politischen Vertreter im Unternehmen sind verbannt worden.
Die ökonomische Katastrophe hat sich durch den Fall des Ölpreises enorm verschlimmert. Es ist davon auszugehen, dass die Wirtschaft in diesem Jahr um fünf Prozent zurückgehen wird. Schon im letzten Jahr war es zu einem Minus von vier Prozent gekommen. In allen Bereichen kommt es zu Kürzungen. Schätzungen gehen davon aus, dass ein Drittel der Güter des Grundbedarfs nicht mehr erhältlich sind. Dazu zählen auch Lebensmittel, Medikamente und Kleidung. Es gibt Info-Tafeln, auf denen die Menschen Toilettenpapier gegen Waschmittel eintauschen. Mit 70 Prozent befindet sich Venezuela fest im Griff einer der höchsten Inflationsraten weltweit.
Diese Trends tragen dazu bei, die Unterstützung für die Regierung weiter auszuhöhlen. Teilweise sind die Kürzungen auf die Spekulation der Kapitalisten und darauf zurückzuführen, dass diese enorme Summen an Kapital horten. Damit wird versucht, das Land weiter zu destabilisieren. Allerdings resultieren die Einschnitte auch aus dem Ansatz der Regierung, die nur von oben nach unten nach dem „Top-Down-Prinzip“ durchregiert. Die Reformen von Chávez sind sehr stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Das Gesundheitssystem befindet sich in einer absoluten Krisensituation. Von 45.000 Betten in öffentlichen Krankenhäusern kann wegen der Kürzungen nur auf 16.000 zurückgegriffen werden.
In Meinungsumfragen kommt Maduro nicht einmal mehr auf 30 Prozent an Unterstützung, was auf eine Niederlage hinauszulaufen droht. Genau wie das CWI gewarnt hat, ist das das Ergebnis der Sackgasse, in der man sich deshalb befindet, weil man nicht mit dem Kapitalismus gebrochen hat und gleichzeitig zu einem echten System aus Verstaatlichungen mit demokratischer Arbeiter-Kontrolle sowie der Geschäftsführung durch die Beschäftigten übergegangen ist. Die Sackgasse hat Enttäuschung und Demoralisierung den Weg bereitet, aus der die rechte MUD nun Kapital schlägt.
Im Austausch für Öl hat Venezuela bislang garantierte Kredite von China bekommen. Die zurückgehenden Ölreserven haben zu Verspätungen bei der Lieferung über See geführt. Das wirkt wie ein teilweiser Zahlungsausfall von Venezuela an China. Sollte sich die Krise weiter zuspitzen, so könnte selbst Maduro dazu getrieben werden, noch radikalere Maßnahmen zu ergreifen, die den kapitalistischen Interessen entsprechen. Auch wenn das nicht die wahrscheinlichste aller Möglichkeiten ist, so ist es nicht vollkommen ausgeschlossen.
Aufhebung des Kuba-Embargos
Anfang des Jahres haben US-Präsident Barack Obama und Kubas Raúl Castro eine Reihe historischer Abkommen in Aussicht gestellt. Das hat der Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen den beiden Ländern, einer Erleichterung der Resiebeschränkungen und ersten Schritten in Richtung einer Lockerung des Handelsembargos den Weg geebnet, das seit der Revolution von 1959/-60 in Kraft ist. Der Austausch von Gefangenen beider Seiten, die sowohl in den USA als auch in Kuba inhaftiert waren, hat bereits stattgefunden.
Das alles steht für eine entscheidende Wende in der Politik des US-Imperialismus gegenüber Kuba, die im Zuge der Gespräche zwischen Obama und Castro beim letzten Gipfeltreffen der amerikanischen Staaten in Panama noch einmal bestätigt wurde. Auf der anderen Seite bedeutet dies einen weiteren Schritt des kubanischen Regimes in Richtung kapitalisitscher Restauration, einem Prozess, der schon seit einigen Jahren festzustellen ist. Die Ankündigungen vom Panama-Gipfel sind das Ergebnis von Geheimverhandlungen, die vor einigen Jahren zwischen beiden Regierungen in Kanada stattgefunden haben. Dabei haben auch Verhandlungen eine Rolle gespielt, an der die rechts-konservative Regierung Kanadas und der Papst teilgenommen haben. Das ist die Grundlage für die nun zustandegekommene Vereinbarung.
Obama kam zu der Erkenntnis, dass „man nicht ständig (seit über 50 Jahren) dasselbe tun, dann aber ein anderes Ergebnis erwarten kann“. Die herrschende Klasse in Europa und Kanada wie auch ein Großteil des südamerikanischen Kapitalismus haben eine andere Herangehensweise gewählt, die Obama nun übernommen hat. Raúl Castro, der Obama über alles lobt, hat gefordert, ihn für den Friedensnobelpreis zu nominieren. Dabei hat er als US-Präsident mehr Drohnenangriffe in Afghanistan und dem Nahen Osten durchführen lassen als George Bush!
Seit der Kubanischen Revolution hält der US-Imperialismus ein striktes Embargo aufrecht und hat mehrfach versucht das kubanische Regime zu stürzen, um den Kapitalismus wieder einzuführen. Dazu zählt auch die bewaffnete Intervention von 1961. Trotz der erdrückenden Folgen, die das Embargo hatte und die die kubanische Volkswirtschaft Schätzungen zufolge seither eine Billion Dollar gekostet hat, ist diese Politik ohne Erfolg geblieben. Das lag vor allem daran, dass die Revolution tief in der kubanischen Gesellschaft verwurzelt war und von ihr unterstützt worden ist. Die gegen Castro gerichtete Politik hatte darüber hinaus zum Ziel, bei Wahlen in den USA die Unterstützung von Exil-Kubanern in Miami zu bekommen, die aus Kuba geflüchtet waren.
Jetzt vertritt der US-Imperialismus eine neue Politik und beginnt mit der Lockerung des Embargos. Die Gefahr der kapitalistischen Restauration in einem isoliert gebliebenen Arbeiter-Staat kann nicht nur aufgrund militärischen Eingreifens aufkommen. Wie Leo Trotzki im Zusammenhang mit der Sowjetunion gewarnt hatte, ist „die Militärintervention […] gefährlich. Die Intervention billiger Waren im Gefolge der kapitalistischen Armeen wäre weitaus gefährlicher“ (vgl.: L. Trotzki: „Die verratene Revolution“). Das Ziel des US-Imperialismus bleibt dasselbe. Man versucht es nur auf einem anderen Weg zu erreichen. Das Vorhaben besteht darin, die kubanische Wirtschaft mit Waren und Investitionen zu durchsetzen – mit der Zielvorgabe, den Kapitalismus komplett wieder einführen.
Errungenschaften lösen sich wieder in Luft auf
Der Politik-Wechsel des US-Imperialismus ist durch einen Perspektiven-Wechsel einer neuen Generation von Exil-Kubanern befördert worden. War man bisher felsenfest von der Sinnhaftigkeit des Embargos und dem Kampf zum Sturz des Regimes überzeugt, so unterstützen (Angaben einiger Umfragen zufolge) nun 52 Prozent der Exil-Kubaner in den USA nun ein Ende des US-Embargos. Teile der kapitalistischen Klasse (wie der Zucker-Magnat Alfy Fanjul) haben sich für die Aufhebung des Embargos ausgesprochen. Dabei haben sie neue Märkte im Blick, die ein kapitalistisches Kuba bieten würde.
Viele KubanerInnen sind abhängig von den Geldüberweisungen, die sie von Familien in den USA bekommen. Schätzungsweise 62 Prozent der Haushalte in Kuba bekommen Unterstützung aus dem Ausland. Einigen Schätzungen zufolge hängen unglaubliche 90 Prozent des Einzelhandels davon ab. Die düstere wirtschaftliche Lage bedeutet für die Massen, dass sie sich in einer verheerenden Situation befinden. Die enormen sozialen Errungenschaften, die nur aufgrund der Überwindung des Kapitalismus möglich waren, lösen sich in rasantem Tempo wieder in Luft auf. Die Unterstützung für die Revolution und die Ablehnung des Kapitalismus wie auch des US-Imperialismus haben bisher dazu geführt, dass das kubanische Regime unglaublicher Weise in der Lage war, die Planwirtschaft und das bürokratische Regime auch über die 1990er Jahre (die sogenannte „Sonder-Periode“) hinweg und bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts aufrechtzuerhalten. Der heutige Gegenwert der Löhne in Kuba beträgt heute schätzungsweise nur noch 28 Prozent dessen, was sie vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion eingebracht haben.
Obwohl die kapitalistische Ideologie des freien Marktes sich weltweit durchgesetzt hat, haben sich das Regime und die Planwirtschaft bislang durch diese Zeit hangeln können. Das Regime ist in der Lage gewesen durchzuhalten, weil es auf politischer Ebene das US-Embargo nutzen konnte, um die Abneigung gegen den US-Imperialismus anzufachen. Dass dann in Venezuela Hugo Chávez an die Macht kam, verschaffte dem Land durch die Lieferung billigen Öls und Benzins ebenfalls eine Verschnaufpause. Infolge des Ölpreisverfalls und der Krise, in der die Regierung Maduro steckt, ist diese Form der Unterstützung nun aber auch gefährdet. Der Mangel an echter Arbeiter-Kontrolle und Demokratie wie auch die konsequent bürokratische Misswirtschaft und Korruption haben die wirtschaftliche und soziale Krise, die auf das Embargo und die Isolation zurückzuführen ist, weiter befördert.
Die revolutionären Erschütterungen, die zu Beginn dieses Jahrtausends in Venezuela, Bolivien und Ecuador zu verzeichnen waren, haben Kuba die Möglichkeit geboten, aus dieser Isolation auszubrechen. Hätte es sich um eine echte Arbeiter-Demokratie gehandelt, dann wäre diese Chance genutzt worden, um die nötigen Schritte einzuleiten, mit denen eine freiwillige sozialistische Föderation dieser Staaten versucht worden wäre. In dem Fall wäre eine Zusammenarbeit und gemeinsame Planung dieser Länder auf wirtschaftlicher Ebene möglich geworden. Man hätte Aufrufe an die Arbeiterklasse ganz Lateinamerikas verbreiten können, um eine Alternative zum Kapitalismus anzubieten. Diese Chance ist jedoch vertan worden und die sich in allen diesen Ländern ausbreitende Krise bedeutet, dass die Massen den Preis dafür zu zahlen haben.
Bedauerlicherweise waren weder das bürokratische Regime in Kuba noch die reformistischen Regierungen unter Morales, Chávez oder Rafael Correa (in Ecuador) bereit, diesen Schritt zu gehen. Die drei Letztgenannten klebten weiterhin am Kapitalismus. Auf der anderen Seite hat das kubanische Regime eine Reihe von Schritten eingeleitet, die ein immer größeres Ausmaß angenommen und den Prozess zur Restauration des Kapitalismus eingeläutet haben. Die jüngsten Entwicklungen stellen einen weiteren bedrohlichen Schritt in diese Richtung dar.
Ein Brückenkopf für den Kapitalismus
Auch wenn die Lockerung der Reisebestimmungen auf Zustimmung stoßen wird, so sind andere Maßnahmen eine Bedrohung für die Errungenschaften der Revolution, die bereits demontiert worden sind. Das neue Arbeitsrecht markiert einen schwerwiegenden Angriff auf die Rechte der ArbeiterInnen. 2008 ist das Renteneintrittsalter um fünf Jahre angehoben worden. Die Einführung eines „dualen Währungsssystems“, bei dem einige Beschäftigte in Dollar bezahlt werden, hat die Ungleichheit zwischen ihnen und den KollegInnen, die ihren Lohn weiterhin in Pesos ausbezahlt bekommen, enorm vergrößert. Das Regime hat den „Peso Convertible“ (CUC) eingeführt, der dem Wert des Dollar entspricht und in der Tourismusbranche sowie bei Importwaren zum Einsatz kommt. Für einheimische Produkte gilt weiterhin der Peso (CUP), der zu einem Kurs von 1:25 in CUC getauscht werden kann. Die Regierung hat zwar angekündigt, dieses zweigleisige Währungssystem wieder aufzuheben, bisher aber nichts in dieser Richtung unternommen.
Dadurch hat der Schwarzmarkt ganz unweigerlich Zulauf erhalten. Die Regierung hat das Ziel aufgestellt, im staatlichen Sektor mit einer Million weniger Beschäftigten auskommen und die Gründung tausender mittelständischer und kleiner Betriebe („cuentapropistas“) genehmigen zu wollen. 500.000 Lizenzen sind dazu schon ausgestellt worden. Allerdings wurden diese in erster Linie für Kleinbetriebe vornehmlich in der Gastronomie genehmigt. Die Anzahl der Beschäftigten, die in der Privatwirtschaft angestellt sind, hat sich seit 2007 von schätzungsweise 140.000 auf 400.000 Personen erhöht. Das ist zwar eine große Anzahl an Beschäftigten, macht unter der gesamten erwerbstätigen Bevölkerung von mehr als fünf Millionen ArbeiterInnen aber weierhin nur eine Minderheit aus.
Ein Brückenkopf für die kapitalistische Restauration entstand in der Tourismusbranche, die dadurch zentrale Bedeutung erlangte, weil hier etliche europäische, kanadische, brasilianische und in letzter Zeit auch immer mehr chinesische Unternehmen Investitionen tätigen. Das Phämomen der Prostitution, das nach der Revolution in der Gesellschaft nicht mehr vorkam, ist auf die Straßen von Havanna zurückgekehrt – vor allem in den Touristengebieten.
Es sind Sonderentwicklungszonen wie zum Beispiel eine neue Hafenanlage in Mariel Bay eingerichtet worden, die – wie in diesem Fall – mit Investitionen vom Kapitalismus in Brasilien und Singapur finanziert worden sind. Diese Investitionen werden mit Blick auf die künftige Entwicklung getätigt. Die Investoren gehen einfach davon aus, dass das Handelsembargo der USA nicht ewig Bestand haben wird. Außerdem will man aus dem Ausbau des Panama-Kanals und dem Bau eines neuen Kanals, der mit massiver Unterstützung Chinas in Nicaragua geplant ist, Kapital schlagen. Hier erhalten Investoren Verträge mit 50 Jahren Laufzeit (momentan laufen sie über einen Zeitraum von 25 Jahren). Investoren ist es möglich, Anlagen zu 100 Prozent in Besitz zu nehmen. Sie werden von Sozialleistungen und Grundsteuern befreit und ihnen wird für den Zeitraum von zehn Jahren eine Sonderkondition in Höhe von 12 Prozent an Ertragssteuern garantiert.
Trotz dieser Schritte müssen kapitalistische Investoren aus dem Ausland zuvor in Verhandlungen mit der Regierung oder Betrieben treten, die sich in staatlichem Besitz befinden. Das kubanische Regime spricht zwar weiterhin von Dingen wie dem Sozialismus (was teilweise auf die immer noch vorhandene Unterstützung für die Revolution – vor allem unter der älteren Generation – zurückzuführen ist). In zunehmendem Maße fällt die Regierung jedoch in den Nationalismus eines José Marti zurück, dem Anführer der Unabhängigkeitsbewegung gegen die spanischen Kolonialherren.
Die jüngere Generation, die so gerne mehr Freiheiten hätte (u.a. Internet und reisen), kennt keine Verbesserungen, erlebt aber die Einschränkungen durch die Revolution – mit all den wirtschaftlichen und sozialen Krisen und der erstickenden Last der Bürokratie. Wenn Billigwaren aus dem Ausland eintreffen werden, dann mag das den Menschen anfangs toll vorkommen. Mit der Zeit wird aber die Realität des Lebens in der kapitalistischen Gesellschaft Einzug halten.
Diese Entwicklungen stehen ganz klar für einen schwerwiegenden Schritt in Richtung Wiedereinführung des Kapitalismus. Auch wenn immer noch der Staat die Kontrolle inne hat und zuvor Vereinbarungen getroffen werden müssen, so wird dieser Weg in einigen Bereichen sehr deutlich beschritten. Der Staat bleibt weiterhin die entscheidende Kontrollinstanz und ist in der Lage, besagte Schritte zu einem bestimmten Zeitpunkt wieder abzuwürgen. Randal C. Archibold zitierte einen US-amerikanischen Anwalt, der mit Untersuchungen zu Unternehmen beschäftigt ist, die Investitionen in Kuba tätigen: „Was passiert, wenn jetzt Kapital reinfließt und es auf Seiten Kubas zu einem Wandel kommt? Man weiß nie, ob die Kubaner ihre Haltung ändern werden. Ich denke, dass es eine Reihe von Unbekannten gibt, weil es um eine völlig neue Entwicklung geht“. (aus: „International New York Times“, 9. April 2015)
Beim Übergang zur völligen kapitalistischen Restauration wird es sich nicht um einen gradlinigen Prozess ohne Unterbrechungen handeln. Teile des Regimes machen den Anschein, als seien sie nicht bereit, diesen Weg mitzugehen. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang, was Maiela Castro, Tochter von Raúl Castro, im Januar mit Entschiedenheit feststellte: „Das Volk Kubas will nicht zurück zum Kapitalismus“. Zum jetzigen Zeitpunkt sind die entscheidenden Wirtschaftsbranchen noch nicht in privater Hand oder an ausländische Kapitalisten verkauft worden. Dass „Mastercard“ und „Netflix“ bereits Einzug gehalten haben, ist – wenn auch nicht vollkommen bedeutungslos – so doch in erster Linie von symbolischer Bedeutung.
Krise und Widerstand
Für SozialistInnen und die Arbeiterklasse ist die Wendung hin zur kapitalistischen Restauration ein Rückschritt. Für die Massen würde damit die Auflösung der Errungenschaften der Kubanischen Revolution einhergehen. Vor allem in Lateinamerika würde die herrschende Klasse dies ausnutzen, um erneut zu versuchen die Ideen des Sozialismus als eigentliche Alternative zum Kapitalismus in Verruf zu bringen. Das hätte allerdings nicht denselben Effekt wie die ideologische Offensive, die nach dem Zusammenbruch der ehemaligen stalinistischen Regime in der Sowjetunion und in Osteuropa nach 1998/-90 begonnen worden ist.
Auf internationaler Ebene hat eine neue Phase aus kapitalistischer Krise und sozialen Kämpfen der ArbeiterInnen begonnen. die Arbeiterklasse und die Masse der Menschen insgesamt haben 25 Jahre lang erlebt, was die „Herrschaft des freien Marktes“ bedeutet. Sie beginnen den Kampf dagegen aufzunehmen. Die Aufhebung des Embargos steht auch für einen Niederlage der bisherigen Politik des US-Imperialismus und dessen Versuch, das kubanische Regime zu Fall zu bringen. Das wird Kuba die Möglichkeit liefern, Handel mit dem Weltmarkt zu betreiben.
Wenn jedoch weiterhin nirgendwo eine echte Arbeiter-Demokratie existiert, dann geht damit die Gefahr einher, dass die Entwicklung noch schneller in Richtung kapitalistischer Restauration geht. Um diese wachsende Gefahr abzuwehren, braucht es ein staatliches Monopol über den Außenhandel, das demokratisch durch ein echtes Regime der Arbeiter-Demokratie kontrolliert wird. Vor dem Hintergrund einer erneuten weltweiten kapitalistischen Krise müssen die Schritte in Richtung der kapitalistischen Restauration einer Überprüfung standhalten. Möglich ist auch, dass es eine Zeit lang zu einer Art von Hybrid-Situation oder einer durchwachsenen Gemengelage kommt.
Anfänglich mag es möglich sein, Errungenschaften der Revolution wie etwa das Gesundheits- und das Bildungssystem aufrechtzuerhalten. Wobei gesagt werden muss, dass selbst diese Bereiche in der abgelaufenen Periode in großem Umfang unter mangelnden Investitionen zu leiden hatten. Es bleiben viele Hürden bestehen, die überwunden werden müssten. Außerdem ist es wahrscheinlich, dass es zu Widerstand kommen wird, sollte die kapitalistische Restauration zu einer realen Gefahr heranwachsen. Teile der Bevölkerung haben schon jetzt Angst, sie könnten die Errungenschaften der Revolution verlieren und Kuba könnte zu einem neuen Puerto Rico werden. Dringlicher als jemals zuvor besteht die Notwendigkeit, Widerstand gegen die drohende Wende hin zur kapitalistischen Restauration aufzubauen, für echte Arbeiter-Demokratie und die Verteidigung der staatlichen Planwirtschaft in Kuba zu kämpfen.
Die Situation in Lateinamerika macht klar, wie dringend nötig der Aufbau einer sozialistischen Alternative für und durch die Massen ist. Am Anfang muss die Erkenntnis stehen, dass die radikal-reformistischen Maßnahmen und die bürokratischen Methoden, zu denen am Anfang dieses Jahrhunderts in Venezuela, Bolivien und Ecuador gegriffen wurde, ganz klar ihre Grenzen haben. Diese Länder sind verhaftet geblieben im Kapitalismus. Die opportunistischen und populistischen Mobilisierungsversuche der Rechten in Brasilien, Venezuela und einigen anderen Staaten zeigen, wie dringend nötig es ist, eine solche Bewegung aufzubauen. Überall auf dem Kontinent ist eine neue Phase bestehend aus Kampf und Krisen angebrochen. Die Herausforderung für die Arbeiterklasse und revolutionäre SozialistInnen besteht darin, eine echte kampfbereite und sozialistische Alternative aufzubauen.