… und keine Klärung in Sicht
Ende April jährten sich gleich zwei Termine, die mit der Terror-Serie des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) in Verbindung stehen: Der Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter in Heilbronn und der 200. Prozesstag vor dem Oberlandesgericht in München. Zwischen dem Abtauchen 1998 von Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt und ihrer eher zufälligen Enttarnung Anfang November 2011 und dem Tod der beiden Männer waren die drei für eine bis dahin in der bundesdeutschen Geschichte einzigartige rechtsterroristische Anschlagsserie verantwortlich. Zehn Morde, mehrere Sprengstoffanschläge und 15 Banküberfälle gingen auf ihr Konto. Seit dem 6.Mai 2013 wird gegen Beate Zschäpe und fünf weitere Angeklagte verhandelt.
Von Steve Hollasky
Es ist nicht viel, was der Mammut-Prozess an neuen Erkenntnissen zu Tage gefördert hat. Nicht zuletzt auch deshalb wird er nach Ansicht von „3sat-Kulturzeit“ vom 17.12.2014 mehr und mehr zur Staatsaffäre. Und was der Prozess an bisher Ungekanntem hervorbrachte schwebt zwischen Groteske und Skandal. Da ist eine angeklagte Nazi-Terroristin, der Generalbundesanwalt Herbert Diemer vorwirft, sie habe Beihilfe zum Mord an mindestens zehn Menschen geleistet. Und wie als sei das nur der berühmte Treppenwitz in der Geschichte, heißen ihre Anwälte allen Ernstes Heer, Sturm und Stahl. Man mag verzeihen, wenn man sich fragt, ob sie womöglich auch „zäh, flink und hart“ sind. Besonders dann, wenn sie, wenig empfänglich für das Gefühlsleben der zahlreichen NebenklägerInnen, die Opfer bzw. Angehörige von Opfern der Nazi-Terroristen sind, mal wieder theatralisch ihre Robe hinwerfen und den Raum verlassen, um dann nach diesem Auftritt in den Verhandlungssaal A 101 zurückzukehren und weiterzumachen, als sei nichts gewesen.
Da sind PolizeibeamtInnen, die aussagen, man spreche auf ihrer Wache ganz offen von „Negern“ und Polizeipsychologen hätten nach Zeugenbefragungen, während der Ermittlungen bezüglich des Heilbronner Polizistenmordes davon gesprochen, die aussagenden Zeugen seien Sinti und Roma und lügen sei eben ein Zug dieser Kultur – da läuft einem ein Schauder den Rücken herunter…
Und Nazis werden in den Zeugenstand gerufen, die kurzerhand vorgeben sich an so gut wie nichts mehr zu erinnern. Ein ehemaliger Nachbar Zschäpes gab zum Besten, er habe sie „Diddel-Maus“ genannt, denn sie habe sich ihm gegenüber als Dienelt ausgegeben und sei eben auch eine „hübsche Maus“. Man kann wohl kaum nachfühlen wie sich die Angehörigen der Opfer fühlen müssen, wenn sie sich 200 Tage lang solche Ausfälle bieten lassen müssen.
Gedächtnisschwächen haben aber längst nicht nur die braunen „Kameraden“. Andreas Temme, der ehemalige Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes, der beim Mord an Halit Yozgat 2006 zur Tatzeit am Tatort war konnte sich in den ersten Tagen des Gerichtsverfahrens nicht erinnern, ob er am Tattag in Yozgats Internetcafé war – dabei war damals schon die Katze aus dem Sack.
Noch immer weit von der Wahrheit entfernt
Martina Renner von der Thüringer Landtagsfraktion der LINKEN, sagte einmal im Interview, man müsse die Frage beantworten, wie viel Staat im NSU stecke. Doch auch wenn noch viele Dinge im Dunkeln liegen, eines scheint klar zu sein, im Rahmen dieses Prozesses wird es kaum eine Aufklärung in dieser Frage geben. Unmittelbar nachdem Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt am 4.11.2011 zu Tode kamen, ratterten in Landesämtern für Verfassungsschutz und im Bundesamt die Aktenschredder. Nur eine Stunde nachdem die beiden in ihrem gemieteten Wohnwagen tot aufgefunden wurden, suchten Verfassungsschützer die ersten Akten bezüglich der affäre um den NSU heraus und wiesen später deren Vernichtung an. Was damals an unwiederbringlichen Informationen über die Verquickungen von Staat und NSU verlorenging können bestenfalls jene wissen, die die Vernichtung angeordnet und vorgenommen haben. Seinerzeit verließ der Chef des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Fromm, seinen Stuhl, weil er – nach eigener Aussage – nicht gegen die systematischen Vertuschungsversuche in seinem Bundesamt ankommen würde. Der Verfassungsschutz erinnert an einen „Staat im Staate“.
Doch es ist längst nicht nur das Vernichten von Akten, welches den Blick auf die wirklichen Zusammenhänge verstellt. Die Verhandlung gegen die fünf Angeklagten soll eben nur die Schuld dieser drei Personen klären: Die Verantwortung von Behörden und Polizei werden dabei nur am Rande thematisiert. Zudem scheint die Bundesanwaltschaft mehr an Schadensbegrenzung, denn an Aufklärung interessiert, wenn es um die Rolle von LKA, Verfassungsschutz und Polizei geht.
Nur einige der offenen Fragen…
Es gibt zahlreiche Fragen, die noch immer auf Klärung warten: Wieso war im Januar 1998 die Durchsuchung der Garage, in der Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe Sprengstoff gelagert hatten derart dilettantisch angestellt worden, dass die drei Tatverdächtigen entkamen? Warum hat man die Telefonliste mit Unterstützern der drei, die in der Garage gefunden wurde, nie ausgewertet? Weshalb wurden die drei nicht bei den Unterstützern auf der Liste gesucht? Wer war dafür verantwortlich, dass diese Liste nicht den Zielfahndern zur Verfügung gestellt wurde? Wie konnte es möglich sein, dass die drei sich im Untergrund frei bewegten, den Mitangeklagten André Eminger und seine Frau zu Germanenfeiern einladen und diese gemeinsam besuchen konnten? War es wirklich nicht möglich eher zuzugreifen? Aus welchem Grund hat man Dossiers aus den Reihen des Verfassungsschutzes zur möglichen Bildung rechtsterroristischer Quellen nicht ernst genommen, obwohl diese schon 2004 auch die drei flüchtigen Nazis mit solchen Versuchen in Verbindung brachten?
Wie erfuhr Zschäpe am 4.11.2011 vom Tod ihrer beiden Komplizen? Die Frage ist bis heute ungeklärt, dabei ist sie doch von größter Bedeutung. Einen Anruf aus dem sächsischen Innenministerium, den Zschäpe bekam, erklärt man im Nachhinein damit, man hätte herausfinden wollen, wem die brennende Wohnung gehöre. Und immer wieder Spekulationen…
Doch mehr und mehr scheinen diese Fragen beinahe zu erblassen. Denn immer häufiger geraten zwei Morde in das Blickfeld von Anwälten, Ermittlern und Öffentlichkeit: Der Mord an Halit Yozgat in Kassel und der an Michèle Kiesewetter in Heilbronn.
Die beiden letzten Morde des NSU sind mit Sicherheit die eigenartigsten, dass sagt selbst Clemens Binninger (CDU), der Mitglied des Untersuchungsausschusses des Bundestages war. Dabei darf eines nicht vergessen werden: Es ist auch bei den acht anderen Todesopfern des NSU vollkommen unklar, wieso gerade sie von den Tätern ausgewählt worden waren. In der von Beate Zschäpe zur Vernichtung von Beweisen in Brand gesteckten Wohnung des Trios waren zahlreiche Anschlagsziele gefunden worden, sorgfältig ausspioniert und archiviert. Warum also diese zehn Toten? Auch diese Frage bleibt gänzlich im Dunkeln.
Der Fall Halit Yozgat
Und dennoch, Kassel und Heilbronn fallen aus der Reihe: In Kassel war der Verfassungsschutzmitarbeiter Andreas Temme während des Mordes direkt vor Ort. Er chattete an einem der Computer in Halit Yozgats Internetcafé, als mutmaßlich Böhnhardt und Mundlos das Geschäft betraten und ihr Opfer erschossen. Davon will Temme nichts mitbekommen haben. Nicht einmal, als er am Tresen seine Zeit am Computer bezahlte und das Opfer, noch am Leben, hinter dem Tisch lag, will er etwas bemerkt haben.
Der Fall ist mysteriös. Und je mehr man über ihn erfährt, desto mysteriöser wird er. Nicht einmal eine Stunde vor dem Anschlag erhält Temme auf seiner Dienststelle einen Anruf von Benjamin Gärtner, einem seiner V-Leute in Nazi-Kreisen. Das Telefonat geht runde zehn Minuten und dennoch will sich Temme später nicht an dessen Inhalt erinnern können. Etwa eine halbe Stunde nach Ende des Telefonats beendete der „V-Mann-Führer“ des hessischen Verfassungsschutzes seine Arbeit und begab sich zum Internetcafé von Halit Yozgat. Nur zehn Minuten vor der Tat loggt er sich dort in einen Computer ein. Dann ereignen sich die oben geschilderten Vorfälle.
Temme wird sich später nicht bei der Polizei melden, um auszusagen, er wird zunächst bestreiten im Internetcafé gewesen zu sein und bis heute behaupten, er habe den ermordeten Halit Yozgat nicht hinter dem Tresen liegen sehen. Der Verfassungsschützer hatte das Internetcafé bereits verlassen, als Yozgat gefunden wird. Dessen Leiche entdeckt Halit Yozgats Vater übrigens nur drei Minuten nach der Tat. Wenn Temmes halbherzige Erklärungsversuche auch nur annähernd stimmen sollten, müsste er in einer Zeitspanne von nicht einmal drei Minuten zwischen den tödlichen Schüssen und dem Auffinden des Anschlagsopfers sich aus dem Rechner ausgeloggt, das Geld auf den Tresen gelegt und das Internetcafé verlassen haben. Wohl gemerkt, ohne die Täter oder die Leiche zu bemerken! Glaubhaft ist Temmes Version jedenfalls nicht.
Übrigens deutet auch eine Tatortbegehung mit Temme daraufhin, dass er den Mord bemerkt haben muss. Der Mitarbeiter des hessischen Landesamtes für Verfassungsschutz ging aber sogar noch weiter und behauptete, er habe trotz eines Rundschreibens innerhalb seiner Behörde zu den Morden an acht türkischen und einem griechischen Kleinunternehmer von der Anschlagsserie rein gar nichts gewusst. Übrigens weist dieses Dokument die Mitarbeiter an, ihre V-Leute zu der Mordserie zu befragen, was wiederum beweist, dass man in den Reihen des Geheimdienstes sehr wohl – anders als bislang dargestellt – von einer rassistischen Motivlage bezüglich der Mordserie ausging.
Aber auch die polizeilichen Ermittlungen gegen Temme gerieten wie so Vieles in dieser eigenartigen Affäre zur Farce: Nach wenigen Wochen verlangten Verfassungsschutz und hessisches Innenministerium die Einstellung aller Nachforschungen gegen den umstrittenen „V-Mann-Führer“. Dabei belastete ein Zeuge Temme außerordentlich schwer: Er wollte ihn beim Betreten des Cafés mit einer Plastiktüte gesehen haben, in der sich ein schwerer Gegenstand befunden haben soll. Über Wochen wird sein Telefonanschluss abgehört. Die veröffentlichten Protokolle jedoch waren unvollständig. Gerade Abschnitte, die Temme belasten könnten waren merkwürdigerweise nicht enthalten. Erst die Anwälte der Nebenklage legten die fraglichen Mitschnitte offen: Da räumt Temmes Frau gegenüber einer Bekannten ein, ihr Mann habe, entgegen seiner Aussage, vielleicht wirklich eine Plastiktüte bei sich gehabt. Da rät einer der Vorgesetzten Temmes, er solle beim Lügen möglichst nahe an der Wahrheit bleiben und da ist seine Chefin Dr. Iris Pilling, die dem unter Mordverdacht stehenden Mitarbeiter zusichert, seiner Beförderung stehe nichts im Wege und da ist sein Kollege, der ihm am Telefon davon in Kenntnis setzt, dass die Ermittlungsbehörden in seine V-Mann-Berichte schauen wollen, aber zuvor noch ein Jurist des Verfassungsschutzes dieses sieben werde.
Und da gibt es den Geheimschutzbeauftragten Hess, der während eines Telefonats mit Temme sagt: „Ich sach ja jedem, äh, wenn er weiß, dass irgendwo so etwas passiert: Bitte nicht vorbeifahren!“ Wusste also Temme von der Tat, bevor sie geschah? Hätte er sie verhindern können? Wusste er vielleicht sogar noch mehr? Kannte er die Hintermänner der rassistischen Mord-Serie, als die Polizei noch im Dunkeln tappte? Reichten seine Verstrickungen vielleicht noch tiefer? Die Verhandlung gegen Zschäpe wird auch das wohl nicht abschließend klären!
Der Fall Michèle Kiesewetter
Was den Mord an der Polizeimeisterin Michèle Kiesewetter anbelangt, hat sich die Bundesanwaltschaft inzwischen selbstzufrieden auf die These von den zwei Tätern – Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos – eingeschossen und betrachtet die Beamtin und ihren schwer verletzten Kollegen als Zufallsopfer des NSU-Terrors. Angeblich sei es den schwer bewaffneten Tätern nun auch darum gegangen den Staat als solchen anzugreifen und sich Waffen zu beschaffen.
Clemens Binninger (CDU) und Stefan Aust sind nur zwei der bekannteren NSU-Untersucher, die längst diese These in Zweifel ziehen. Dafür weisen viel zu viele Hinweise in eine andere Richtung: Kiesewetter war Mitglied der BFE 523 („Beweismittelsicherungs- und Festnahmeeinheit“) und als solche war sie häufig bei Neonazi-Demonstrationen im Einsatz. Aufgewachsen war sie in der Gegend aus der auch das Trio kam. Zwei ihrer Kollegen – unter anderem ihr Zugführer – waren Mitglieder des rassistischen „Ku-Klux-Klans“.
Angeworben für die „European White Knights of the Ku-Klux-Klan“ wurden sie von einem gewissen Thomas Richter. Auch er war – man kann es sich schon fast denken – V-Mann des Verfassungsschutzes. Sein Name befand sich auch auf der ominösen Telefonliste der drei Terroristen, die sich die Polizei bis 2011 weigerte auszuwerten. Er war also mit den drei NSU-Mitgliedern bekannt, ebenso wie mit den zwei Kollegen Kiesewetters. Als V-Mann wurde er 2012 enttarnt und kam ins Zeugenschutzprogramm, wo er im April 2014 an einer unerkannten Diabetes verstarb. Bis dahin war er nie zu diesen Verbindungen befragt worden.
Eine weitere Merkwürdigkeit: Nach dem Mord an Kiesewetter im April 2007 tappte die Polizei jahrelang im Dunkeln. Und dennoch wurde das persönliche Umfeld Kiesewetters nie beleuchtet. Ihr privater Email-Verkehr wurde nie Teil der Ermittlung, stattdessen löschte man ihn. Der Aussage ihres Patenonkels, Mike W., der ebenfalls Polizist ist, schenkte man keine weitere Beachtung. Obwohl er schon acht Tage nach dem Mord erklärte, der Tod Kiesewetters stehe in Verbindung mit den bundesweiten Morden an türkischen Kleinunternehmern. Diese Verbindung zog damals niemand. Gegen wen ermittelte Mike W.? Gegen Timo Brandt, in den 90er Jahren Chef des Thüringer Heimatschutzes, in dem Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe, „groß“ geworden sind, sich radikalisierten und mit dem sie auch in der Illegalität noch Kontakt hielten. Auch er war V-Mann und erhielt für seine Dienste 200.000 DM und Schutz vor polizeilicher Ermittlung.
Inzwischen wird gegen Brandt wegen zahlreicher Verbrechen ermittelt: Wegen Zuhälterei, Kindesmissbrauchs in 157 Fällen, Betrugs und auch wegen einer eventuellen Tatbeteiligung in Heilbronn.
Übrigens trennte sich Mike W.`s Frau, Anja W., ebenfalls Polizistin und mit Kiesewetter bekannt, später von ihm, dem Patenonkel Kiesewetters, und heiratete einen Mann, gegen den sie ermittelt haben soll. Dieser ist wiederum mit einem gewissen Ronny W., bekannt, der zum Umfeld des NSU gehört haben soll. Anja W. wurde später Geheimnisverrat vorgeworfen, weshalb sie vom Dienst suspendiert wurde. Sie bestreitet die Vorwürfe bis heute und wirft ihrerseits zwei Kollegen vor mit Nazis in Kontakt zu stehen und lax gegen diese zu ermitteln – man mag sich kaum ausmalen was auf deutschen Polizeiwachen so los ist…
Trotz dieses undurchdringlichen Geflechts sieht die Bundesanwaltschaft den Fall als ausermittelt und Kiesewetter als Zufallsopfer an. Wie Generalbundesanwalt Diemer angesichts dieser Zusammenhänge an dieser Version festhalten kann, bleibt schleierhaft. Wenn eine Polizeibeamtin derart von Nazis umgeben ist, gegen sie ermittelt und dann von Nazis ermordet wird, kann man schwerlich von Zufällen ausgehen! Hinzu kommt eine sehr bedenkliche Aussage einer Polizeibeamtin, die vor dem NSU-Untersuchungsausschuss in Thüringen zu Protokoll gab, sie sei von zwei Männern, die sie zu Hause aufsuchten bedroht worden. Sie hätten ihr geraten sich an bestimmte Dinge, die mit dem Mord an Kiesewetter zu tun haben besser nicht zu erinnern.
Noch eine Frage wird durch den Mord in Heilbronn aufgeworfen: Besteht der NSU wirklich aus nur drei Leuten mit einem überschaubaren Unterstützernetzwerk? Schon 2007 ging die Heilbronner Polizei von bis zu 6 Beteiligten am Anschlag aus. Keines der Phantombilder der Zeugen passt auf Uwe Böhnhardt oder Uwe Mundlos. Den Zusammenhang zum NSU stellen die entwendeten Dienstwaffen der zwei Beamten und das Bekennervideo her, in dem der Heilbronner Polizistenmord explizit erwähnt wird. Wenn aber der NSU sich zu dieser Bluttat bekennt und aber keines der Phantombilder auf die beiden Männer passt, muss man mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass der NSU aus mehr als zwei Personen besteht – doch die Bundesanwaltschaft hält den Fall für ausermittelt.
Deshalb wird auch den Bildern einer Überwachungskamera am Heilbronner Bahnhof nicht nachgegangen. Diese zeigen am Tattag eine Frau mit Kopftuch, die ihr Gesicht vor der Kamera verbirgt und Ähnlichkeiten mit Beate Zschäpe aufweist. Der Zugführer Kiesewetters, der dem KKK angehörte, gab an, sich am betreffenden Tag ebenfalls am Bahnhof aufgehalten zu haben – ein Zufall?
Wahrheitsfindung unerwünscht?
Inzwischen kursieren alle möglichen Verschwörungstheorien und ausgerechnet der nach rechts gewendete frühere „Linke“ Jürgen Elsässer produziert mit seinem Magazin „Compact“ immer wieder neue abstruse Thesen und Theorien. Er schreckt noch nicht einmal davor zurück Helmut Roewer für sein Magazin schreiben zu lassen. Roewer war zwischen 1994 und 2000 Chef des Landesamtes für Verfassungsschutz in Thüringen. Heute schreibt er Bücher für den rechten Ares-Verlag und selbst im Dienst hatte er ganz offen Kontakt nach rechts. Veruntreuung von Finanzmitteln und die Anwerbung illustrer V-Leute wie Timo Brandt fallen in seine Dienstzeit.
Und Elsässer ist nicht der einzige „schräge Vogel“, der sich mit dem NSU beschäftigt. Ein Blogger namens „Fatalist“ stellte vor einigen Monaten große Teile der Ermittlungsakten ins Internet. Wo kamen die her? Sind sie authentisch? Das fragte sich auch der Leiter des Innenausschusses der Bundestages, Wolfgang Bosbach (CSU), der den hinter Fatalist stehenden „Arbeitskreis NSU“ (eine ebenso illustre Ansammlung rechter Querfront-Ideologen wie Elsässers „Compact“) kontaktierte und von der Bundesanwaltschaft die Herausgabe der Ermittlungsakten verlangte. Sein Ziel war zu überprüfen, ob die von „Fatalist“ veröffentlichten Akten mit denen der Bundesanwaltschaft übereinstimmen. Doch die Bundesanwaltschaft verweigerte den Abgeordneten die Einsichtnahme. Aydan Özguz, die für die SPD im Bundestag sitzt, erklärte unter dem demonstrativen Nicken von Clemens Binniger während einer Bundestagssitzung: Trotz aller Ermittlungen seien unsere Lücken im Wissen über des „Terror-Trio“ riesig. Wir wüssten weder wie die Opfer genau ausgesucht wurden, noch, wie Böhnhardt und Mundlos genau zu Tode kamen.
Wenn nicht einmal den Abgeordneten des Bundestages Akteneinsicht gewährt wird, wenn sich Mitglieder von Untersuchungsausschüssen zum NSU wie Hartfrid Wolff (FDP) über die fehlende Bereitschaft von Verfassungsschützern, Polizisten und Ministeriumsmitarbeitern zur Mitarbeit beklagen und selbst Petra Pau die rot-rote Landesregierung in Brandenburg für deren Verweigerungshaltung rügt, dann muss man die Frage stellen, ob es überhaupt eine ernsthafte Bereitschaft zur Aufklärung gibt.
Staat und Nazis
Dass diese Aufklärungsbereitschaft fehlt ist nur allzu logisch: Was bisher an Verstrickungen zwischen Nazis und Staat ans Licht kam ist schockierend und das Interesse solche Fakten zu verdecken entsprechend hoch: Timo Brandt bekam nicht nur jahrelang monatlich Geld vom Verfassungsschutz, das in den Aufbau rechter Strukturen floss, man warnte ihn vor Polizei-Durchsuchungen, zahlte ihm nach Nazi-Groß-Events anfallende Telefonrechnungen und stattete ihn mit internen Informationen aus der Polizei aus. Außerdem reichte man ihm auch gleich noch Informationen über AntifaschistInnen, was diese AktivistInnen in Gefahr brachte.
Es gab unzählige solcher Fälle. Um den NSU herum waren vierzig V-Leute postiert, sie wurden finanziert, vor polizeilichen Ermittlungen geschützt und hofiert. Im Zuge der Ermittlungen bezüglich des NSU-Terrors kam sogar heraus, dass der Verfassungsschutz in Thüringen in den Neunziger Jahren bei einer Kampagne von Nazis gegen GewerkschafterInnen geholfen hat. Angelo Lucifero wurde für sein antifaschistisches Engagement von Nazis attackiert, die Flugblätter für diese Kamapagne schrieb das Landesamt für Verfassungsschutz, das diese Blätter auch gleich noch vervielfältigte.
Es ist eine Binsenweisheit, aber man muss sie immer wieder festhalten: Beim Kampf gegen Nazis und Rassisten kann der Staat (Polizei, Gerichte, Staatsanwaltschaft, Verfassungsschutz) keine Hilfe sein. Wenigstens das ist nach 200 Verhandlungstagen zweifelsfrei bewiesen.
Wird sie reden?
Was auch immer hinter den Kulissen lauert, eine Person im Gerichtssaal weiß genau darüber bescheid: Beate Zschäpe. Als sie sich im November 2011 stellte, erklärte sie Angaben zum NSU machen zu wollen. Doch inzwischen schweigt sie. Manche Pressevertreter glauben nach den häufigen Konfrontationen mit den Angehörigen der Opfer wird sie vielleicht noch vor Ende des Prozesses reden – möglich. Möglich auch, dass sie sich, eventuell gerade wegen der Opfer, politisch erklären will. Doch auf der anderen Seite würde sie sich damit wahrscheinlich weiter belasten, was strafverschärfend wirken würde. Wahrscheinlich wird sie wohl, wenn überhaupt, nach dem Ende des Prozesses aussagen. Zumindest bis dahin wird Vieles Spekulation bleiben, gerade dann, wenn Behörden ihre Mithilfe verweigern oder nur teilweise mitarbeiten.
„Sozialismus oder Untergang in Barbarei!“ [Rosa Luxemburg]
Kapitalismus heißt private Aneignung gesellschaftlich produzierter Güter durch eine Handvoll reicher Menschen. Das produziert wo auch immer man hinsieht Irrsinn: Umweltzerstörung, Kriege, Sozialabbau… Ein solches System funktioniert nur dann, wenn es eine Institution gibt, die die oben beschriebene Aneignungsweise schützt. Dafür ist dieser Institution, dem Staat, so ziemlich jedes Mittel recht und das erklärt auch, warum Menschen, die in Staatsorganen arbeiten Linke, die den Kapitalismus angreifen, eher als Feinde sehen, als Rechte, die keine wirkliche Kritik am Profitsystem haben. So erklärt sich die Nähe mancher VerfassungsschutzmitarbeiterInnen zu Nazis.
Das Problem wird nur dann geklärt werden, wenn man den Kapitalismus abschafft. Allein die Abschaffung des Verfassungsschutzes wird daran nicht viel ändern. Und dennoch bleibt diese Forderung im Moment zentral, ebenso wie die Abschaltung aller V-Leute, weil so rechte Strukturen finanziell unter Druck geraten. Gerade deshalb ist es bedauerlich oder eher bezeichnend, wenn Bodo Ramelow, der die unhaltbaren politischen Zustände in Thüruingen in den 90er Jahren miterlebt hat, im Zuge der rot-rot-grünen Zusammenarbeit als erster Ministerpräsident der Partei DIE LINKE zwar die V-Leute abschaltet, aber die Macht des Landesamtes für Verfassungsschutz nicht deutlicher beschränkt oder die rot-rote Landesregierung in Brandenburg nur nach viel Druck und selbst dann nur halbherzig mit den NSU-Untersuchungsausschüssen zusammenarbeitet.
Klar, SPD und Grüne verteidigen dieses System und damit im Endeffekt auch die Geheimdienste und deren fatale Praxis. Wenn DIE LINKE mit diesen Parteien ihren Frieden macht, mit ihnen gar koaliert, droht sie über kurz oder lang auch mit ganz anderen Dingen ihren Frieden zu machen…