„Wir trauern nicht, wir rebellieren“
Im Februar dieses Jahres wurde die Studentin Özgecan Aslan brutal ermordet aufgefunden. Von Adana nach Mersin unterwegs, auf dem Weg zu ihren Eltern, versuchte der Fahrer eines öffentlichen Minibusses sie zu vergewaltigen. Als sich sich wehrte, erstach er sie. Die schreckliche Tat löste eine Welle von Protesten aus. Massenhaft gehen Frauen auf die Straße, um ihrer Wut Ausdruck zu verleihen und gegen Gewalt an Frauen zu protestieren.
von Linda Fischer, Hamburg
An der Beerdigung nahmen 5.000 Personen teil. Frauen verhinderten, dass ein Mann den Sarg anfasste. Am Tag nach der Beerdigung begann der Hashtag #SendeAnlat („Erzähl auch du”). Mehr als zwei Millionen Tweets erschienen, in denen Frauen von persönlichen Erfahrungen mit sexuellen Übergriffen berichteten. Ob in Istanbul, Ankara, Diyarbakir, in Izmir oder in Bursa – überall gingen TürkInnen gegen Gewalt an Frauen auf die Straße. 15.000 versammelten sich allein in Mersin.
Gewalt an Frauen ist Alltag
Die Human Rights Association (İnsan Hakları Derneği) in der Türkei hat in ihrem Bericht über Menschenrechtsverletzungen aufgedeckt, dass im Jahre 2014 in der Türkei 296 Frauen an den Folgen von häuslicher Gewalt, Vergewaltigung und sexueller Nötigung gestorben sind. Laut einer Studie des türkischen Instituts für Sexualgesundheit haben 40 Prozent der türkischen Frauen schon einmal Gewalt erfahren, 20 Prozent von ihnen sexuelle.
2010 berichtete das Justizministerium, dass die Zahl der Morde an Frauen um das 14-fache angestiegen sei im Vergleich zum Jahr 2003.
Regierungspolitik der AKP
Ein Großteil der Wut und der Proteste richtet sich gegen die Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) und Präsident Tayyip Erdogan. Die Regierungspartei AKP propagiert ein reaktionäres Familienbild. Auf einer Konferenz von Frauenorganisationen sagte Erdogan, dass er nicht an die Gleichberechtigung von Mann und Frau glaube, und dass die Mutterrolle von Frauen gottgewollt sei. Die Pflicht einer Frau sei es, für das Fortbestehen der Nation zu sorgen. Die Beschäftigungsrate von Frauen geht kontinuierlich zurück und damit steigt die Abhängigkeit von Männern. Der Minister für Arbeit und soziale Sicherheit, Faruk Çelik, ließ Ende 2013 verlauten, dass Beschäftigte, die für den Mindestlohn arbeiten, keine Einkommenssteuer mehr zahlen müssen, wenn sie drei Kinder haben.
Gleichzeitig wurde 2013 ein neues Gesetz eingeführt, was die Möglichkeit eines Schwangerschaftsabbruchs, insbesondere für Frauen mit wenig finanziellen Mitteln und in ländlichen Gebieten, dramatisch einschränkt. Die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen von 1983 wird damit faktisch aufgehoben. Die in den letzten Jahrzehnten deutlich gesunkene Zahl der Tode, die im Zusammenhang mit einer Schwangerschaft auf unsichere Abtreibungsmethoden zurückzuführen sind, droht wieder deutlich anzusteigen. Begleitet wird die Einführung mit Aussagen wie die des Oberbürgermeisters von Ankara, Melih Gökçek (AKP): Anstatt das ungeborene Kind „zu töten“, solle lieber die schwangere Frau Selbstmord begehen. Es wird propagiert, Frauen als minderwertig anzusehen. Die Hemmschwelle für Gewalt an Frauen sinkt.
Weltweit gegen Gewalt an Frauen
Gewalt an Frauen ist kein türkeispezifisches Problem. In Deutschland haben nach einer Studie des Bundesfamilienministeriums 40 Prozent der Frauen körperliche oder sexuelle Gewalt oder beides seit dem 16. Lebensjahr erlitten. Weltweit stehen Frauen gegen diese Zustände auf. Die Proteste in der Türkei erinnern an die Bewegung von Frauen in Indien gegen Vergewaltung. Jagadish Chandra von der indischen SAV-Schwesterorganisation erklärt, dass es nicht ausreicht, gegen Gewalt an Frauen zu protestieren: „Eine Kampagne gegen Vergewaltigung isoliert von allen anderen Aspekten der Frauenunterdrückung wird ihren Zweck nicht erfüllen. Gewalt gegen Frauen ist ein Symptom einer zutiefst ungerechten Klassengesellschaft, in der Frauen vielfach ausgebeutet werden. Daher muss die Kampagne unserer Ansicht nach mit der Bewegung gegen soziale Ungerechtigkeit verbunden werden und das Kasten- und Klassensystem – kurz den Kapitalismus – grundlegend in Frage stellen.“