Die Volkswirtschaft des Landes verlangsamt sich um 30 Prozent in fünf Jahren
Die offiziellen Zahlen zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) des Jahres 2014, die diese Woche veröffentlicht worden sind, bestätigen alle Erwartungen, wonach Chinas Volkswirtschaft das langsamste Wachstum seit 24 Jahren zu verzeichnen hat. Weil das Land mit einer Deflation, Überkapazitäten, steigenden Schuldenständen und einer zunehmenden „Zombifizierung“ zu kämpfen hat, gehen die meisten Analysten für die nächsten Jahre von einer noch stärkeren Verlangsamung des Wachstums aus. Mit dem Begriff „Zombifizierung“ werden all die Wirtschaftsbereiche beschrieben, in denen es zum Phänomen der Über-Investition gekommen ist. Dazu zählt unter anderem die Baubranche, die in den letzten zehn Jahren als der wesentliche Wachstumsmotor für die chinesische Wirtschaft galt.
von RedakteurInnen der Webseite www.chinaworker.info, dem Südostasien-Portal des „Committee for a Workers´ International“/„Komitee für eine Arbeiterinternationale“ (CWI), dessen Sektion in Deutschland die SAV ist
Vom Regime in Peking wird erwartet, dass es in den kommenden Monaten erneute Maßnahmen zur weiteren Lockerung der Geldpolitik ergreifen wird, um die Wirtschaft zu stimulieren und dem Druck der Deflation entgegenzuwirken (ganz nach der Art der Zentralbanken in Europa und Japans). Den Weg dazu sieht es in einer Erleichterung der Kreditvergabe an solche Regionalregierungen und Unternehmen, die ansonsten schwer zu kämpfen hätten. Will die Regierung keinen neuen Anstieg der ohnehin kaum noch zu schulternden Schuldenstände auslösen, ist jedoch ein extrem schwieriger Balanceakt nötig.
Im vergangenen Jahr lag das Jahreswachstum des BIP bei 7,4 Prozent, so die Verlautbarung der Statistikbehörde „National Bureau of Statistics“ (NBS) vom Dienstag. Damit ist das Ziel der Regierung, die 7,5 Prozent avisiert hatte, unterschritten worden. Abgesehen davon, dass die Latte nur knapp gerissen worden ist, war es doch das erste Mal seit 1998 (inmitten der damaligen asiatischen Finanzkrise), dass Peking sein Wachstumsziel verfehlt hat.
Die Zahlen bedeuten, dass die ehemalige „Wunder-Wirtschaft“ sich in den letzten fünf Jahren um 30 Prozent verlangsamt hat. 2010 hatten wir es noch mit einer Expansionsrate von 10,4 Prozent zu tun (das war das letzte Mal, dass ein zweistelliges Wachstum erreicht wurde), und 2011 war selbiges bereits auf 9,3 Prozent zurückgegangen. Für 2012 und 2013 verzeichnete man noch ein Wachstum von 7,7 Prozent. Die jüngsten Zahlen deuten auf „das Ende der Blütezeit horrender Wachstumsraten“ hin, so die Schlussfolgerung des „Wall Street Journal“. Die chinesische staatliche Nachrichtenagentur „Xinhua“ stimmt mit dieser Sichtweise übrigens überein: „Die Phase des wunderbar halsbrecherischen Wachstums des Landes ist vorbei – damit werden wir aber auch fertig“, so deren Aussage.
Sind schlechte Nachrichten gute Nachrichten?
Bei der allgemeinen BIP-Wachstumsrate Chinas handelt es sich weiterhin um die am schnellsten wachsende der Welt. Und dennoch wird niemand, der die wahren Bedingungen der chinesischen Volkswirtschaft kennt, durch diesen Umstand beschwichtigt werden können. Der Regierung Chinas ist lange Zeit unterstellt worden, die BIP-Zahlen zu manipulieren. Sogar Premierminister Li Keqiang hatte das BIP des Landes noch vor einigen Jahren bekannterweise als „handgemacht“ beschrieben. Und tatsächlich gibt es Hinweise, die darauf hindeuten, dass die Wirtschaft unter einer stärkeren Verlangsamung leidet als die offiziellen Zahlen vermuten lassen. Laut NBS ist der Bereich der Energieerzeugung in China, der landläufig als der bessere Gradmesser für das Wirtschaftswachstum betrachtet wird, 2014 insgesamt nur um 3,2 Prozent gewachsen und weist damit den langsamsten Zuwachs der letzten 16 Jahre auf. Da die endgültigen Daten für alle Bereiche noch nicht vorliegen, scheint es durchaus möglich, dass Chinas Verbrauch an Stahl im letzten Jahr zum ersten Mal seit 1995 zurückgegangen ist. Bei der Stahlbranche handelt es sich um einen weiteren Sektor, der Aufschluss gibt über die allgemeine wirtschaftliche Lage.
Das Signal hingegen, das die Regierung aussendet, ist, dass die Verlangsamung der Wirtschaft eine gute Nachricht sei. Ihre Politik kann nur mit dem Begriff der Verzweiflung umschrieben werden. In den Medien wird ständig die Formulierung „neuer Normalzustand“ bemüht. Während ihrer Pressekonferenz, in deren Rahmen sie die BIP-Zahlen veröffentlichte, griff die Statistikbehörde NBS sage und schreibe acht Mal auf diese Umschreibung zurück! Demgegenüber erklärte Jamil Anderlini in der „Financial Times“: „Im autoritären politischen System Chinas verhält sich die >Führung der Kommunistischen Partei< immer >vollkommen korrekt<, weshalb schlechte Nachrichten, wie die vom langsamsten Wachstum seit beinahe einem Viertel Jahrhundert, entweder auf Fehler >externer Kräfte< zurückzuführen sind oder es sich dabei eigentlich sogar um gute Nachrichten handelt“.
Kapitalistische WirtschaftswissenschaftlerInnen zeichnen von der chinesischen Volkswirtschaft ein in zunehmendem Maße düsteres Bild. Die jüngsten Zahlen zur Entwicklung des BIP werden in diesem Zusammenhang als Zeichen für eine umfassende Verlangsamung betrachtet, die ernsthafte Folgen für die krisengeschüttelte Weltwirtschaft mit sich bringen wird.
„Wir sollten von Wachstumsraten ausgehen, die ab 2015 mit einer sechs vor dem Komma beginnen. Für dieses Jahr erwarten wir ein Wachstum von 6,8 Prozent, welches sich 2016 dann auf 6,5 Prozent drosseln wird“, so die Ratingagentur „Fitch“ in einer Studie. Der „Internationale Währungsfonds“ (IWF), der China normalerweise als „bärenstark“ ansieht, hat seine Prognosen ebenfalls heruntergeschraubt und geht von einem chinesischen Wachstum in Höhe von 6,8 Prozent in diesem Jahr und von 6,3 Prozent in 2016 aus. „Der Rückgang auf dem Immobilienmarkt ist schwerwiegender als wir zuvor gedacht haben“, räumte Olivier Blanchard, Chefökonom des IWF, ein. Demnach wird Indien 2016 ein stärkeres BIP-Wachstum hinlegen als China.
Der Schatten der Deflation
Wie viele andere Länder der Weltwirtschaft auch bekommt es China nun mit dem Phänomen der Deflation, mit sinkenden Preisen, zu tun. Im Falle Chinas liegt das vor allem daran, dass die Überkapazitäten ein bisher ungeahntes Ausmaß angenommen haben. „In vielen Bereichen (z.B. in der Stahlbranche, beim Spiegelglas, bei Baumaterialien, in der Aluminiumindustrie, in der Chemiebranche, bei den Düngemitteln, im Schiffbau und auf dem Gebiet der Herstellung von Windturbinen bzw. Solarpaneelen) hat sich das Verhältnis von der Produktion zum Absatz drastisch verschlechtert. Letztes Jahr lag es bei 70 Prozent bis 72 Prozent, und es ist wahrscheinlich, dass es sich seither weiter negativ entwickelt hat“, so die „Financial Times“ (24. Dezember 2014).
Die massive Bautätigkeit, zu der es vor allem seit den umfangreichen Konjunkturprogrammen des Jahres 2008 gekommen ist, hat dazu geführt, dass es eine Unzahl an „Geisterstädten“ gibt und einen enormen Schuldenüberhang. Chinas Inflationsrate für Konsumgüter ist auf 1,5 Prozent gesunken. Vor fünf Jahren lag sie noch bei sechs Prozent. Die Herstellungskosten bewegen sich allerdings schon den 34. Monat in Folge im negativen Bereich. Sie sind seit 2011 um 10 Prozent gesunken. Die Deflation, die dafür sorgt, dass Schuldenzahlungen bereinigt noch teurer werden, wird nun als größte Gefahr für die kapitalistische Weltwirtschaft betrachtet. Das zeigt sich unter anderem an der formellen Ankündigung der EZB vom 22. Januar, die ein substantielles Programm des „quantitative easing“ (Erhöhung der Geldmenge) auflegen will. Indem sie das bisherige Vorgehen der US-Notenbank nachahmt, wird die „Europäische Zentralbank“ in den nächsten zwei Jahren auf elektronischem Wege rund 60 Milliarden Euro monatlich in Umlauf bringen. Das Ziel, das sie mit dieser Politik verfolgt, besteht darin, die Wirtschaft aus der Deflation zu holen, von der momentan neun der 19 Mitglieder der Eurozone betroffen sind.
Einer ganz ähnlichen Logik folgte die Zinssenkung Pekings von vergangenem November. Es stellte sich jedoch heraus, dass diese Maßnahme kontraproduktiv war und nur wenig dazu beigetragen hat, die Kreditbedingungen für in die Klemme geratene Unternehmen zu verbessern. Stattdessen wurde eine Aktienblase aufgepumpt, und die Werte der Anteilsscheine stiegen in den acht Wochen nach der Zinssenkung um 36 Prozent an. Der Immobilienmarkt ist in der Vergangenheit stark durch die Spekulation befeuert worden. Dabei besitzt ein Prozent der Bevölkerung mehr als ein Drittel der städtischen Wohneinheiten, die man in China vorfindet. Jetzt, da sich der Immobilienmarkt in der Flaute befindet, ist ein Gutteil dieses spekulativen Kapitals auf den Aktienmarkt umgeleitet worden.
Deflation als Bedrohung für die Weltwirtschaft
Die Regierung versucht „das Schulden-Risiko zu entschärfen“, so das Versprechen von Premier Li, das er bei der letztjährigen Sitzung des „Nationalen Volkskongresses“ abgegeben hat. Anfangs hat sie versucht, auf die riskantesten Formen des Schatten-Bankenwesens einzuwirken und sich auf den rapide wachsenden Investmentbereich konzentriert. Doch obwohl die neue Regierung 2014 auf die Bremse drückt, sind die Vermögenswerte im Bereich der Schatten-Bankenwirtschaft insgesamt um weitere 14 Prozent auf neun Billionen US-Dollar angewachsen [Quelle: „Nomura Securities“]. Die Ausdehnung des Schatten-Bankenwesens, ein Phänomen, das bisher eher mit dem in hohem Maße deregulierten angelsächsischen Kapitalismus in Verbindung gebracht wurde, hat enge Verbindungen zu den spekulativsten Branchen der chinesischen Wirtschaft; so beispielsweise zum Immobilienmarkt, der nun unter Überkapazitäten und einem erhöhten Ausfallrisiko zu leiden hat.
Laut „J.P. Morgan“ haben sich die Schulden von Regionalregierungen bzw. -verwaltungen im Jahr 2014 auf 21 Billionen Yuan (~ 3,4 Billionen US-Dollar) nahezu vervierfacht. 2008 umfassten sie noch rund 5,6 Billionen Yuan. Diese Regionalregierungen haben sich auf Bauprogramme eingelassen, die auf unglaublichen Schuldenbergen aufgebaut sind. In Zusammenarbeit mit Bauunternehmern und Privatinvestoren wollte man benachbarte Regionen ausstechen und beeindruckende BIP-Werte erreichen. Diese Bauwut hat ganz nebenbei auch die Korruption weiter angeheizt, von der der „große Führer“ Xi Jinping mittlerweile öffentlich behauptet, sie können zum Zerfall der Diktatur der KPC („Kommunistische“ Partei Chinas) beitragen. Dass es im letzten Jahr zu einer Verlangsamung auf dem Immobilienmarkt gekommen ist, wobei zehn Prozent weniger Neubauten zu verzeichnen waren, hat den Druck auf die Regionalverwaltungen erhöht, die für das gesamte Jahr 2014 von einem 10-prozentigen Rückgang ihrer Landverkäufe berichten. Dabei ist der Verkauf von Bauland die wichtigste Einnahmequelle, auf die diese Regionalregierungen zurückgreifen können.
Das Dilemma Pekings besteht darin, dass weitere Konjunkturpakete die Gefahr einer neuen Kreditblase mit sich bringen. Zudem werden die Hürden größer, die eine künftige Finanzkrise bedeuten würde, und ein gehemmter Kreditfluss könnte zu einer noch drastischeren Verlangsamung führen – bis hin zu einer echten Rezession. Im Endergebnis würden die Unternehmen und Regionalregierungen nur noch größere Schwierigkeiten haben, um ihre Schulden zu bedienen.
Folgt man den Ausführungen von Anne Stevenson-Yang, einer bürgerlichen Ökonomin, die schon seit langem vor einer möglichen Bankenkrise in China warnt, so rutscht „China in eine deflationäre Rezession, die an Fahrt aufnimmt und eine zeitlang andauern könnte. Investoren haben ihren Glauben in den Immobilienmarkt verloren, der für sich genommen rund 20 Prozent des BIP ausmacht, wenn man den gesamten Bereich inklusive Zulieferern von der Roheisenherstellung bis zur Errichtung von Wohnraum, den Finanzdienstleistern, Hausgerätelieferanten etc. mit einbezieht. Es existiert sogar die Möglichkeit, dass das chinesische Wirtschaftswunder mit einer schwerwiegenden Bruchlandung enden könnte, wenn ein starker Anstieg der Kreditausfälle im Bankensystem die regulierenden Versuche der Regierung zunichte macht, mit denen sie eigentlich eine solche Kreditkrise verhindern und für neue Zuversicht im Finanzwesen sorgen wollte“.
Der Versuch, die Schulden-Bombe zu entschärfen
Bislang ist die Regierung mit besonderer Vorsicht vorgegangen, um die tickende Zeitbombe namens Schuldenberg in den Griff zu bekommen. Letztes Jahr ist es zu einer Reihe von „Beinahe-Ausfällen“ gekommen, wobei die Zahlungsausfälle von Unternehmen aus Angst, diese könnten zu einer umfassenderen Krise im ganzen Finanzsystem führen, knapp verhindert wurden. Erwartet wird, dass Peking in den kommenden Monaten ein Kreditsicherungssystem ankündigen wird, das für die Banken gelten und in der Art funktionieren soll, wie wir es aus anderen Ländern bereits kennen. Damit, so die Hoffnung, soll im Falle individueller Pleiten bzw. von einzelnen Zahlungsausfällen eine „Schutzmauer“ gegen größere Panik auf dem Finanzmarkt errichtet werden. Parallel dazu wurden die Regionalregierungen angewiesen, ihre Schuldenstände „neu zu bewerten“, um auf diese Weise die vorbehaltlos geltenden Regierungsgarantien aufzuheben, die heute noch für alle Unternehmen und Anlagevehikel gelten, die mit dem Staat in Verbindung stehen. Daran hängt am Ende de facto auch das Schatten-Finanzsystem. Sind diese Schritte erst einmal ausgeführt, so wird landläufig angenommen, dass Peking auch bestimmte Zahlungsausfälle und Pleiten zulassen wird. Damit soll die „Disziplin“ auf dem Kreditmarkt wieder hergestellt und die Basis des Bankensystems vor den Exzessen ihrer eigenen Geschäfte in der Schattenwirtschaft geschützt werden. Die Regierung rechnet zwar mit so etwas wie einer „örtlich begrenzten“ Bankenkrise, hofft aber diese eingrenzen zu können und eine Ausweitung zu verhindern. Das bringt allerdings enorme Risiken mit sich, und die Entwicklungen könnten der Regierung und ihren Aufsichtsbehörden entgleiten.
Was das angeht betritt die chinesische Wirtschaft im Jahr 2015 absolutes Neuland. Der Mix aus neoliberalen kapitalistischen Reformen (ganz nach dem Motto: „Der Markt soll die entscheidende Rolle spielen“) und zunehmender staatlicher Repression bzw. politischer Kontrolle führt die Gesellschaft tiefer in die wirtschaftliche Krise und bringt politischen Aufruhr mit sich. Die Arbeiterklasse sich ihre eigene Alternative zu diesem bankrotten Regime aufbauen, die auf demokratischer Selbst-Organisation und internationalem Sozialismus aufbaut.