Dieser Artikel erschien zuerst am 22. November auf der englischsprachigen Webseite socialistworld.net
Abstimmung am 9. November Zeichen der Stärke – Ziel muss ein sozialistisches Katalonien sein!
von Rob MacDonald, „Socialismo Revolucionario“ (Schwesterorganisation der SAV und Sektion des CWI in Spanien), Barcelona
Am 9. November sind 2,3 Millionen Menschen bei einer inoffiziellen Volksbefragung zur Frage der katalanischen Unabhängigkeit „konsultiert“ worden. Den WählerInnen wurden dabei zwei Fragen gestellt: Sollte Katalonien ein eigener Staat sein und wenn ja, sollte dieser Staat unabhängig sein? 80 Prozent der WählerInnen stimmten beide Mal mit „ja“. Das bedeutet, dass 1,8 Millionen Menschen für die Unabhängigkeit gestimmt haben, was als weiteres Zeichen der Stärke zu verstehen ist und im Sinne derer, die für ein unabhängiges Katalonien kämpfen.
Diese Befragung war aber auch ein Beleg für den Ungehorsam gegenüber der spanischen Regierung unter der rechts-konservativen PP, die wiederholt versucht hatte, den KatalanInnen auf juristischer Ebene das Recht abzusprechen, darüber zu entscheiden. Selbst dieser rein symbolische Urnengang sollte ursprünglich untersagt werden. Jetzt versucht die PP nachzulegen und strengt Ermittlungen bis hin zur Anklage gegen Arthur Mas, den Präsidenten der Region Katalonien an. Mas gehört seinerseits der rechtslastigen und katalanisch-nationalistischen Partei CiU an. Ihm wird nun zur Last gelegt, diese inoffizielle Volksbefragung überhaupt durchgeführt zu haben. Einige Stimmen gehen sogar davon aus, dass man versuchen wird, Mas aller seiner politischen Ämter zu entheben. Angesichts dieses Vorgehens gegen ihn, überrascht es wenig, dass Mas zur Zeit verstärkten Zuspruch erfährt. Dadurch wird den katalanischen Massen erneut vor Augen geführt, welchen undemokratischen Charakter nicht nur die PP sondern die gesamte Verfassung des spanischen Staates hat.
Momentan scheint es unwahrscheinlich, dass Verhandlungen zwischen den beiden Seiten fruchtbar wären. Es besteht hingegen die Möglichkeit vorgezogener Neuwahlen in Katalonien, was ein weiterer Schritt auf dem Weg zur Selbstbestimmung wäre. Auch wenn dieser Konflikt derzeit noch lediglich von verschiedenen Elementen der politischen Elite ausgetragen wird, so hat er bereits eine ganz eigene Dynamik entwickelt. Was am Anfang nur als willkommene Gelegenheit aufgegriffen wurde, um von Austerität und Kürzungen abzulenken, verlangt nun nach einer eindeutigen Positionierung, wovon sich keine der beiden Seiten so einfach wieder verabschieden kann. In der bevorstehenden Phase dieser Auseinandersetzung liegt der Schlüssel darin, den vereinten Kampf der Arbeiterklasse für demokratische Rechte sowie das Recht auf katalanische Selbstbestimmung mit dem Kampf zur Beendigung der Austerität zu verbinden.
Die Abstimmung im Detail
Rund 37 Prozent der Wahlberechtigten haben sich an der Abstimmung beteiligt, die allgemein als symbolischer Urnengang betrachtet worden ist. Die 80 Prozent an Ja-Stimmen kommen in erster Linie natürlich von den energischsten BefürworterInnen der Unabhängigkeit. Es haben sich aber auch andere Stimmberechtigte an der Abfrage beteiligt. 500.000 Personen unter den Wahlbeteiligten haben entweder bei der ersten Frage mit „ja“ und bei der zweiten mit „nein“ oder in beiden Fällen mit „nein“ gestimmt. Die große Mehrheit der KatalanInnen – einigen Umfragen zufolge über 80 Prozent – will einfach ihr demokratisches Recht ausüben frei entscheiden zu können. Das gilt auch für diejenigen KatalanInnen, die dagegen sind, dass die Region komplett unabhängig wird.
Viele bedeutende Teile der katalanischen Gesellschaft, die sich in den letzten Umfragen im Sinne der Unabhängigkeit geäußert haben, haben sich an der Abfrage vom 9. November nicht beteiligt. Etliche unter ihnen sind erst im Zuge der ökonomischen Krise des Kapitalismus zu dem Entschluss gekommen, dass die Unabhängigkeit das beste für sie wäre. Auch wenn die WählerInnen, die bei dieser Abstimmung beide Male mit „ja“ gestimmt haben, die Mehrheit ausmachten, so repräsentieren sie insgesamt nur eine Minderheit, wenn man die Gesamtheit aller Wahl-Berechtigten in Betracht zieht. Trotzdem liegt auf der Hand, dass auch in einer offiziellen Abstimmung die Kombination „ja“/„ja“ wohl eine eindeutige Mehrheit bekäme.
Das ist auch der Grund, weshalb es kein rechtlich anerkanntes Referendum zur Unabhängigkeit geben wird, so lange die PP am Ruder ist. Ein Szenario wie im Falle Schottlands wäre für die PP ganz und gar unmöglich. Die Polarisierung der Massen, zu der es in Katalonien nach der Abstimmung in Schottland kam, könnte aufgrund der Wut über die undemokratischen Manöver der PP noch zunehmen. Dann spielt es auch nur noch eine nachrangige Rolle, ob es zu einem juristisch anerkannten Referendum kommen wird oder nicht. Hinzu kommt natürlich die generelle Verzweiflung wegen der sozialen Härten und der Austerität.
Neuwahlen
Wenn die Entwicklung so weitergeht, dann ist davon auszugehen, dass es zu Neuwahlen kommen wird. Mas und seine CiU werden diesmal nicht vor Wahlen zurückschrecken, da sie hoffen, aus der Stimmung für die Unabhängigkeit Kapital schlagen und zusätzliche Unterstützung sowie Sitze für sich selbst bekommen zu können. Die letzten Wahlen wurden in einer Phase abgehalten, als es zu einer ganzen Reihe von sozialen Kämpfen durch die Massen gekommen ist. Dazu zählte auch ein Generalstreik. Das sorgte für ein besseres Abschneiden der linken Kräfte, und auch der gesellschaftliche Diskurs war eher links geprägt. Wahrscheinlich geht die CiU davon aus, dass es diesmal anders ablaufen wird. Schließlich spielt sich auf den Straßen zur Zeit relativ wenig an Klassenkampf ab. Und dennoch: Die Wut ist weiterhin groß, und der Auftrieb, den das linke Wahlbündnis namens „Podemos“ verzeichnet, hat gezeigt, dass diese Wut sich momentan im Wahlverhalten der Leute ausdrückt.
Einige Stimmen meinen, dass nach Neuwahlen und dem zu erwartenden klaren Ergebnis für die katalanische Unabhängigkeit diese dann nur noch ausgerufen werden wird. Abgesehen davon, dass so ein Vorgehen für den katalanischen Kapitalismus nicht hinnehmbar wäre, radikalisiert sich die Situation zunehmend. Das bisher Unmögliche rückt immer mehr in den Bereich des Möglichen. Wenn die CiU sich für den Weg der Neuwahlen entscheiden wird, dann wird sie versuchen, ein Bündnis aller Kräfte zu schmieden, die sich für die Unabhängigkeit aussprechen. Entsprechend könnte es zu einer gemeinsamen Wahlliste kommen, womit das Ziel verbunden wäre, die Wahl als Abstimmung über eine einzige Frage, die der Unabhängigkeit, zu gestalten. Die Parteien, die den Kapitalismus verteidigen, werden versuchen, die linken Kräfte einzubeziehen und somit unter Kontrolle zu bekommen. Die linken Parteien ICV-EUiA (das Pendant der „Izquierda Unida“ [dt.: „Vereinigte Linke“] in Katalonien), PODEMOS und die CUP, die alle für das Recht auf Selbstbestimmung stehen, sollen in einem solchen Bündnis vereinnahmt werden. Das Minimalziel wird dabei sein zu versuchen, ihren klar auf die Arbeitnehmerinteresen ausgerichteten Kurs aufzuhalten.
Die Linke muss aber nicht nur jeden Versuch zurückweisen, sie sozusagen in einer Volksfront auf Grundlage der nationalen katalanischen Frage einzubinden. Darüber hinaus sollte sie auch verhindern, dass es nur um den Versuch geht, Neuwahlen auf die Frage der Unabhängigkeit zu beschränken. Grundsätzlich darf die Taktik, das Mittel von Wahlen zu nutzen, nur ein Bestandteil in der Strategie der Linken sein. Schließlich liegt die wahre Macht, den Wandel zu erreichen, darin, dass es zu Massenbewegungen kommt und die Bevölkerung für die Unabhängigkeit und soziale Gerechtigkeit mobilisiert wird. Dieser Ansatz sollte dadurch ergänzt werden, dass die inaktiven GewerkschaftsführerInnen zur Aktion gedrängt werden und es erneut zu breiteren Kämpfen auf der Straße kommt.
Viele, die heute für ein unabhängiges Katalonien sind, vertreten diese Meinung nicht nur deshalb, weil sie auf dem demokratischen Recht bestehen, einen eigenen Nationalstaat bilden zu dürfen. Sie wünschen sich darüber hinaus ein Katalonien ohne Austerität und eine andere Form von Gesellschaft. Egal, welchen Charakter die nächste Wahl oder Abstimmung haben wird – die Linke kann jeden Urnengang zu einem Referendum über den Kapitalismus und die Austerität machen. Für diesen Ansatz hat sich das CWI bei den letzten Urnengängen in Irland wie auch im Falle des Referendums in Schottland stark gemacht. In dieser Atmosphäre, wie wir sie in Katalonien erleben, wäre es möglich, ganz klar und eindeutig vorzubringen, dass eine sozialistische Gesellschaft nötig ist. Das wäre der Startschuss für eine breitere revolutionäre Bewegung in allen Regionen Spaniens.
Von daher ist die Idee von einem sozialistischen Katalonien nicht nur als theoretische Möglichkeit zu betrachten, die eventuell nach der Unabhängigkeit in Betracht gezogen werden könnte. Die Perspektive eines sozialistischen Kataloniens muss schon jetzt in die sozialen Kämpfe eingebracht werden, die auf täglicher Basis stattfinden. In der Verknüpfung der verschiedenen sozialen Kämpfe miteinander liegt der Schlüssel für die Unabhängigkeit und für den Kampf gegen die kapitalistische Austerität.
Vereinte Kämpfe für Selbstbestimmung und Sozialismus
Die PP und die politische Elite in Madrid sind durchsetzt mit Fällen von Korruption. Dass sie die demokratischen Rechte in Katalonien einschränken, hängt damit direkt zusammen. Deshalb ist es bei dem Kampf in Katalonien von großer Bedeutung, den Kampf für nationale Rechte in Katalonien mit dem Kampf zum Sturz der PP-Regierung, gegen deren Austerität, den gescheiterten Ansatz von 1978 (dem „Neubeginn“ nach der Franco-Dictatur; Anm. d. Übers.) und den Kapitalismus insgesamt miteinander zu verbinden. Die Haltung „wir machen das einfach alleine“, die einige linke Kräfte, die für die Unabhängigkeit eintreten, vertreten, reicht dabei definitiv nicht aus.“ Die Gesamtheit der Arbeiterklasse, alle abhängig Beschäftigten, müssen vereint werden!
Kapitalistische Parteien wie die CiU und die ERC dürfen nicht mehr die Deutungshoheit in der gesellschaftlichen Debatte haben. Gelingen kann dies nur, wenn von der Bewegung in jeder sich stellenden Frage der Klassen-Standpunkt eingenommen und den oben genannten Parteien eine klare Alternative entgegengesetzt wird. Ein unabhängiges Katalonien in Europa wird kein einziges der bestehenden Probleme lösen. Wenn ein möglicher katalanischer Nationalstaat von einer Koalition aus ERC und CiU regiert wird, dann bleibt die soziale Frage, von der die Bevölkerung Kataloniens betroffen ist, unbeantwortet. Aus diesem Grund ist eine Politik unumgänglich, mit der die gesellschaftliche Debatte nach links verschoben wird.
Wesentliche Teile der spanisch-sprachigen Bevölkerung Kataloniens wie auch die Mehrheit in den übrigen Teilen des spanischen Staates können nur dann für die Idee der Unabhängigkeit Kataloniens gewonnen werden, wenn sie damit die Möglichkeit verbinden, dass eine Lösung auch für ihre Probleme näher rückt. Umgekehrt würde das wie ein Bollwerk gegen national-spanische Sentimentalitäten wirken, die die PP zu schüren versucht, um auf diese Weise (sozusagen „mit Spanien im Rücken“) eine Unabhängigkeit Kataloniens zu verhindern. Dass das linke Bündnis PODEMOS in den jüngsten Umfragen auf Platz Eins gelandet ist, wirkt wie eine neue Weichenstellung für die politische Linke. Dieses Ergebnis wird einen Teil der katalanischen Gesellschaft zu der Annahme bringen, dass auch in Madrid ein Regimewechsel möglich ist und dass eine fortschrittlichere Regierung dort ein echtes Referendum in naher Zukunft in Katalonien erlaubt. Abgesehen davon lässt die gegenwärtige Situation und dieses Umfrageergebnis in Spanien die Frage einer Arbeiter-Regierung in neuem Licht erscheinen. Eine solche Arbeiter-Regierung könnte die nationale Frage ein für alle Mal lösen, weil sie auf der Idee der Arbeiter-Demokratie fußen würde. Damit verbunden wäre eine freie und freiwillige Föderation von Arbeiter-Republiken auf der gesamten iberischen Halbinsel – als Bestandteil einer internationalistischen Lösung.
Für die im Mai 2015 anstehenden Wahlen wird davon ausgegangen, dass in vielen wichtigen Kommunen linke, antikapitalistische Parteien und Bündnisse das Rennen machen werden. Das würde Möglichkeiten eröffnen, die man als historisch bezeichnen kann. Der Prozess der Vereinigung und des Zusammenkommens der Linken findet an verschiedenen Orten und in unterschiedlichem Ausmaß statt. Wesentlich ist, dass jedes neue Bündnis von unten ausgehen und kontrolliert werden muss. Jede neue Formation bzw. Partei muss durch offene und demokratische Versammlungen legitimiert sein, in denen die wichtigsten Forderungen aufgegriffen werden. Dazu gehört die Forderung nach Vergesellschaftung der Banken, dem Recht auf Selbstbestimmung und der umfassenden Erklärung, dass eine sozialistische Gesellschaft den Bedürfnissen der viel zitierten „99 Prozent der Bevölkerung“ am ehesten entspricht. Ebenso wichtig ist es, dass der Kampf für diese Aspekte auf kommunaler Ebene und in den Betrieben aufgenommen wird und sich nicht allein auf der Ebene von Wahlen abspielt.