Impressionen und Schlussfolgerungen über den Generalstreik am 15. Dezember 2014 im belgischen Lüttich
Vorbemerkung: In Belgien plant die neue rechte Regierung, zu der auch de Wever von der flämischen nationalistischen NVA gehört, einen Kahlschlag, der an Thatcher erinnert. Unter anderem soll die dort geltende gleitende Lohnskala angegriffen sowie der Renteneintritt von 65 auf 67 Jahre raufgesetzt werden. Nach Massenversammlungen, einer zentralen Großdemonstration und an den letzten drei Montagen fantastisch befolgte regionale Generalstreiks fand am 15. Dezember der größte nationale Generalstreik seit Jahrzehnten statt. Im Folgenden veröffentlichen wir einen Augenzeugenbericht.
Die seit Wochen anhaltende Streikwelle gegen die umfassenden neoliberalen Angriffe der neuen belgischen Regierung hat nach einer Massendemonstration im November und den regionalen Generalstreiks mit einem landesweiten, 24-stündigen Generalstreik ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht.
von Aleksandra Setsumei-Olszewska und Sascha Wiesenmüller, Aachen
Anders als ursprünglich geplant, gab es jedoch keine zentrale Großdemonstration in Brüssel oder in den anderen Städten; die Streikenden versammelten sich ausschließlich vor ihren Betrieben und organisierten dort Blockaden. Wir, eine Gruppe von Linken aus dem benachbarten Aachen, AktivistInnen aus LINKE, Linksjugend [’solid] und SAV, haben die Gelegenheit genutzt, um vor Ort unsere Solidarität zu zeigen und einen Eindruck vom Kampf der Beschäftigten in 45 km entfernten Lüttich (Liége) zu gewinnen.
Brennende Reifen im Morgengrauen
Nachdem wir uns um halb fünf mit unseren Lütticher GenossInnen trafen, teilten wir uns auf und fuhren die verschiedenen, über die Stadt verteilten Streikposten ab.
An allen Betrieben wurden wir GenossInnen aus „Aix-la-Chapelle“ freundlich aufgenommen. Man schüttelte uns die Hände und bedankte sich vielfach. Diese Offenheit prägte den gesamten Tag.
In einem vor allem von der Metallindustrie geprägten Gewerbegebiet am Stadtrand bot sich vor Beginn der regulären Frühschicht, also gegen 5 Uhr morgens, folgendes Bild: Gruppen von fünf bis 30 Leuten blockierten die Werkstore und Zugänge; an vielen Stellen kontrollierten die Beschäftigten Vorbeifahrende. Kollegen bauten mit Holzbrettern und Nägeln Fahrsperren. Kein LKW oder PKW wurde durchgelassen. Selbst einen Polizeiwagen ließen die Metaller nicht durch. Doch die darin fahrenden Beamten fügten sich – was möglicherweise auch daran lag, dass diese selbst vom Kürzungsprogramm betroffen sind und deshalb nicht allzu viel Sympathie für die gegenwärtige Regierung aufbringen. Vor einigen Monaten gab es Demos und sogar Streiks von PolizistInnen. Es herrschte insgesamt eine entschlossene, kämpferische Stimmung.
Jedoch beklagten viele bei den Gesprächen im Umfeld brennender Reifen und Rauch angezündeter Feuerwerkkörper die geringe Beteiligung an den Blockaden. Vielfach waren es gewerkschaftliche Funktionsträger alleine, die sich daran beteiligten. Dennoch gesellten sich zu den Blockierern vielfach Jugendliche, die von den radikalen Aktionen angezogen wurden, begeistert Reifen anzündeten und Feuerwerkskörper zündeten. Im Rauch und Lärm dieser entstand nach außen ein Bild von Militanz. Aber es waren eben auch wenige da. Die verlorenen Kämpfe in der belgischen Metallindustrie der letzten Jahre wirkten zweifellos nach. Die belgischen Metaller haben in den letzten Jahren schon viel gekämpft, aber eben auch verloren: So gelang es nicht, Asilo-Metall und Ford in Genk vor der Schließung zu retten. Einige sprachen davon, dass diese Regierung allen ArbeiterInnen an den Kragen will, aber man fragte sich auch, wie man dieses Mal siegen kann.
Kampfbereitschaft von unten – Hetze von oben
Beim Abfahren der Streikposten hörten wir im Auto Radioberichte. Wie wir es aus Deutschland kennen, ging die Hetze über alle Kanäle: Im Radio wurde über die „Nötigung Arbeitswilliger“ durch „aggressive Streikposten“ berichtet. Inklusive der streikfeindlichen O-Töne von Bürgern, die wir so auch aus dem GDL-Streik kennen. Der Innenminister hatte im Vorfeld angekündigt, mittels der Polizei Streikbrechern gewaltsam den Eintritt in die Betriebe zu ermöglichen. Diese Hetze und Einschüchterung blieb nicht ohne Wirkung: So hinderten zwar Streikposten bei der Telekommunikationsgesellschaft Belgacom Angehörige eines privaten Sicherheitsdienstes an der Durchfahrt in den Betrieb, aber man fürchtete zugleich schlechte Presse und eine Rufschädigung des Streiks dadurch. Die Kombination aus Kampfentschlossenheit und Angst zog sich wie ein roter Faden durch viele Gespräche. Jedoch blieb Repression durch die Polizei aus. An kleineren Streikposten wurde über die größeren Blockadeaktionen gesprochen. So als am frühen Morgen eine Autobahnauffahrt blockiert wurde. Solche Nachrichten wurden, wenn sie an den Streikposten bekannt wurden, freudig begrüßt.
Die Regierung hatte die Polizei in Alarmbereitschaft versetzt. Beim mehrmaligen Vorbeifahren an der zentralen Polizeikaserne konnten wir sehen, welch martialisches Aufgebot man schon morgens um fünf aufgefahren hatte. Doch wie bei den Metallarbeitern hielt sich die Staatsmacht zurück.
In einer Shoppingmall am Maasufer, an der wir am frühen Morgen waren, hatten Einzelhandelsbeschäftigte eine Barrikade aus Einkaufswagen errichtet. Eine Kassiererin hatte ihre Kinder mitgebracht, die sich zusammen mit den KollegInnen an den vor den brennenden Paletten wärmten.
Ein an vielen Streikposten zu beobachtendes Phänomen war die Teilnahme von Nicht-Betriebsangehörigen, die sich solidarisiert haben. So sprachen wir vor einem bestreikten Bekleidungsgeschäft in der Innenstadt mit einem jungen Erwerbslosen über Solidarität zwischen Lohnabhängigen mit und ohne Job. Er sprach über seinen Frust, trotz hohem Ausbildungsabschluss nichts gefunden zu haben und kannte viele der Streikenden durch Gelegenheitsjobs. Wie die anderen ist er Mitglied der Erwerbslosensektion der CSC (Christlicher Gewerkschaftsdachverband).
Unterstützung bekamen die Streikenden nur von den Kräften der radikalen Linken, die dann auch die Streikposten abgingen bzw. abfuhren. Vor allem eben die GenossInnen der Parti Socialiste de Lutte (PSL), Schwesterorganisation der SAV, mit denen wir unterwegs waren. An vielen Posten trafen wir auch die AktivistInnen der ex-maoistischen PTB, die in Lüttich eine Hochburg haben bzw. deren Jugendverband. Flugblätter wurden dankend angenommen. Nicht mal bei den Beamten des Justizministeriums gab es Berührungsängste. Ein dort Beschäftigter mit guten Deutschkenntnissen sprach mit uns über die Folgen der Agenda 2010 (die sich die belgische Regierung zum Vorbild genommen hat) und die Anti-AKW-Bewegung in Deutschland, die ihm – einem Aktivisten gegen das AKW in Tihange – in vieler Hinsicht als Vorbild erscheint.
Ab 7 Uhr morgens organisierte ein Bündnis aus der PSL, einer Erwerbsloseninitiative und einer Kampagne gegen die Schuldenpolitik sowie vieler EinzelaktivistInnen aus der anarchistischen Szene der Stadt namens AAA (Alliance pour des Alternative á l’Austerité) die Blockade einiger Bankgebäude in der Innenstadt. Die Wände der Gebäude wurden mit Kreide und Parolen bemalt. Eine Wandmalerei von AktivistInnen zeigte lehrreich auf, welchen Anteil der Schuldendienst des Staates am BIP verglichen mit den Ausgaben für Bildung und Soziales hat. Es hatte einen Hauch von Blockupy – nur dass die Polizei bestenfalls im Streifenwagen mal kurz vorbeifuhr und uns in Ruhe ließ. Man achtete darauf, Beschäftigte und Kunden zu überzeugen und mit Argumenten für die Sache des Widerstands gegen die Regierung zu gewinnen. Diese Blockade im Finanzzentrum der Stadt konnte ganze sechs Stunden aufrechterhalten werden.
Beim nächsten Mal größer und länger!
In vielen Betrieben erfuhren wir, dass reichlich wenig für die Aktivitäten am Streiktag mobilisiert wurde. In einem Ministeriumsgebäude sagte ein Gewerkschaftsaktivist, dass seine Gewerkschaft mit lediglich einem Aushang zur Beteiligung an den Aktionen vorm Betriebseingang am Streiktag aufgerufen habe. Besonders entschlossen und politisch agierten die Bahnbeschäftigten. Vor allem die LokführerInnen, mit denen wir am Hauptbahnhof Liége-Guillemins sprechen konnten. Kein Zug fuhr dort. Das Kürzungspaket der Regierung sieht die Privatisierung der bislang noch komplett staatlichen Bahngesellschaft vor. Entsprechend entschlossen und kämpferisch sind deshalb die EisenbahnerInnen. Der dortige Streikposten war auch viel größer als die anderen, denn ihre drei Richtungsgewerkschaften, vor allem die sozialistische, hatten gut zu den Streikposten mobilisiert. Den Gesprächen nach sind die sozialistischen Bahnbeschäftigten die Politischsten. Ein junger (politisch sonst nicht organisierter) Lokführer sprach davon, dass das was in Belgien derzeit geplant sei, Teil einer mindestens gesamteuropäischen Politik sei. Einige Lokführer waren bestens informiert über den Streik der GDL und sogar über die Massenbewegung in Irland, die sich derzeit gegen mit Massenprotesten gegen die Wassersteuer und die gesamte Troika-diktierte Politik der Kürzungen wehrt.
Über die Frage des „Wie weiter?“ herrschte indes überall eine gewisse Ratlosigkeit. Dass der Kampf nach dem 15. Dezember weiter gehen müsse, war den Allermeisten klar. Doch fehlt von den Gewerkschaften – bisher – ein zweiter Aktionsplan. Und es kommt beim weiteren Kampf die Frage nach dem politischen Ziel auf. Sicher, das ganze Kürzungspaket muss weg. Da waren sich alle einig. Diese Regierung müsse weg. Ja, auch das – aber wer soll sie ersetzen? Die Hoffnung, dass eine Rückkehr der Sozialdemokratie in die Regierung irgendwie mäßigend wirken könne, hörte man nicht selten. Zwar ohne Begeisterung für die PS (Sozialdemokratie) vorgetragen. Aber eben als mäßigendes kleineres Übel. Manche bei den Streikposten verfielen in einen Verbalradikalismus, der aber praktisch resignativ wirkte: Ohne „massive Aktionen“ könne man nichts erreichen. „Streiks und Demos alleine reichen nicht“ oder ähnliche Aussagen. Was diese „massiven Aktionen“ sein sollten, da zuckten sie die Achseln. Die Vereinzelung der über die Stadt verteilten Streikposten tat das ihrige dazu. Manch ein Streikposten bestand aus zwei Leuten. Manch ein Kollege, manch eine Kollegin sagte verbittert: „Die anderen streiken lieber zu Hause“. Das war leider wahr, aber angesichts der Taktik der Gewerkschaften nicht überraschend. Festhalten muss man aber: Es wurde flächendeckend gestreikt. So war das Bild in den Straßen ein Widersprüchliches: Alles war zu, die Straßen waren weitgehend leer. Bis auf einige Kioske und die von Privatleuten betriebenen Bretterbuden am Weihnachtsmarkt war nichts offen. Kein Bus fuhr, nur Taxis. Immer wieder sah man Menschen in den roten, grünen und vereinzelt blauen Jacken der drei Gewerkschaftsdachverbände. Aber die kollektive Macht der Arbeiterklasse wurde nicht sichtbar, da auf viele Orte verteilt.
Die Forderung nach der Ausweitung des politischen Streiks auf zunächst 48 Stunden stieß ebenso wie die Forderung nach Vollversammlung in allen Betrieben, Schulen und Unis, auf offene Ohren. Die meisten waren auch der Ansicht, dass es demnächst eine große zentrale Demo geben müsse, die an den Mobilisierungserfolg von November anknüpfen muss. Wichtig ist auch die Form der Vernetzung: Betriebliche Vollversamlungen, auf denen über alle weiteren Kampfschritte und politischen Forderungen diskutiert werden soll, wie sie im Herbst dieses Jahres vielerorts entstanden, müssen flächendeckend gebildet werden. Klar ist: Die belgische Arbeiterklasse ist kämpferisch und versteht die Bedeutung dieser Auseinandersetzung. Nun bedarf es eines zweiten Aktionsplans und einer Ausweitung von Streik und Massenmobilisierung, um diese Regierung und ihre Pläne zu Fall zu bringen.