3 Jahre NSU: Mehr Fragen als Antworten

Verschwörung Nr. 1: Thüringer Behörden lassen das Trio entkommen.

Der Ablauf der Garagendurchsuchung, die Nicht-Verwendung von Hinweisen, die Nicht-Beobachtung des Umfelds der drei, waren keine Zufälle. Innerhalb der thüringischen und eventuell auch der sächsischen Behörden gab es Kräfte, die Böhn­hardt, Mundlos und Zschäpe das Abtauchen ermöglicht haben.

Das denkbar harmloseste Motiv könnte gewesen sein, dass die drei als unbere­chenbar angesehen wurden und als Störfaktor für die gedeihliche Zusammenarb­eit von Behörden mit der Nazi-Szene rund um den Thüringer Hei­matschutz und das V-Leute-Wesen in dem Bundesland. Der „Verfassungsschutz“ hatte die Nazis finanziert und organisiert und glaubte, sie „unter Kontrolle“ zu haben und im eigenen Interesse verwenden zu können.

Denkbar wäre jedoch auch, dass es konkrete Pläne zur Verwendung des Trios oder Einzelner aus der Gruppe gab, die durch eine Festnahme unmöglich gemacht worden wären. Möglich ist auch, dass eine Verwicklung staatlicher Stellen in die bis dato erfolgten Sprengstoff-Aktionen der drei vertuscht werden sollte.

Verschwörung Nr. 2: Die Legende von den „Döner-Morden“

Hier wirken starke Faktoren auch ohne jede organisierte Verschwörung. Der in­stitutionelle Rassismus in der Polizei bildete die Basis dafür, dass nicht in alle Richtungen ermittelt wurde und ohne jeden Beweis eine frühzeitige Festlegung auf die These von Auseinandersetzungen innerhalb des kriminellen Milieus er­folgte.

Allerdings gab es zu mehreren Zeitpunkten ein Eingreifen übergeordneter staat­licher Stellen, die dahin wirkten, Ermittlungen in Richtung Rechtsterrorismus zu diskreditieren oder die verhinderten, dass Taten wie der Kölner Bombenanschlag mit den Morden an migrantischen Geschäftsleuten in Verbindung gebracht wur­den. Der damalige Innenminister Schily (SPD) agierte beim Kölner Keupstraßen­-Anschlag 2004 sehr bestimmt und erteilte ergebnisoffenen Ermittlungen eine kla­re Absage.

Motiv für diese Strategie war, dass der Staatsapparat und die etablierten Kräfte zu diesem Zeitpunkt keine Debatte über einen möglichen Rechtsterrorismus ha­ben wollten. Aus innen- und außenpolitischen Gründen spielte die Propaganda gegen „den Islam“ und dessen angebliche Gefährlichkeit eine wichtige Rolle. Es konnte nicht sein, was nicht sein durfte. Es wurde Druck nach unten erzeugt, alle Ermittlungen nach Rechts sein zu lassen, dieser Druck wurde von den Ermitt­lungsbehörden meist dankbar aufgenommen.

Wenn unsere These über die „Verschwörung Nr. 1“ stimmt, muss es Kräfte in­nerhalb der Polizei und/oder des „Verfassungschutzes“ in Thüringen (oder auch Sachsen) gegeben haben, welche die Verbindung zwischen den Morden und den drei Untergetauchten zumindest ahnten. Wäre das Trio als Mörder der türkischen Geschäftsleute festgenommen worden, hätte dies den ursprünglichen Skandal je­doch vergrößert, so dass keine Hinweise ergingen.

Verschwörung Nr. 3: Der Mord an Michèle Kiesewetter

Die harmlose Variante: Kiesewetter wurde durch den NSU ermordet, aus wel­chem Grund auch immer. Spätestens nach dem Mord an ihr war Teilen des Staats­apparates klar, dass sie und die migrantischen Geschäftsleute von Nazi-Terroris­ten ermordet worden waren. Möglicherweise war auch bekannt, wer die Täter waren. Die Ermittlungen bezüglich des Mordes an der Beamtin wurden allerdings in andere Richtungen dirigiert.

Die dramatischere Variante: Die junge Polizeibeamtin war kein zufälliges Opfer. Sie musste sterben, weil sie Dinge mitbekommen hatte, die den Terroristen oder ihren Helfern hätten gefährlich werden können, möglicherweise über Besuche in ihrer thüringischen Heimat. Staatliche Stellen waren in den Mord involviert oder ließen ihn geschehen, um die vorherigen Verschwörungen länger vertuschen zu können. In der Folge wurde der NSU zur sofortigen Einstellung der Aktivitäten ge­drängt und unter Beobachtung gestellt.

Verschwörung Nr. 4: Das Ende von Böhnhardt und Mundlos

Entweder hielten staatliche Stellen die Zeit für günstig, der NSU auffliegen zu lassen und die „lückenlose Aufklärung“ zu beginnen oder sie fürchteten, der NSU würde nicht weiter still halten. Es wurde eine Vereinbarung mit Beate Zschäpe getroffen, dass sie überleben würde, wenn sie sich an die Anweisungen hielte. Böhnhardt und Mundlos wurden in eine Falle gelockt und getötet. Die wichtigsten Zeugen waren damit aus dem Weg geräumt. Die Vernichtung von Unterlagen hat­te schon vorher begonnen. Über einige Aspekte war schon Gras gewachsen, viele Erinnerungen waren lückenhaft geworden.

Die Beweise für eine „schnelle Aufklärung“ der Affäre im Sinne der Sicherheits­apparate wurden bereitgelegt. Es war den Beteiligen klar, dass das Bekanntwer­den einen Skandal auslösen, zu Misstrauen gegenüber Polizei und Geheimdiens­ten führen und möglicherweise etliche Karrieren beenden würde. Der Staat be­gann den schrittweisen Rückzug, mit dem Ziel, die Affäre und damit ein großflä­chiges „Versagen“ eingestehen zu müssen, aber gleichzeitig die beteiligten Behör­den und Einzelpersonen retten zu können und funktionsfähig zu halten.

Verschwörung Nr. 5: Tarnen, Täuschen und Vernichten

Diese Verschwörung dauert auch heute noch an. Akten werden vernichtet, Zeu­gInnen können sich „nicht erinnern“, Aussagen werden verweigert. Zwei Zeugen sind unter unklaren Umständen ums Leben gekommen. Weiterhin bleibt das Ziel, Hinweise für eine direkte Zusammenarbeit von Nazis und Behörden möglichst gut zu verstecken und die NSU-Affäre als Anhäufung von „Pannen“ zu definieren.

Das Agieren diverser staatlicher Stellen zur NSU ließe sich als Fördern, Tolerie­ren, Ignorieren und Vertuschen beschreiben.

Diese Theorie über eine Verschwörung ist lediglich eine Hypothese und vielen mag es eher wie die Vorlage für einen platten TV-Thriller, inspiriert von der NSU-Affäre, vorkommen. Aber noch einmal: Die vorliegenden Erkenntnisse sprechen nicht weniger gegen eine solche Hypothese als gegen die Annahme des Bundes­tags-Untersuchungsausschusses, es gäbe an keiner Stelle ein direktes Eingreifen von VS, Polizei oder anderen Behörden.

Elemente eines „tiefen Staates“

Die NSU-Affäre ist ein Hinweis auf die Existenz von Elementen eines „tiefen Staates“ in Deutschland. Diverse Gliederungen des Geheimdienst und der Polizei haben faschistische Organisationen mit aufgebaut, finanziert, gehätschelt und vor Strafverfolgung beschützt, um sie bei Bedarf für eigene Zwecke nutzen zu kön­nen, um damit Politik zu machen. Dabei haben sie auch die Terrorzelle NSU vor dem Auffliegen bewahrt. Ob der Schutz der NSU der eigentliche Zweck geheim­dienstlicher Operationen war oder „nur“ das Nebenprodukt von Aktionen zum Schutz von V-Leuten und anderen Gruppen der Nazi-Szene lässt sich aus heutiger Sicht nicht eindeutig sagen.

Der Begriff des „tiefen Staates“ stammt aus der Türkei nach dem Militärputsch von 1980 und bezeichnet die Existenz von speziellen reaktionären Strukturen in­nerhalb der Staatsapparates, die geheim agieren und Verbindungen zu Faschisten und/oder zu mafiösen Verbrechergruppen haben sowie terroristische Methoden z.B. im Kampf gegen die politische und soziale Opposition anwenden.

Auf die Vorgeschichte des „tiefen Staates“, die eng mit der NATO und ihrer Stra­tegie „Stay Behind“ und dem Gladio-Netzwerk zusammenhängt, sind wir schon im Artikel „Nazis.Staat.Kapitalismus“ eingegangen.

Bezüglich der heutigen Bundesrepublik kann man gewiss nur von Elementen des „tiefen Staates“ sprechen. In der Türkei hatte der „tiefe Staat“, am deutlichsten erkennbar in den 1990er Jahren, Einfluss auf die Kommandohöhen der Sicher­heits- und Justizbehörden. Zentrale Politiker und wichtige Geschäftsleute sowie große Teile der Armee- und Polizeiführung waren Bestandteile des „tiefen Staa­tes“.

Unser „tiefer Staat“ umfasst nicht die Leitung von Armee, Polizei und Geheim­diensten und pflegt keine intensive Zusammenarbeit mit dem Kanzleramt. Er be­steht stattdessen in Ansätzen auf verschiedenen Ebenen von Behörden, im eigens­tändigen Agieren von Landesverfassungsschutzämtern und V-Leute-Führern, ge­schützt durch den Föderalismus und das Kompetenz-Wirrwar der verschiede­nen Dienste.

Der Gesamtstaat allerdings zeigt keine großen Anstrengungen, die Elemente die­ses „tiefen Staates“ aufzuspüren und zu isolieren. Im Gesamtkonstrukt des BRD­-Staatsapparates scheint genug „Toleranz“ vorhanden zu sein, solche Strukturen zu dulden und sie machen zu lassen.

Die Kontinuitäten zwischen dem Nazi-Staatsapparat und der jungen BRD, die stramme anti-linke Ausrichtung der Sicherheitsbehörden, der strukturelle Rassis­mus im Polizei- und Justizapparat – dies sind konstituierende Bestandteile und Traditionen des bundesdeutschen Staatsapparates, auf allen Ebenen, in allen Bun­desländern. Sie bilden die Basis, auf der einzelne Beamte oder staatliche Gliede­rungen weitergehen, Nazis aktiv unterstützen, sie als Kettenhunde halten oder zu Hilfstruppen machen. Insofern ist der NSU-Skandal mittelbar auch ein Ergebnis der gesamtstaatlichen Strukturen und nicht nur einzelner Seilschaften in einzel­nen Behörden.

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