3 Jahre NSU: Mehr Fragen als Antworten

Der Tod von Böhnhardt und Mundlos

„Am 4. November 2011 fand man die Neonazis Mundlos und Böhnhardt tot in ei­nem ausgebrannten Wohnmobil in Eisenach. Was 13 Jahre nicht gelingen wollte, ging nun rasend schnell. Mit geradezu hellseherischen Fähigkeiten wurden die Leichen identifi­ziert […] Genauso schnell erkannten sie, daß es eine neonazistis­che Terrorgruppe na­mens NSU gibt, zwei Mitglieder seien nun tot, das dritte, Bea­te Zschäpe, habe sich frei­willig gestellt. Mehr Beteiligte habe diese terroristische Vereinigung nicht. All das wusste man nun sicher. Auch die Zuordnung der Straf­taten gelang geradezu über Nacht […] Wenn es nach den Er­mittlern geht, diente das ausgebrannte Caravan als eine Art fahrende Asserva­tenkammer. Dort fand man – trotz Feuer – alles, was die Aufklä­rung zu einem Kinderspiel machen sollte: eine Jogginghose mit Blutanhaftungen von der ermor­deten Polizistin Michèle Kie­sewetter, die beiden entwendeten Dienstpistolen und Handschellen, Geld vom letzten Banküberfall und ein Langlaufgewehr, eine Pump­gun.“xiv

So fasst der Journalist und Autor Wolf Wetzel in der Junge Welt im Mai 2014 die Folgen des Todes von Böhnhardt und Mundlos zusammen. Für den Untersu­chungsausschuss des Bundestages ist deren Tod aufgeklärt. Doch Fragen bleiben, nicht nur bezüglich der extrem schnellen Aufklärung, sondern auch bezüglich ih­rer Motivation und des Ablaufes.

Warum flohen die beiden nicht? Sie wurden rund zwei Stunden nach dem mut­maßlich von ihnen begangenen Banküberfall in dem Wohnwagen angetroffen. Bei vorherigen Banküberfällen oder Morden hatten sie die Kombination aus Fahrrä­dern und Wohnwagen immer benutzt, um sich sehr schnell vom Tatort zu entfer­nen. Sie hätten Eisenach verlassen können, bevor die Ringfahndung wirksam wur­de.

Warum kapitulierten die beiden Nazi-Terroristen so schnell? Sie hatten bereits in Heidelberg auf Polizisten geschossen. Ihnen stand nicht das SEK, sondern eine Streifenwagenbesatzung gegenüber. Warum horteten sie fast sämtliche Beweise ausgerechnet in dem Wohnwagen, der ihnen als unmittelbarer Fluchtpunkt nach dem Banküberfall dienen sollte? Ohne die Česká-Pistole und weitere Beweismittel wären sie – wenn die Angaben der Behörden stimmen, dass sie bis dahin nichts wussten – lediglich wegen eines oder mehrerer Banküberfälle angeklagt worden. Ihre Sprengstoff-Anschläge von 1998 waren längst verjährt.

Das Handeln von Zschäpe nach diesen Ereignissen ist ebenso nebulös. Sie stellte sich vier Tage später der Polizei. In der Zwischenzeit war sie nicht untätig gewe­sen. Aber was hatte sie gemacht? Sie hatte weder die in der Wohnung befindli­chen Beweise konsequent vernichtet noch hatte sie eine politische Kampagne zur Rechtfertigung ihres Handelns in Gang gesetzt. Die Möglichkeit der Flucht hatte sie scheinbar gar nicht in Erwägung gezogen. Sie war fleißig gewesen, hatte Leute kontaktiert, Botschaften überbracht.

Die Motivation zur Selbsttötung bei Böhnhardt und Mundlos kann nicht ausge­schlossen werden. Es kann sein, dass die beiden unter Druck standen, sich in die Ecke getrieben sahen und daher im Affekt handelten. Aber zu der unklaren Moti­vation kommen konkrete Zweifel am Ablauf der Tat und dem Zustand des Tator­tes.

Im Münchner Prozess gegen Zschäpe und andere wurde im Mai 2014 der Tod der beiden behandelt. Es wurde erneut festgestellt, dass es keine Hinweise für eine dritte Person am Tatort gegeben habe, Polizisten, die vor Ort waren, sagten aus, sie hätten nichts gesehen. Aber die Zeugenaussagen können die Anwesenheit Dritter auch nicht ausschließen. Keiner der Zeugen hat gesehen, wie das Wohn­mobil in Brand gesetzt wurde, keiner hat gesehen, was sich im Inneren abgespielt hat.

Die Jenaer Gerichtsmedizin kommt in ihrer Obduktion zu dem Schluss, dass in den Lungen der beiden keine Spuren von Rauch zu finden seien. Die­ser Obdukti­onsbericht wurde dem Untersuchungsausschuss des Thüringer Landtages erst im März 2014 vorgelegt. Dessen Vorsitzende Dorothea Marx (SPD) bewertete diesen:

„Damit ist es sehr zweifelhaft, dass Mundlos erst das Wohnmobil angezün­det hat und sich dann erschossen hat.“xv

Waffenexperten halten zudem die Existenz zweier ausgeworfener Patronenhül­sen der Pumpgun, mit der Böhnhardt und Mundlos erschossen wur­den, für einen Hinweis darauf, dass eine dritte Person dort gewesen sein müsse. Die Hülse der zuletzt abgeschossenen Patrone wird nur dann ausge­worfen, wenn man das Repe­tiergewehr nachlädt – dieses „kritsch­kratsch“ dürfte vielen aus den Terminator­-Filmen bekannt sein. Wenn Mundlos erst sich und dann Böhnhardt erschossen hat, dürfte nur eine aus­geworfene Hülse im Wohnwagen gelegen haben.

Zu den offenen Fragen bezüglich des Ablaufes im Wohnwagen kommen die eher seltsamen Methoden der Beweissicherung am Tatort. Der damalige Leiter der Po­lizeidirektion Gotha, Menzel, beschlagnahmte als erste Amtshandlung die Spei­cherkarte der Kamera eines Feuerwehrmannes. Die Berliner Zeitung berichtete im April 2014, dass der Wohnwagen schon nach einer Stunde in die Garagenhalle der Polizei abtransportiert wurde. Dabei wurde die Spurenlage im Inneren durchein­ander gebracht bzw. beschädigt. Schon mittags wurde eine Leiche als Uwe Mund­los identifiziert, was den oben zitierten Autor Wolf Wetzel zu der Frage veran­lasst:

„Warum wissen Polizeibeamte auf einmal so schnell so viel, wo sie ansonsten im­mer dadurch auffielen, dass sie nichts wussten?“

Diese Faktenlage beweist nicht definitiv, dass eine dritte Person am Tod von Böhnhardt und Mundlos beteiligt war. Aber sie weist darauf hin, dass die extrem schnell aufgestellte Hypothese der Polizei – Selbstmord, keine dritte Person – nicht die wahrscheinlichste Erklärung für die Ereignisse vom 4. November 2011 ist. Das Handeln der Ermittlungsbehörden an diesem und den folgenden Tagen scheint zudem unerklärlich, wenn man unterstellt, dass sie bis dahin nichts ge­wusst hatten.

Theorien über eine oder mehrere Verschwörungen

Wer der veröffentlichten Meinung widerspricht läuft häufig Gefahr, sich den Vorwurf einzuhandeln, er vertrete „Verschwörungstheorien“, sei demnach nicht ernst zu nehmen, vielleicht ein „Spinner“ oder gar selber ein Verschwörer.

Allein vom Wortsinn her ist eine Theorie über die Verschwörung nötig, um die NSU-Affäre zu erklären. Beim NSU handelt es sich zweifellos um eine Verschwö­rung. Um diese aufzuklären, bedarf es einer Theorie. Diese muss mit der Realität abgeglichen werden, um sich der Wahrheit zu nähern. Insofern ist auch die offizi­elle Version des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses eine „Verschwö­rungstheorie“. Die Frage ist, ob sie wirklich der Realität nahe kommt.

Allerdings gibt es wirkliche „Verschwörungstheoretiker“. Wenn man sich an Einzelheiten fest beißt und behauptet, es könne nur so und nicht anders gewesen sein, wenn man alle Hinweise nur in eine Richtung deutet, dann landet man tat­sächlich bei einer „Verschwörungstheorie“, die zu einem Glaubensbekenntnis wird anstatt als Arbeitshypothese für die Aufklärung einer Verschwörung zu die­nen.

Wir haben oben nur einige der Ungereimtheiten angesprochen und auf die Viel­zahl von Begebenheiten hingewiesen, bei denen sich die Wege des NSU einerseits und der Behörden und ihrer Informanten andererseits gekreuzt haben. Natürlich sind Berührungspunkte zwischen staatlichen Sicherheitsbehörden und denjeni­gen, die illegal gegen den Staat kämpfen, unvermeidlich. Allein die Ermittlungen müssten dazu führen, dass sich diejenigen, die suchen, zeitweise den Objekten ih­rer Suche annähern.

Aber bei den sich kreuzenden Wegen von NSU und Staat stimmen weder das Ti­ming noch die Richtung. In der ersten Phase der Illegalität sind staatliche Stellen extrem nah dran, bekommen Hinweise, frühere, aktuelle oder zukünftige V-Leute haben unmittelbaren oder mittelbaren Kontakt zum NSU. Aber der Staat kommt nicht näher. Schon bald nach dem Beginn der Mordserie ist Schluss mit den engen Kontakten. Das Trio scheint für den Staat nicht mehr zu existieren, die Ermittlun­gen zu den Morden an den migrantischen Geschäftsleuten scheinen in einer ande­ren Welt stattzufinden. Doch abseits der Ermittlungen kreuzen sich erneut die Wege des Staates und des NSU, so durch die Anwesenheit eines hessischen V-Mann-Führers beim Mord an Halit Yozgat in Kassel 2006.

Ab dem Mord an der Polizistin Kiesewetter 2007 gibt es wieder mehr Berüh­rungspunkte. Einige von Kiesewetters Vorgesetzten waren organisierte Nazis. Als Böhnhardt und Mundlos sterben sind die Behörden sofort da, klären angeblich die jahrelang nicht erkannte Mordserie innerhalb weniger Stunden und Tage auf.

Wie wahrscheinlich ist es, dass man sich so oft über den Weg läuft und die Be­hörden den untergetauchten Nazis dabei nicht näher kommen? Wie viele Serien­täter haben es fertig gebracht, so viele ähnlich durchgeführte Banküberfälle zu bege­hen und über zehn Jahre lang nicht geschnappt zu werden? Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass bei neun Morden an Migranten niemand aus dem Poli­zeiapparat auch nur zufällig einige Schritte in die richtige Richtung ermittelt?

Die offizielle Version und der Abschlussbericht des Bundestags-Untersuchungs­ausschusses beschreiben eine Variante, die schlicht unwahrscheinlich ist. Die ganze Affäre hat im November 2011 gestunken und sie stinkt heute noch viel pe­netranter.

Die offizielle Version ist, dass ein Trio von Nazis mit einem relativ kleinen Un­terstützerkreis über dreizehn Jahre abtauchen konnte, weil sämtliche mit den Fäl­len befassten Polizei- und Geheimdienststellen auf ganzer Linie versagt und alle Ermittlungen chaotisch, ineffektiv und mit falschen vorzeitigen Festlegungen ge­führt haben. Das war möglich, obwohl sich von Beginn an eine ganze Reihe von V-Leuten im Umfeld des Terroristen-Trios befunden haben.

Das einzige, was man heute sicher sagen kann, ist, dass diese Version der Wahr­heit nicht allzu nahe kommt. Es ist daher davon auszugehen, dass einige Behör­den weit mehr wissen als die Öffentlichkeit. Ganz vorsichtig ausgedrückt: Es ist wahrscheinlich, dass sich zumindest Teile der Polizei- und Geheimdienstappa­rate die Wahrheit erschließen konnten und können.

Der Schluss daraus ist, dass entweder einzelne Beamte, einzelne Abteilungen oder größere staatliche Zusammenhänge stärker in die Vorgeschichte des NSU, in deren Abtauchen und möglicherweise in deren Taten involviert waren. Teile des Staatsapparates haben wahrscheinlich darauf verzichtet, die Terroristen auszuhe­ben. Aber auch eine aktive Unterstützung durch staatliche Stellen ist möglich.

Daraus wollen wir an dieser Stelle eine eigene „Verschwörungstheorie“, eine Hypothese, darüber, wie es abgelaufen sein könnte, darlegen. Dabei mögen wir in einigen oder im Detail sogar in allen Punkten falsch liegen, vielleicht sogar die brisantesten Spuren übersehen oder falsch interpretieren. Aber diese Theorie dürfte im Endeffekt näher an der Realität liegen als die Schlussfolgerung des Be­richtes des Bundestags-Untersuchungsausschusses, wo nach staatliche Stellen nicht involviert gewesen wären.

Unsere These: Bei der NSU-Affäre handelt es sich nicht um eine, sondern um mehrere Verschwörungen. Zu verschiedenen Zeitpunkten haben verschiedene Behörden gezielt eingegriffen und so die Bedingungen geschaffen, unter denen die NSU morden und unbehelligt bleiben konnte. Die diversen Verschwörungen ergänzten sich bzw. bauten – nicht unbedingt geplant – aufeinander auf.

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