Kapitalistisches Gemetzel in Irak und Syrien
Vorbemerkung: Dieser Artikel erschien am 25. August 2014 auf socialistworld.net. Daher beinhaltet er nicht die aktuellen Entwicklungen der IS-Offensive gegen Kobane. Wir veröffentlichen ihn in einer redaktionell leicht bearbeiteten Fassung.
Die aktuelle Situation im Irak ist nicht nur ein Ergebnis der US-geführten Invasion von 2003, sondern spiegelt auch das blutige Erbe des vor 100 Jahren begonnen Weltkriegs wieder. Als die ISIS die Grenze zwischen Syrien und Irak überschritt, erklärte sie das zur „Beseitigung der Schande von Sykes-Picot“ und zur Gründung eines „Islamischen Staats“ (IS).
Von Georg Maier, SLP (CWI Österreich)
Es stellt sich heraus, dass damit Teile früherer Analysen von MarxistInnen erfüllt wurden, obwohl die ISIS eine reaktionäre Kraft ist. Das CWI hat 2003 einen Zusammenbruch des Irak und seinen möglichen Zerfall in mehrere Kleinstaaten vorausgesagt, das hat sich bewahrheitet, ebenso wie die Vorhersage der Kommunistischen Internationale von 1920, dass die vom Imperialismus damals in der Region gezogenen neuen Grenzen von der Geschichte weggewischt werden würden.
Die Revolutionen von 2011 haben im Nahen Osten und Nordafrika nicht nur eine neue Ära von Arbeiterbewegungen eröffnet, sondern auch massive Kämpfe um die Verteilung von Wohlstand und Ressourcen zwischen den verschiedenen, entlang sektiererischer Linien gespaltenen kapitalistischen Eliten entfesselt. Jetzt, wo die Revolution in vielen Ländern abgewürgt wurde, ist einer der dynamischsten Akteure in diesem Prozess der IS, der seinen Schwerpunkt in den Irak verschoben hat, nachdem er von anderen Rebellen-Milizen aus Teilen Syriens vertrieben wurde. Im Irak konnte er durch seine Kampfkraft das Kräftegleichgewicht zwischen der von Schiiten geführten Regierung des ehemaligen Ministerpräsidenten Nuri al-Maliki und sunnitisch-arabischen Kräften zum Kippen bringen. Der IS hat die zentralen und nördlichen Regionen des Irak nicht alleine erobert. Vielmehr wurde der IS von einer sehr instabilen, zum Teil bereits zerbrechenden Koalition verschiedener sunnitischer Gruppen und Milizen unterstützt, darunter ehemalige Baathisten und lokale Stammeskräfte. Aber offensichtlich ist der IS die am besten organisierte und effektivste Kraft. Der Konflikt zwischen sunnitischen Kräften und der irakischen Regierung besteht seit einiger Zeit und wurde hauptsächlich durch die Repressionspolitik des Regimes und seine antisunnitische Wirtschaftspolitik ausgelöst. Schon Anfang dieses Jahres hatte die Armee die Kontrolle über Falludscha und einige andere Orte und Dörfer im sogenannten „sunnitischen Dreieck“ verloren. Der lang andauernde Bürgerkrieg ist durch die Beteiligung des IS auf eine neue Ebene gelangt und könnte jetzt das Gesamtbild der Region deutlich verändern.
Bei der Betrachtung der aktuellen Situation im Irak, des IS oder allgemein jeder größeren Entwicklung in der Region müssen wir uns nicht nur auf den politischen und militärischen Aspekt, sondern auch auf die wirtschaftliche Dynamik konzentrieren.
Profitgetriebener Krieg
Wie die New York Times schrieb, steht der IS an der Spitze einer Entwicklung, die unter dem Begriff „Kommerzialisierung des islamistischen Terrors“ zusammengefasst werden kann. Er ist im wesentlichen ein „multinationaler Konzern, der Terror als sein Produkt verkauft“ (Financial Times).
Ein wichtiger Teil der finanziellen Aktivitäten dschihadistischer Bewegungen wie Al-Schabab [in Somalia, AdÜ] oder Boko Haram [in Nigeria] kann mehr oder weniger mit Schillers Wallenstein zusammengefasst werden: „Der Krieg ernährt den Krieg.“ Die ISIS ist mindestens einen Schritt weiter gegangen. Das zeigen ihre jährlichen Geschäftsberichte. Der neueste ist ein 400-seitiges Dokument über das „Geschäftsjahr“ November 2012 bis November 2013, aufwändig gedruckt und in der Aufmachung eines typischen Geschäftsberichts eines großen Unternehmens, wurde an verschiedene Investoren verteilt. Diese Berichte beinhalten detaillierte Statistiken über die Anzahl durchgeführter Angriffe, gelagerte Waffen usw., die nicht übertrieben erscheinen und aus anderen Quellen belegt werden können. Die Berichte dienen offenbar einerseits der Rechenschaft gegenüber bestehenden Investoren, andererseits der Gewinnung neuer Geldgeber, bei denen es sich natürlich um reiche Geschäftsleute aus den despotischen Ölstaaten am Golf handelt.
Es ist wichtig, die ambivalente Haltung der saudischen Eliten zum IS zu betonen. Während sie ihn einerseits als sunnitische Kraft betrachten, die als Gegengewicht zum schiitischen (lies: iranischen) Einfluss nützlich ist, gibt es andererseits auch große Ängste. Diese entstehen nicht aus der Barbarei des IS, der hunderte von Gefangenen massakriert und Menschen vor laufender Kamera gekreuzigt hat, sondern aus der potentiellen Bedrohung für das saudische Regime und die Öl-Eliten der Region. Wie schon Osama bin Laden hat auch der IS das Haus al-Saud zu „Verrätern“ erklärt, die gestürzt werden müssten.
Außerdem gibt es gewisse Elemente von Sozialkritik und Verzweiflungstaten in der politischen Praxis des IS und der von Armut geprägten wirtschaftlichen Situation, aus der er hervorgegangen ist. In den Reihen der ISIS kämpfen überwiegend junge, verzweifelte, radikalisierte Männer die oft zuvor keinerlei Rechte hatten und unter Unterdrückung litten. Entfremdet von der bestehenden Gesellschaft, perspektivlos und wütend über eine von ihnen als Unterdrückung der Sunniten wahrgenommenen Politik sehen sie den IS als Möglichkeit zur Gegenwehr. Obwohl sie in die reaktionäre Revolte hineingezogen werden, für die der IS steht gibt es das Potential, dass diese Wut und Frustation sich gegen die Wohlhabenden am Golf wenden könnte. Indem sie den IS und ähnliche Gruppen finanzieren hoffen Teile der Golf-Eliten, den IS für sich kaufen und gleichzeitig ihre Feinde schwächen zu können.
Diese Eliten am Golf haben gewissermaßen das Startkapital geliefert und erwarten jetzt Ergebnisse, die im Geschäftsbericht präsentiert werden. Aber auf Grundlage dieses Startkapitals hat der ISIS geschafft, ein relativ stabiles Wirtschaftsmodell zu schaffen, das hauptsächlich auf Plünderungen und Ölschmuggel basiert. Nach der Eroberung von Mossul haben IS-Kräfte die örtliche Niederlassung der Zentralbank ausgeraubt und etwa 425 Millionen US-Dollar erbeutet. Der Verkauf in Syrien geraubter archäologischer Funde auf dem westlichen Schwarzmarkt hat der Gruppe etwa 36 Millionen US-Dollar eingebracht. In den ölreichen Regionen, die der IS kontrolliert hat die Organisation geschafft, eine – unter den gegebenen Umständen – stabile Ölwirtschaft zu entwickeln, die die Versorgung mit Öl aus Ostsyrien und dem Irak organisiert. In Syrien, wo das Assad-Regime die Ölhäfen kontrolliert, gibt es eine Art ungeschriebenen Vertrag, nach dem der IS das Öl liefert, das dann vom Regime verkauft wird – die Profite werden brüderlich geteilt. Der IS besitzt Schätzungen zufolge ein Vermögen von deutlich über zwei Milliarden US-Dollar.
Auf dieser finanziellen Basis baut der IS auf. Durch die hochprofitablen Geschäfte kann er Söldner rekrutieren und seine Reihen mit frischen Kämpfern auffüllen. Während die wirtschaftliche Lage in der Region immer mehr jungen Menschen jeglichen Ausweg aus Hunger und Elend versperrt, kann der Kampf für den IS als einziger Ausweg gesehen werden. Das deutsche Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ interviewte vor kurzem einen jungen IS-Milizionär. Er stammt aus einem konservativen, von Verzweiflung und extremer Armut geprägten Stadtteil von Istanbul. In Ermangelung irgendeiner Chance auf einen Arbeitsplatz oder irgendeine Art von Zukunft hat er sich der ISIS angeschlossen und verdient jetzt etwa 400 US-Dollar im Monat. Es gibt Berichte über Werbekampagnen des IS, die jungen Männern 10.000 Dollar zur Hochzeit und einen BMW X5 als Boni zusätzlich zum normalen Sold versprechen, wenn sie sich der Miliz anschließen.
Weder die Motivation durch religiösen Fanatismus noch die religiösen, nationalen und Stammesspaltungen in Syrien und dem Irak sollten unterschätzt werden, aber es darf nicht übersehen werden, dass zumindest eine der in den Kämpfen stärksten Kräfte zufällig ein profitgetriebenes, kapitalistisches Unternehmen ist oder sich zumindest wie eines verhält. Direkt profitgetriebene militärische Aktivität, nicht nur stellvertretend für wirtschaftliche Interessen, sondern zur direkten privaten Akkumulation, bringt eine neue Dynamik in den Konflikt in der Region ein. Das ist vor dem Hintergrund wichtiger westlicher und iranischer Interessen besonders entscheidend. Die iranischen Al-Quds-Brigaden, die derzeit im Irak aktiv sind, sind nicht nur eine schiitische Kraft, die gegen Sunniten um politische Macht kämpft, sondern haben auch ihre eigenen Geschäftsinteressen. Die iranischen Revolutionären Garden, zu denen die Al-Quds-Brigaden gehören, sind nicht nur ein wichtiger Teil der iranischen Armee, sondern besitzen auch die größten Unternehmen des Iran, deren bedeutende Investitionen im benachbarten Irak jetzt vom IS bedroht sind.
Der IS und seine Wirtschaft sind mit dem regionalen Kapitalismus eng verwoben, in gewisser Weise ist er sogar ein Schlüsselelement des Kapitalismus in der Region. Er ist ein Ergebnis einer globalen und regionalen Struktur- und einer akuten Wirtschaftskrise. Der IS vertritt gewissemaßen nicht nur eine neue Art des rechten politischen Islam, sondern auch eine neue Form von Kapitalakkumulation, nicht nur in einer eher primitiv-archaischen Weise (Plünderungen usw.), die in Kriegen schon immer vorkam, sondern als ein moderner kapitalistischer Konzern.
Perspektiven für kurdische Unabhängigkeit
Der aktuelle Zerfall des Irak könnte für einige Zeit die größte Möglichkeit zur Schaffung eines formal unabhängigen kurdischen Staats sein. Peshmerga-Kräfte haben ein kurzes militärisches Vakuum während des Vormarschs des IS in den Irak genutzt, um Kirkuk zu erobern, eine ölreiche Stadt, die seit langem zwischen KurdInnen und AraberInnen umstritten ist, und die kurdischen Behörden haben ein Referendum über vollständige Unabhängigkeit angekündigt.
Kräfte wie der IS können nur isoliert und besiegt werden, wenn ihnen ihre Basis unter den SunnitInnen entzogen wird, aber um das zu ermöglichen muss die Masse der SunnitInnen in eine Zukunft ohne Unterdrückung blicken können, die ein besseres Leben ermöglicht. Keine der sich bekämpfenden Eliten, ob sunnitisch, schiitisch oder kurdisch, kann das der Masse der SunnitInnen oder SchiitInnen und KurdInnen bieten. Eine solche Perspektive könnte nur durch die Schaffung einer Bewegung erkämpft werden, die die Arbeitenden und die Armen der Region in einem Kampf gegen Verfolgung, für die Verteidigung demokratischer Rechte und für einen Bruch mit dem Kapitalismus vereint.
Aktuell gibt es aber keine bedeutenden Kräfte in der Region, die für ein solches Programm stehen. Es besteht tatsächlich die Gefahr, dass der westliche Imperialismus einen halb-unabhängigen kurdischen Staat [im Nord-Irak, A.d.Ü.] als neue Operationsbasis, als „Fuß in der Tür“ in der Region nutzen könnte. Die aktuellen US-Luftangriffe dienen nicht nur dazu, den Vormarsch der IS zu stoppen und Massaker zu verhindern, sondern sollen das US-Militär wieder als wichtige Macht in der Region etablieren, die den Verlauf der Ereignisse beeinflussen kann. Das bedeutet, die KurdInnen von US-Interessen und -Interventionen abhängig zu machen. Darüber wurde schon vor dem Vormarsch des IS diskutiert, wie etwa die Unterstützung des israelischen Premierministers Netanjahu für die Idee eines unabhängigen kurdischen Staates zeigt, der sich mehrere US-Politiker angeschlossen haben. Das geschieht im Kontext einer verzweifelten Suche der USA nach neuen Verbündeten in der Region. Aktuell befindet sich Washington in einer inoffiziellen Koalition mit dem iranischen Regime zur Verteidigung der schiitisch dominierten Regierung des Irak. Dieses Bündnis ist sehr instabil und wird wahrscheinlich nicht lange halten.
Das CWI unterstützt das Recht der KurdInnen – und jeder Gruppe, die sich als Nation betrachtet – auf Unabhängigkeit, aber wir warnen auch vor Illusionen in eine unabhängiges Kurdistan. Wenn es entsteht, wird es, wie schon die jetzige autonome Region, ein vom türkischen und westlichen Imperialismus abhängiger Kleinstaat sein. Die autonome Region im Irak wird faktisch von zwei konkurrierenden Mafia-Clans beherrscht, den Barzanis und den Talabanis. Beide haben ihre eigenen Parteien (KDP und PUK), ihre eigenen Banken, Baufirmen und Investmenfonds, Milizen usw.
Gleichzeitig setzen KurdInnen in der Region und der Diaspora sehr große Hoffnungen auf die Perspektive des unabhängigen Staats, die vor dem Hintergrund von fast 100 Jahren blutiger Unterdrückung und Verfolgung vollkommen verständlich sind. Wenn ein kurdischer Staat gegründet würde, würde die Begeisterung vermutlich nicht lange dauern. Aus Syrien wurde schon über Kämpfe zwischen PYD/PKK-Kräften und AnhängerInnen von Barzani und/oder Talabani berichtet. In der Vergangenheit haben die kurdischen Behörden im Nordirak mehrfach türkische Angriffe auf PKK-Kräfte in ihrem Gebiet geduldet.
Wenn die arbeitenden Massen aus verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen sich nicht organisieren und den Kampf aufnehmen, wird das imperialistisc und religiös/ethnisch motivierte Töten sehr wahrscheinlich weitergehen. Die von den einstigen Kolonialherren gezogenen Grenzen werden im aktuellen Chaos zerstört. Aber wenn sie nicht von der Arbeiterklasse geändert werden, wird es neue ethnische und religiöse Grenzen geben, gezeichnet mit dem Blut der Massen.