Immer mehr BefürworterInnen der schottischen Unabhängigkeit
Mehr als 21.000 Menschen haben an den öffentlichen Versammlungen unter dem Motto „Hope Over Fear“ (Hoffnung statt Angst) mit dem Sozialisten Tommy Sheridan teilgenommen.
von Matt Dobson, „Socialist Party Scotland“ (Schwesterorganisation der SAV und Sektion des CWI in Schottland)
In der Endphase vor dem Referendum zur Unabhängigkeit Schottlands, deuten die letzten Meinungsumfragen darauf hin, dass es eng wird: Die Anzahl derjenigen, die angegeben haben, für die Unabhängigkeit stimmen zu wollen, ist so hoch wie noch nie.
In einer Erhebung des britischen Meinungsforschungsinstituts „YouGov“, bei der die Befragten, die angegeben haben, noch unschlüssig zu sein, nicht mitgezählt wurden, hat sich herausgestellt, dass nun 47 Prozent für die Unabhängigkeit stimmen werden. Das ist eine Zunahme um acht Prozent in nur einem Monat. Die Gegenseite hat somit nur noch einen Vorsprung von sechs Prozent und kommt auf 53 Prozent. Mitte August lagen noch 14 Prozent zwischen beiden Lagern.
Für die kapitalistische Elite Großbritanniens führt dieses Umfrageergebnis weniger zur Verwirrung und Naserümpfen. Für die Mehrheit dieser Elite bedeutet es vielmehr den Beginn einer veritablen Krise. Premierminister David Cameron spricht offen von „Sorgen“, die er sich machen würde, und von „Nervosität“, die sich angesichts der Tatsache breit mache, dass die Unabhängigkeit Schottlands Realität werden könnte.
Die Räder scheinen durchzudrehen, die von der Initiative „Project Fear“, dem „Bündnis für ein >Nein<“, den konservativen „Tories“, der sozialdemokratischen „Labour Party“, den Liberaldemokraten und deren „Better Together“-Kampagne in Gang gesetzt worden sind. Die ganze Bandbreite des Establishments und der „angesehenen“ Personen, von der Arbeitgebervertretung CBI über Prominente bis hin zu den Rektoraten der schottischen Elitehochschulen – sie alle bilden einen schrill klingenden Chor, der seine Warnungen vor den finsteren Konsequenzen, die eine Unabhängigkeit Schottlands hätte, immer lauter in die Welt hinausposaunt.
Der Vorsitzende der britischen Sozialdemokratie, „Labour“-Chef Ed Miliband, hat angekündigt, dass er bis zum Schluss nach Schottland reisen wird, weil er nicht Premierminister eines Vereinigten Königreichs Britannien sein will, bei dem Schottland nicht mehr dazugehört, so meint er. Dass „Labour“ die „Nein“-Initiative und das „Project Fear“ unterstützt, fügt der Partei mächtigen Schaden zu. Der Rest an Ansehen, den man unter der Arbeiterklasse noch genossen hat, wird damit zerstört.
Das die Erpressungsversuche ein derartiges Ausmaß annehmen würden, war nicht vorherzusehen. Die anlässlich des Referendums ins Leben gerufene Kampagne „Project Fear“ (dt.: „Projekt Angst“) hat jämmerlich versagt. Man es nicht vermocht, die Unterstützung für eine Unabhängigkeit Schottlands kleinzuhalten.
Die Ängste, die Cameron und Miliband haben, sind durchaus berechtigt. Die klar erkennbare Unterstützung für die schottische Unabhängigkeit, die man in allen Ortschaften und Städten an der Masse an Aufklebern, Informationsständen, Plakaten und Banderolen (die es in offiziellen wie auch selbstgemachten Ausführungen zu bestaunen gibt) ablesen kann, zeigen, wie sehr sich die Millionen von Menschen aus der Arbeiterklasse und die jungen Leute grundlegenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandel wünschen.
Die o.g. jüngste Umfrage von „You Gov“ kommt zu dem Ergebnis, dass die „Ja“-Fraktion unter den Menschen, aus der sozialen Schicht, die hier als „C2DE“ klassifiziert wird (ursprünglich aus der Marktforschung stammende und allgemein angewandte Beschreibung zur Schichtung der brit. Gesellschaft; hier: „skilled working class“ [dt.: „Facharbeiter“], Working class“ [dt.: „Arbeiterklasse“] und „non working“ [dt.: „Erwerbslose“]; Anm. d. Übers.), um neun Prozent zugenommen hat. Es gibt bereits Prognosen, wonach die Arbeiterviertel in Schottland (darunter auch Dundee und Glasgow) mehrheitlich für die Unabhängigkeit stimmen werden. Ein „Ja“ zur Unabhängigkeit steht für den Protest gegen die nicht enden wollende Austerität der vergangenen Zeit, die Chance, den Widerstand gegen die soziale Ungleichheit und die Kürzungen auszuweiten, was von den großen Parteien nicht angegangen wird.
Der aus den Medien bekannte Wirtschaftsjournalist Paul Mason schreibt in einem gerade erst erschienenen Artikel in der Tageszeitung „The Guardian“: „In Schottland gehen unglaubliche Dinge vor sich. Wenn die politisch aufgeladene Stimmung die vergleichsweise unpolitische Welt der Siedlungen des sozialen Wohnungsbaus, der Pubs und Nachtclubs erreicht und die Menschen einnimmt, dann kann dies bei den Meinungsumfragen zu verrückten Ergebnissen führen […]. Sie alle haben die düsteren makroökonomischen Warnungen vernommen, die vom Pfund, den Banken, den Schulden und davon handeln, dass man sich nicht auf die Öl-Einnahmen verlassen könne. Diese Risiken werden jedoch von vielen in Kauf genommen, weil sie lieber einen klaren Bruch mit der Politik in Westminister (Sitz der Londoner Zentralregierung; Erg. d. Übers.) und der neoliberalen Wirtschaftspolitik wollen. […] Sollte es dazu kommen, werden viele mit dem Finger auf andere zeigen. Worin dabei das größte Problem besteht, ist offensichtlich: Es ist unmöglich, über die Parteien, die in Westminster vertreten sind, Widerstand gegen die Ökonomie des freien Marktes zu leisten“.
Paul Mason liegt falsch, wenn er die Siedlungen des sozialen Wohnungsbaus als „vergleichsweise unpolitisch“ beschreibt. Die Mehrheit ist vollkommen entfremdet vom kapitalistischen Polit-Establishment. Es herrscht aber enorme Wut wegen der Kürzungen und sinkenden Lebensstandards. Der Wille zum Wandel ist da. Immer mehr Menschen bringen sich aktiv in die Kampagne für ein „Ja“ mit ein und strömen zu den öffentlichen Versammlungen. Im krassen Gegensatz zu den vorherigen Wahlen, an denen sich immer weniger Wahlberechtigte beteiligten und festzustellen war, dass es kaum Interesse an einer Diskussion, was man sich alternativ zur Mainstream-Politik noch vorstellen könnte, kann man in diesem Fall beobachten, wie sich immer mehr Menschen Hoffnungen machen, dass ein „Ja“ beim Referendum tatsächlich möglich ist und zum ersten Mal im Leben vieler Menschen eine echte Chance darstellt, die Bedingungen zu verändern, mit denen ArbeiterInnen und junge Menschen konfrontiert sind.
Diese Offenheit und die damit verbundenen Erwartungen stehen im Widerspruch zu den Versuchen von Salmond, der SNP und der Führung der offiziellen Kampagne für ein „Ja“, die Erwartungen an ein unabhängiges Schottland nicht zu hoch ausfallen zu lassen. Sie wissen natürlich, dass auf kapitalistische Grundlage am Ende nicht allzu viel dabei herauskommen kann. Es ist nun immer schwieriger vorauszusagen, wie das Ergebnis des Referendums aussehen wird. Auf der Straße wird die Lage immer gespannter, wobei die Aktiven der „Nein“-Kampagne behaupten, von den BefürworterInnen der Unabhängigkeit eingeschüchtert zu werden.
Jim Murphy vom rechten Flügel der sozialdemokratischen „Labour Party“ musste im Zuge seiner Kaffeefahrt Tour durch die Stadtzentren des Landes, die unter dem Motto „Nein, danke!“ stand, erleben, wie aufgebrachte Menschen auf Einkaufstour ihm plötzlich ins Wort fielen oder gar mit Eiern bewarfen und dabei die Liste der Kürzungen aufzählten, die seine Partei zu verantworten hat. Auf Seiten der „Nein“-Kampagne finden sich auch Elemente, die darauf aus sind, spalterische rassistische und sektiererische Spannungen weiter anzuheizen. Nigel Farage von UKIP wird in der Woche vor dem Referendum nach Schottland kommen, um die „Einheit zu retten“. Die „Orange Order“ („Oranier Orden“) wird ebenfalls in der letzten Woche in Edinburgh eine nationalistische Demonstration gegen die Unabhängigkeit durchführen. Der wichtigste Faktor, der bei der Kampagne für ein „Nein“ eine Rolle spielt, die in den Umfragen immer noch vorne liegt, besteht aus den Zweifeln darüber, ob ein unabhängiges kapitalistisches Schottland der Mehrheit der Bevölkerung nützen kann. Die Zusagen der SNP, die Steuern für Großunternehmen zu senken und im Zuge der Austerität weitere Kürzungen vorzunehmen, stellen für die Kampagne für die Unabhängigkeit ein großes Hindernis dar.
Im Gegensatz dazu werden die Veranstaltungen, die die Kampagne „Hope Over Fear – für ein sozialistisches Schottland“ mit dem bekannten Sozialisten Tommy Sheridan und unter Teilnahme der „Socialist Party Scotland“ durchführt, immer größer. Das zeigt, dass das Aufstellen der Forderung, eine sozialistische Politik durchzuführen, die Machtbefugnisse zu nutzen, die die Unabhängigkeit mit sich brächte, um mit der Austerität Schluss zu machen, die Öl- und Gasbranche sowie das Bankensystem in öffentliches Eigentum zu überführen und einen Mindestlohn einzuführen, auf offene Ohren stößt und dazu beiträgt, dass sich immer mehr Menschen für ein „Ja“ entscheiden.
Die „Socialist Party Scotland“ setzt sich mit Nachdruck für ein „Ja“ beim Referendum ein und erklärt dabei ganz klar, dass es darüber hinaus nötig ist, die durch die Unabhängigkeit erlangten Machtbefugnisse zu nutzen, um Schluss zu machen mit der Austerität, den Kürzungen, und öffentliches Eigentum einzuführen sowie die demokratische Kontrolle über die wichtigsten Wirtschaftsbereiche. Nur mit einer sozialistischen Politik und in einem unabhängigen sozialistischen Schottland als Teil einer breiteren, auf Freiwilligkeit basierenden sozialistischen Föderation können die Lebensbedingungen der Menschen aus der Arbeiterklasse wirklich verändert werden. Die ArbeiterInnen und jungen Menschen brauchen außerdem eine neue eigene Partei, die für ihre Interessen kämpft.