Der Gaza-Krieg

poster_gazaPerspektive eines israelischen Sozialisten

Vorbemerkung: Dieser Artikel wurde am 29. Juli 2014 auf socialistworld.net veröffentlicht. Seitdem hat Israel den Krieg gegen Gaza fortgesetzt und es hat neue Entwicklungen gegeben. Der Artikel ist deshalb nicht in allen Punkten aktuell, er beinhaltet aber viele Informationen, die in den deutschen Medien nicht zu finden sind und bietet eine politische Alternative aus Sicht israelischer und palästinensischer SozialistInnen an.

Ganze Familien sind bei lebendigem Leibe verbrannt, Eltern mit ihren Kindern. Die Wohnsiedlung Shajaiya im Gazastreifen liegt komplett in Trümmern. Seit dem 8. Juli wurde mehr als 1.100 PalästinenserInnen das Leben genommen. An diesem Tag – mitten im islamischen Fastenmonat Ramadan – brach das schonungslose Inferno über den belagerten, von Armut gekennzeichneten und dicht bevölkerten Landstrich herein. An Eid Al-Fitr, dem normaler Weise vom 28. auf den 29. Juli festlich begangenen Feiertag am Ende des Fastenmonats Ramadan, kam es zu einem der tödlichsten Luftangriffe auf den Gazastreifen in diesem Krieg. Dabei wurden mehr als einhundert Menschen getötet.

Von Shahar Benhorin

Weil die 1,8 Millionen BewohnerInnen dieses Gebietes im Schnitt nur 17 Jahre alt sind, haben die umfassenden israelischen Bombardements schätzungsweise 250 Kinder zu Todesopfern werden lassen. Die meisten der getöteten EinwohnerInnen waren an den Kampfhandlungen nicht selbst beteiligt. Es wird von mehr als 6.000 Verletzten berichtet. Die zehntausenden von Traumatisierten sind dabei nicht eingerechnet. Viele haben ihre Wohnungen verloren. Über 100.000 Menschen sind zu Flüchtlingen in der eigenen Heimat geworden.

Das einzige Kraftwerk im Gazastreifen ist getroffen worden. Und es wird berichtet, dass die Instandsetzung über ein Jahr in Anspruch nehmen wird. Dieses Kraftwerk sorgte zusammen mit dem Strom, der in Israel dazugekauft wurde, dafür, dass die Masse der Bevölkerung im Gazastreifen ein paar Stunden am Tag mit Elektrizität versorgt werden konnte. Neben den Wasser- und Abwasserleitungen ist nun auch dieses Kraftwerk zerstört worden.

Im Gazastreifen gibt es keinen sicheren Ort und keine Möglichkeit zu entkommen. Jeder neue Konflikt ist brutaler als der vorherige. Die Bombardierung der Schule der Vereinten Nationen (UN-RWA) und des Waffa-Krankenhauses wie auch der Moscheen machen wieder einmal den Zynismus der israelischen Propaganda deutlich, mit der versucht wird, das massenhafte Töten von ZivilistInnen als „unglücklichen Unfall“ zu beschreiben. Einige Menschen sind von „Warnraketen“ getötet worden, die auf Gebäude abgefeuert werden, bevor sie dann in Schutt und Asche gelegt werden. Diese „humanitären“ Maßnahmen, mit denen die Bevölkerung gewarnt werden soll, sind nichts anderes als der propagandistische Anstrich, um den wahren Charakter der Handlungen zu vertuschen, die als Staatsterrorismus zu bezeichnen sind.

Die immer wieder vorgebrachten Lügen der israelischen Regierung über den Krieg als „Verteidigungsmaßnahme“ und davon, dass man „keine Wahl“ habe, stehen in diametralem Widerspruch zu dem bestehenden Kräfteverhältnis und der systematischen militärischen und wirtschaftlichen Aggression. Hinzu kommt die umfassende Unterdrückung der Bevölkerung in Gaza durch den Staat Israel.

Diese Propaganda wird zudem widerlegt durch die vergleichsweise geringe Anzahl an israelischen Opfern in diesem Krieg. Drei ZivilistInnen sind in Israel tragisch ums Leben gekommen. Hinzu kommen 53 israelische Soldaten, die ihr Leben nutzlos opfern mussten. Das sind mehr Tote als die Zahl derer, die in Folge von Raketeneinschlägen und Mörserangriffen durch die Hamas und andere palästinensische Milizen aus dem Gazastreifen seit 2001 innerhalb der israelischen Grenzen zu Tode gekommen sind.

Allerdings hat das israelische Raketenabwehrsystem mit der Bezeichnung „Iron Dome“ fast alle Raketen abgefangen, die nachweislich das Potential haben, ZivilistInnen treffen zu können. Es ist kein Zufall, dass nur einer der drei ZivilistInnen, die in Israel ihr Leben gelassen haben, von einer Rakete getötet wurde und dass er arabischer Beduine aus dem Süden Israels war, dem – wie zehntausenden von Beduinen im Süden des Landes – aufgrund der rassistischen Politik des israelischen Staates jegliches Recht auf Persönlichkeitsschutz aberkannt wird. Das Dorf, in dem er wohnte, wird offiziell nicht als existent betrachtet, weshalb es den EinwohnerInnen auch nicht erlaubt ist zu bauen oder irgendeine Art von Schutz für sich zu errichten. Sie erscheinen auf keiner Karte, was der Grund dafür ist, dass das „Iron Dome“-System einfach alle Raketen ignoriert, die über deren Köpfe fliegen. Die anderen beiden Opfer kamen durch einen Mörserangriff kurzer Reichweite um. Einer von ihnen war Gastarbeiter aus Thailand, der gezwungen wurde, seine Arbeit auch unter Beschuss in einem Gewächshaus fortzusetzen.

Die Anzahl der israelischen Soldaten, die seit Beginn der Bodenoffensive am 18. Juli ihr Leben gelassen haben, ist höher als bei allen vorherigen Militärangriffen auf den Gazastreifen. Die Intifadas (arab. für „Aufstände“) sind dabei mit eingerechnet. Die hat ungewöhnlicherweise allerdings noch nicht zu einem bedeutenden Rückgang in der hohen Kriegsunterstützung in der israelisch-jüdischen Öffentlichkeit geführt. Hier hat die Angst vor den Raketen und möglichen durch die Tunnel der Hamas ausgeführten Angriffen auf ZivilistInnen sich in eine starke, blinde, national-chauvinistische Stimmung verwandelt.

Während die Meinungsumfragen Produkte manipulativer Befragungen sind und in vielen Fällen die nicht-jüdische Bevölkerung einfach ignorieren (die 25 Prozent ausmacht), scheint es jedoch so zu sein, dass unter der israelisch-jüdischen Bevölkerung eine große Mehrheit von ungefähr 85 Prozent sich gegen einen Waffenstillstand ausspricht und eine Fortsetzung des Kriegs unterstützt – was ein höherer Wert ist, als in den Tagen des Beginns der Bodeninvasion.

Diese angeheizte reaktionäre Stimmung basiert jedoch nicht nur auf der Angst vor den Raketen, die von der Regierung ausgenutzt wurde. Es gibt auch die verzweifelte Haltung, dass diese Runde des Kriegs bei einem Waffenstillstand zum jetzigen Zeitpunkt, keine der Versprechungen der Regierung bezüglich Sicherheit, erfüllen würde, wie das bei früheren Kriegen der Fall war. Nach drei Wochen von Krieg und Blutbädern ist die Hamas immer noch in der Lage Raketen auf Tel Aviv und andere Bevölkerungszentren Israels abzuschießen. Jede bösartige und erfundene Idee, dass das Massaker an Familien im Gazastreifen, die Sicherheitssituation für die israelische Öffentlichkeit verbessern kann, wird einmal mehr erschüttert werden.

Gescheiterte „Friedens“gespräche

Wie ist es zu diesem Krieg gekommen? Eine neunmonatige Scharade formaler Verhandlungen zwischen Israel und der PLO (Palästinensische Befreiungsorganisation) scheiterte im April nachdem es Provokationen der israelischen Netanjahu-Regierung gegeben hatte. Die ganze Verhandlungsphase wurde dazu genutzt, eine Steigerung der Angriffe auf die PalästinenserInnen, einschließlich des Tötens von 61 Menschen in den besetzten gebieten, der Zerstörung hunderter palästinensischer Wohnungen und der Ausweitung der Siedlungen im Westjordanland und Ost-Jerusalem, zu verdecken.

Die Belagerung des Gazastreifens wurde verschärft und das Waffenstillstandsabkommen, das Israel im November 2012 nach der letzten Runde des Kriegs unterzeichnete, wurde gebrochen. Damals hatte die Netanjahu Regierung widerwillig zugestimmt, den Belagerungszustand etwas zu lockern, insbesondere etwas mehr Raum für Fischerei und Landwirtschaft zu gewähren. Stattdessen wurden Fischer dann aber mit tödlicher Munition beschossen, die nur wenige hundert Meter von der Grenze entfernt waren. In der Zwischenzeit waren die Führungen von Hamas und Fatah dazu gedrängt worden, eine schon lange diskutierte Einheitsregierung in der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) zu bilden, was formal die Spaltung zwischen den beiden parallel existierenden Behörden in den PA-Enklaven des Westjordanlands und in Gaza beendete.

Darauf reagierten die israelischen Führer mit einer Kampagne, um die Hamas wieder aus der Koalition herauszubekommen und um zu verhindern, dass diese bei Wahlen teilnehmen kann. Dabei war die israelische Regierung international sehr isoliert und verlor sogar einiges der Unterstützung durch seine Förderer in Washington. Am 30. April brachte Israel dann einen Hamas-Aktivisten im Gazastreifen um, der eine führender Milizionär war. Das war die erste Aktion dieser Art seit dem Waffenstillstand von 2012. In diesem Zeitraum, April und Mai, gab es gleichzeitig einen deutlichen Rückgang der Raketenbeschüsse aus dem Gazastreifen, nachdem es im März eine scharfe Eskalation solcher Angriffe durch den Islamischen Dschihad gegeben hatte (der damit auf die Ermordung von drei seiner Kämpfer reagiert hatte). Im Mai wurden nur vier Kurzstreckenraketen abgeschossen. Am 11. Juni führte dann der Mordversuch Israels an einem Polizeioffizier der Hamas zum Tod eines siebenjährigen Jungen, der dabei verwundet wurde und seinen Verletzungen innerhalb weniger Tage erlag.

Einen Tag später verschwanden drei israelische Jugendliche im Westjordanland, die dann brutal von einer kleinen Gruppe von Terroristen ermordet wurden. Netanjahu und Co bringen diese Gruppe mit der Hamas in Verbindung. Vor ein paar Tagen hat dann ein israelischer Polizeisprecher zugegeben, dass die Polizei nicht davon ausgeht, dass der Mord von der offiziellen Hamas Organisation geplant oder in Auftrag gegeben wurde. Das hat Netanjahu nicht davon abgehalten, diese Situation zynisch auszunutzen, Hamas zu beschuldigen und dass diese „dafür zahlen wird“ – und wahrscheinlich auch den Tod der Jugendlichen einige Zeit vor der israelischen Öffentlichkeit geheim zu halten.

Er hat dann einen militärischen Überfall auf das Westjordanland befohlen, dessen Ausmaß deutlich größer war, als alles, was in den letzten Jahren zu beobachten war. Es kam zum Tod von mehreren Protestierenden und zur Verhaftung hunderter palästinensischer Aktivisten, die mit der Hamas in Verbindung gebracht werden, einschließlich Parlamentsabgeordneter der Hamas. Es wurden auch fünfzig frühere Gefangene verhaftet, die 2011 im Abkommen zur Freilassung des israelischen Soldaten Shalit aus der Haft entlassen worden waren und mit der Ermordung der Jugendlichen nichts zu tun hatten. Als die Leichen der Jugendlichen gefunden wurden, hetzten Netanjahu und sein Umfeld zur „Rache“ auf und feuerten die nationalen Spannungen dadurch weiter an. Rassistische Banden, die von Kahanist-Neofaschisten geführt wurden, griffen arabisch-palästinensische ArbeiterInnen und PassantInnen an. Ein palästinensischer Jugendlicher wurde aus Ost-Jerusalem entführt, brutal zusammen geschlagen und bei lebendigem Leib verbrannt.

Als dann Demonstrationen und Unruhen der PalästinenserInnen in Ost-Jerusalem und innerhalb Israels zunahmen, haben die verschiedenen Milizen im Gazastreifen ihr Projektilfeuer verstärkt. Der bewaffnete Arm der Hamas, Azzadin Al-Qaasam, wurde ebenfalls in diese Aktionen hineingezogen. Die Kontrolle der Netanjahu-Regierung über diese von ihr angeheizte Eskalation wurde schwächer. Dieser Krieg gegen Gaza ist vor allem ein Krieg, um das Prestige des israelischen Regimes und dieser Regierung zu wahren. Gleichzeitig will die Regierung den Eindruck erwecken, zurückzuschlagen, Rache zu üben und Zeit für eine Lösung der Sicherheitsprobleme der israelischen Öffentlichkeit zu finden.

Wachsende Verzweiflung

In Wahrheit hat sich die Sicherheitsstrategie der Rechten als kompletter Fehlschlag erwiesen. Die Politik der Belagerung und von militärischen Offensiven gegen den Gazastreifen hatte zum Ziel die Hamas zu stürzen. Sie führte jedoch nur zu einer militärischen Stärkung der Hamas und anderer Milizen, die immer weiter entwickeltere Raketen in ihrem Besitz haben. Diese Politik hat zu mehr Verzweiflung geführt, zu Trauer, Toten und Zerstörung und dadurch auch die Sorge vor terroristischen Racheakten gegen israelische ZivilistInnen wachsen lassen.

Amira Hass, ein selten ehrlicher israelischer Journalist, der jahrelang in den besetzten Gebieten lebte, beschreibt die Krisenspirale des israelischen Regimes deutlich: „Diejenigen, die Fatah und Yassir Arafats Friedensvorschläge für zwei Staaten zurückgewiesen haben, haben nun Hanija, Hamas und BDS („Boycott, Deinvestment, Sanction“-Kampagne, A.d.Ü.) erhalten. Diejenigen, die Gaza zu einem Internierungs- und Straflager für 1,8 Millionen Menschen gemacht haben, sollten sich nicht wundern dass von dort aus Tunnel gebaut werden. Diejenigen, die diese Einschnürung, Belagerung und Isolation gesät haben, ernten Raketenbeschüsse. Diejenigen, die 47 Jahre lang willkürlich die Grüne Linie übertreten haben, Land enteignet und permanent ZivilistInnen durch Überfälle, Beschuss und den Siedlungsbau geschädigt haben – welches Recht haben sie ihre Augen zu verdrehen und von palästinensischem Terror gegen ZivilistInnen zu sprechen? “ (21 Juli, Haaretz).

Nun muss Netanjahu halbherzig zugeben, dass das israelische Regime kein Interesse mehr daran hat, in naher Zukunft die Hamas im Gazastreifen zu stürzen, da man sich nicht sicher sein kann, welche Kräfte diese ersetzen würden. Es gibt schon kleine Kräfte, die mit Da’esh (ISIS) in Verbindung gebracht werden. Während der israelische Außenminister, Avigdor Lieberman, sich für die völlige militärische Übernahme des Gazastreifens ausgesprochen hat (was seinen früheren Aussagen für „völlige Lostrennung“ widerspricht), hat das Sicherheitskabinett der israelischen Regierung die Kriegsziele wie folgt benannt: „Erreichung einer langfristigen Ruhe und Sicherheitsstabilität in der palästinensischen Arena, auf der Basis einer militärisch geschwächten und auf Gaza eingeschränkten Hamas als der verantwortlichen Körperschaft bei wirtschaftlich-ziviler Stabilisierung.“

Auf der einen Seite zeigt der derzeitige Angriff auf Gaza wie weit die Situation in der Region sich seit den Volksaufständen des „Arabischen Frühlings“ im Jahr 2011 verschlechtert hat. Als die vorherige Netanjahu Regierung einen Krieg gegen Gaza im Jahr 2012 begann, traute sie sich nicht, diesen länger als eine Woche zu führen oder eine Bodeninvasion durchzuführen. Innerhalb weniger Tage waren die Außenminister Tunesiens und Ägyptens bei Besuchen in Gaza und die israelische Regierung musste fürchten, dass das Friedensabkommen mit Ägypten aufgekündigt wird und die Gärung unter den PalästinenserInnen weiter zunimmt. Aufgrund der arroganten und kriminellen Solidarität durch den ägyptischen Präsidenten Sisi, der es sich wagte Israels Vorgehen explizit zu verteidigen und der Unterstützung der internationalen Mächte, hat Israel mehr Handlungsfreiheit für sein barbarisches Vorgehen. Der derzeitige Krieg wird nun länger und tödlicher selbst als der Angriff von 2008/2009.

Wirtschaftliche und soziale Probleme

Der Krieg scheint der Regierung auch dazu zu dienen, die Aufmerksamkeit von der sozialen Krise und den sich vertiefenden wirtschaftlichen Problemen Israels abzulenken. In einer Zeit eines ernsthaften wirtschaftlichen Abschwungs, führt die Regierung nun – während des Krieges – wichtige Privatisierungen und andere Angriffe durch.

Trotzdem bewegt sich dieses Regime schnell auf eine schwere Krise in der Zeit nach dem Krieg zu. Das zeigt sich schon in bisher in Kriegszeiten ungekannten öffentlichen Konflikten zwischen Ministern, die versuchen die Verantwortung für die enorme Dimension der Krise abzuwälzen. Obwohl sie die Zerstörung von zwanzig Hamas-Tunneln als großen strategischen Sieg präsentieren, erscheint es unwahrscheinlich, dass sie Sieges-Bilder produzieren können: nach weiteren Raketenangriffen, die zur Annullierung internationaler Flüge führten, konnten Milizionäre am 28. Juli wieder durch einen Tunnel die Grenze überqueren und fünf israelische SoldatInnen töten. All diese fundamentalen Probleme bleiben bestehen.

Ihre neue Forderung nach einer Demilitarisierung des Gazastreifens von Tunneln und Raketen wird kaum von der Hamas akzeptiert werden und dient nur propagandistischen Zwecken. Es ist heuchlerisch, eine einseitige Demilitarisierung zu fordern, die Israel erlauben würde alle Mittel zu weiteren militärischen Aggressionen gegen die PalästinenserInnen zu bewahren. Und selbst wenn Hamas irgendetwas in dieser Richtung formell akzeptieren würde, gibt es keine Chance einer realen Umsetzung vor Ort.

Hamas hat bisher wenig gegenüber den israelischen Forderungen nachgegeben. Vor dem Krieg war ihre Popularität deutlich gesunken, aber nun konnte sie sich als Verteidigungskraft präsentieren und wieder an Unterstützung gewinnen. Die Versuche des Hamas Führers Khaled Mash’al die Rolle eines nationalen Führers zu spielen, indem er religiöse Unterschiede weniger betont, haben Ähnlichkeit mit der Rhetorik des Hisbollah Führers Hassan Nasrallahs während des Israel-Libanon Kriegs 2006. Nun ist die israelische Regierung damit konfrontiert, dass Sisis Kollaboration dazu geführt hat, dass er in den Augen der Hamas kein verlässlicher Unterhändler mehr ist. Die israelische Führung besteht aber auf dem „ägyptischen Vorschlag“ (vielleicht unter Einbeziehung Saudi-Arabiens), welcher ohne die Zustimmung der Hamas erarbeitet wurde, da sie versuchen eine Übereinkunft zu verhindern, die möglicherweise die Türkei oder Katar beteiligt, da dies die Hamas stärken würde.

Die wesentlichen Forderungen der Hamas und des Islamischen Dschihad in dieser Runde des Krieges richten sich gegen die israelisch-ägyptische Belagerung und die israelischen Aggressionen. Trotzdem wird Netanjahu kaum eine dieser Forderungen akzeptieren können, da das sein Prestige massiv untergraben und ihn, trotz aller militärischer Macht, als als Verlierer auf der politischen Bühne darstellen würde. Die Zurückweisung der Vorschläge von Obama und dem UN Sicherheitsrat für einen Waffenstillstand drückt aus, dass das israelische Regime möglicherweise noch mehr in Isolation gerät.

Antikriegsproteste

Internationale öffentliche Kritik und Proteste gegen Israel werden angesichts dieses Krieges zunehmen, wie die aktuellen Solidaritätskundgebungen mit Gaza zeigen, die weltweit stattfinden. Außerdem sind die israelische Regierung und ihre Partner – und das ist von großer Bedeutung – nun besorgt über die dramatische Radikalisierung, die in der palästinensischen Gemeinschaft im Westjordanland, Ost-Jerusalem und innerhalb Israels festzustellen ist.

Nach dem Blutbad, das im Wohnviertel namens Shajaiya im Gazastreifen angerichtet wurde, wo mehr als einhundert Personen getötet wurden, wurde von der palästinensischen Gewerkschaft im Westjordanland ein allgemeiner palästinensischer Proteststreik organisiert. Dasselbe tat der Oberste Rat der arabisch-palästinensischen Bevölkerung in Israel am Montag, dem 21. Juli. Weil es keine weitere gewerkschaftliche Unterstützung für diese Aktion gab (der israelische Gewerkschaftsbund „Histadrut“ steht schändlicher Weise hinter dem Krieg! Vgl.: http://www.histadrut.org.il/index.php?page_id=3223) kam es somit nicht in erster Linie zu einem Streik von ArbeiterInnen sondern dazu, dass tausende Kleinbetriebe dicht machten. Sogar einige Filialen der wichtigsten Banken Israels blieben geschlossen, weil die jeweilige Geschäftsführung fürchtete, ansonsten den Streik zu brechen.

Am Donnerstag, dem 24. Juli, demonstrierten im Westjordanland dann Zehntausende. Das sind erste Zeichen, die auf die wirkliche Macht aufmerksam machen, mit der die wilde Reaktion und der Wahnsinn dieses Massakers gestoppt werden kann: durch gemeinsamen Kampf der Massen, der von der Fatah und Hamas, die in eine Sackgasse hinein manövriert sind, über Jahre hinweg so bewusst verhindert wurde. Zwar kann man noch nicht von einem Massenaufstand des Volkes sprechen, dennoch sind überall im Westjordanland Proteste organisiert worden. Die größte Demonstration war ein Protestmarsch des Flüchtlingslagers Al-Am`ari in der Nähe von Ramallah zum Checkpoint Qalandiya. Daran haben 20.000 Menschen teilgenommen. Das ist nicht nur die größte palästinensische Demonstration gegen den Angriff auf den Gazastreifen, den es bisher gab, sondern eine der größten Demonstrationen, die es im Westjordanland bisher gegeben hat (vgl.: http://www.youtube.com/watch?v=7RP0_66GTuI).

Die TeilnehmerInnen an diesem Protest skandierten Solidaritätsbekundungen mit den BewohnerInnen des Gazastreifens und setzten ihren Marsch trotz schwerer Militärrepression mutig fort. Eine Barrikade mit brennenden Reifen wurde errichtet, um die Übergriffe des Militärs abzuwehren. Feuerwerk wurde gezündet und einige Jugendliche warfen Steine und Molotowcocktails bei Zusammenstößen mit der Armee. In Bethlehem wurden Fahrzeuge und Müllcontainer zu Barrikaden errichtet. Tausende DemonstrantInnen kamen in Nablus zusammen. Eine kämpferische Demonstration fand vor der israelischen Siedlung Bet-El statt, die außerhalb des israelischen Staatsgebiets in der Nähe Ramallahs liegt.

Die israelische Polizei erschoss neun Teilnehmer, ein weiterer fand durch die Hand eines Siedlers den Tod. Damit soll die Bewegung unterdrückt werden. Dies zeigt, wie nötig und dringend erforderlich es ist, den Kampf durch demokratisch organisierte Volksausschüsse voranzutreiben, die helfen können zu mobilisieren, zu koordinieren und die Proteste und Aktionen zu schützen. Dazu gehört auch der Einsatz von Waffen – unter demokratischer Kontrolle.

Innerhalb Israels haben in Nazareth, Kfar Kana und in Umm Al-Fahem Demonstrationen stattgefunden, an denen trotz der Verhaftung hunderter palästinensischer BürgerInnen des Staates Israel und BewohnerInnen Ost-Jerusalems über den ganzen Monat Juli hinweg Tausende teilgenommen haben. Gleichzeitig kam es am Samstag, dem 26. Juli, im Zentrum von Tel Aviv zu einer Demonstration gegen den Krieg mit 6.000 TeilnehmerInnen hauptsächlich jüdischen Hintergrunds. Das war die bislang größte Demonstration gegen den Krieg innerhalb Israels. Tausende kamen trotz der Tatsache, dass vorherige Antikriegsproteste eher klein ausgefallen sind und zum Ziel physischer Übergriffe durch Rechtsextreme wurden (auch Mitglieder unserer Organisation wurden Opfer solcher Angriffe). Außerdem kam es zu dieser Demo, obwohl keine etablierte israelische Partei sie unterstützt hat. Auch die „links“-liberale, nationalistische Partei „Meretz“ nicht, die den Krieg unterstützt und nun einen Waffenstillstand fordert. Ein dritter Grund, der einer Teilnahme an dieser Manifestation entgegengestanden hätte, war, dass die Polizei nur eine Stunde vorher noch über Radio und Fernsehen angekündigt hatte, dass sie die Veranstaltung abgesagt habe. Später wurde sie dann doch noch zugelassen.

Einige DemonstrantInnen wurden am Ende der Kundgebung erneut physisch attackiert. An diesem Tag wurden in Jerusalem auch zwei Palästinenser von Rechtsextremen schwer verletzt, beinahe gelyncht. Doch diese Tausenden könnten jetzt die Zuversicht für weitere tausend Menschen liefern, um gegen den Krieg auf die Straße zu gehen. Insgesamt kann man die Entwicklung dieser Proteste als Wendepunkt bezeichnen.

Der Weg zu einem palästinensischen Staat

Tnua´t Maavak Sozialisti“ / „Harakat Nidal Eshtaraki“, die Schwesterorganisation der SAV und Sektion des CWI in Israel/Palästina, erklärt sich voll und ganz mit dem palästinensischen Volk solidarisch, das den brutalen und barbarischen Aggressionen Israels ausgesetzt ist. Und wir erklären uns solidarisch mit den „einfachen“ Menschen in Israel, die aufgrund des Krieges Verluste zu beklagen haben. Unter der momentan zu verzeichnenden arrogant-chauvinistischen Stimmung bei einer Mehrheit der israelischen abhängig Beschäftigten gibt es die Suche nach einer grundsätzlichen Lösung. Netanjahu macht immer unmissverständlicher klar, dass er in Wirklichkeit keinen unabhängigen palästinensischen Staat, egal in welcher Form, neben Israel unterstützt. Die Teile der israelischen herrschenden Klasse, die er vertritt, sehen auch nur einen Hinweis auf einen möglichen lebensfähigen und unabhängigen palästinensischen Staat nicht in ihrem Interesse. Sie fürchten, dass ein palästinensischer Staat ihnen nicht dabei helfen würde, den nationalen Konflikt und die ganze Situation in der Region stabil zu halten. Zuspruch erfahren sie dabei von etlichen Vertretern des US-amerikanischen Establishments. Im Gegenteil haben sie die Befürchtung, dass ein solcher Staat von politischen Kräften kontrolliert werden könnte, die aus ihrer Sicht unseriös sind, militärisch gestärkte wären und in der Zukunft weitere territoriale Forderungen und Forderungen nach weiteren Ressourcen aufstellen könnten. Demnach wäre ein palästinensischer Staat ein starker destabilisierender Faktor, der die Lage in der Region zuspitzen würde. Das gilt aus ihrer Sicht auch für die palästinensischen Gemeinden in Israel und der Diaspora.

Netanjahu hat vor kurzem erklärt: „Es darf unter keinen Umständen zu einer Vereinbarung kommen, die zu einer Situation führt, in der wir die Kontrolle über die Sicherheit für das Territorium westlich des Jordans aufgeben“. Dieser Mangel jeglichen politischen Willens auf Seiten der derzeitigen israelischen Regierung, irgendeine Form eines unabhängigen Staates zu gewähren, markiert eindeutig die Rolle dieses Regimes, den blutigen Konflikt endlos fortsetzen zu wollen. Die jüdisch-israelischen ArbeiterInnen werden irgendwann zu dem Schluss kommen, dass sie keine dauerhafte Sicherheit, Frieden und soziale Gerechtigkeit erleben werden, so lange sie an der Seite ihrer eigenen Ausbeuter und Unterdrücker gegen die PalästinenserInnen stehen.

Es ist an den sozialistischen Kräften, immer wieder nicht nur zu erklären, wie nötig es für israelische ArbeiterInnen ist, für unmittelbare ökonomische Forderungen kämpfen zu müssen, sondern auch prinzipiell die Rechte der PalästinenserInnen unterstützen zu müssen. Das ist ein wesentlicher Schritt, wenn man wirklich zu gerechtem Frieden kommen will, der auf der Beendigung der Besatzung, Aufhebung der Belagerung, einem Stopp des Siedlungsbaus und aller Formen von Unterdrückung gegenüber PalästinenserInnen basiert. Dazu gehört auch die Aufhebung sämtlicher nationaler Privilegien und das Ende der Diskriminierung jeglicher Minderheit sowie die praktische Erfüllung der gleichen Rechte und des Rechts auf Selbstbestimmung. Das bedeutet im Endeffekt den Aufbau eines wirklich unabhängigen, gleichberechtigten, demokratischen und sozialistischen palästinensischen Staates neben einem sozialistischen und demokratischen Israel mit einer gemeinsamen Hauptstadt Jerusalem und gleichen Rechten für Minderheiten als Teil der Kampfes für einen sozialistischen Frühling im Nahen Osten.

Shahar Benhorin ist Aktivist der Gruppe „Tnua´t Maavak Sozialisti“ / „Harakat Nidal Eshtaraki“ (dt.: „Bewegung für den sozialistischen Kampf“; Schwesterorganisation der SAV in Israel/Palästina) in Israel.