Deutschland und der Erste Weltkrieg

Vickers_machine_gun_crew_with_gas_masksKapitalismus bedeutet Krieg

„Und endlich ist kein andrer Krieg für Preußen-Deutschland mehr möglich als ein Weltkrieg […]. Acht bis zehn Millionen Soldaten werden sich untereinander abwürgen und dabei ganz Europa so kahlfressen, wie noch nie ein Heuschreckenschwarm. Die Verwüstungen des Dreißigjährigen Kriegs zusammengedrängt in drei bis vier Jahre und über den ganzen Kontinent verbreitet; Hungersnot, Seuchen, {…] rettungslose Verwirrung […] in Handel, Industrie und Kredit […]; Zusammenbruch der alten Staaten […], derart, dass die Kronen zu Dutzenden über das Straßenpflaster rollen […] absolute Unmöglichkeit, vorherzusehn, wie das alles enden […] wird […].“ Diese düstere Prophezeiung aus dem Jahr 1888 entstammt der Feder des revolutionären Sozialisten Friedrich Engels.

von Steve Kühne

Als er diese Sätze schrieb, bestieg in Deutschland Wilhelm II den Kaiserthron. Die führenden kapitalistischen Weltmächte konkurrierten um Rohstoffvorkommen und Absatzmärkte. Südamerika, Asien und Afrika waren unter den Großmächten aufgeteilt.

Die deutschen Kapitalisten konnten sich bei der Durchsetzung ihrer Interessen erst seit 1871 auf einen einheitlichen Staat stützen und so waren sie spät dran und fühlten sich übervorteilt. Bis auf einige über den ganzen Globus verstreute Gebietsfetzen hatte das Kaiserreich keine Kolonien. Die Herrschenden in Deutschland schauten voller Eifersucht auf England, das Reich, in dem – so ein viel zitierte Ausspruch – aufgrund seiner weltweiten Ausdehnung die Sonne niemals untergehen würde.

Die deutsche Wirtschaft entwickelte sich beinahe explosionsartig. England, das Mutterland der Industrialisierung, war in der Montanindustrie schon bald abgehängt. Deutsche Unternehmer schrien heißhungrig nach Kohle und Erz. Die chemische und die Elektro-Industrie waren entwickelt wie nirgends in der Welt und suchten Absatzmärkte.

Der krankhafte Geltungsdrang Wilhelms II. kam den Herren in den Chefetagen der Konzerne da nur recht. „Ich führe Euch herrlichen Zeiten entgegen“, versprach der Monarch mit einem peinlichen Hang zur Wiederholung bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Doch wollte Deutschland im Namen der Interessen der Großunternehmer wachsen, konnte dies nur in der direkten Konfrontation mit anderen Hegemonialmächten geschehen. Das war es, was Friedrich Engels voll und ganz bewusst war, als er die eingangs zitierten Sätze notierte.

Entente und Mittelmächte

England und Frankreich versuchten ihrerseits ihre Pfründe zu sichern. Sie konkurrierten mit Deutschland und anderen Mächten, um Einfluss und Absatzmärkte. In den Ländern selbst war keine Steigerung der Profite mehr zu erzielen. In verschiedenen Branchen war die Konkurrenz schon ausgeschaltet und Monopole hatten sich gebildet. Höhere Profite ließen sich nur im Ausland erzielen. Der Kapitalismus trat in die Periode des Imperialismus. Nach der Aufteilung der Welt gerieten die imperialistischen Mächte zunehmend in Konflikt.

Bündnisse sollten die Erfolgschancen dabei erhöhen. Mit dem Jahr 1894 stand die französisch-russische Allianz. Der deutsche Generalstab tobte: Das hieß im militärischen Ernstfall Zweifrontenkrieg gegen gut gerüstete Gegner.

Doch damit nicht genug. Zehn Jahre später, 1904, legten in einem herzlichen Einvernehmen, einer „Entente Cordiale“ England und Frankreich ihre kolonialen Streitigkeiten bei. Drei Jahre später wiederholte England diesen Schritt mit Russland. Die „Entente Cordiale“ wurde die „Triple Entente“.

Einkreisungsangst und Expansionsdrang

Deutschlands Reichskanzler von Bülow prangerte diese „Einkreisung“ in einer wütenden Rede im Reichstag an. Dabei unterschlug er, dass sie das Ergebnis der wilhelminischen Außenpolitik war: Der Chef der deutschen Kriegsmarine, Admiral von Tirpitz, taufte ein Großkampfschiff nach dem nächsten. Der englische Imperialismus sah dieses millionenschwere Aufrüstungsprogramm als Bedrohung seiner Vormacht und suchte so eine Stellung durch starke Bündnisse aufzuwerten.

Als 1905 Russland durch die Niederlage im Krieg gegen Japan dramatisch geschwächt war und mit einer Revolution im Innern fertig werden musste, gingen die Lichter im deutschen Generalstab nicht mehr aus. Jetzt oder nie! Krieg gegen Frankreich! Russland würde in dieser Situation seinem Verbündeten wohl kaum zu Hilfe kommen. Den Krieg verhinderte damals nur ein Umstand: Im Ruhrgebiet lief ein gewaltiger Streik mit bis zu 250.000 Beteiligten. Die Sozialdemokraten, so fürchtete man, würden diesen Arbeitskampf im Kriegsfall zum Generalstreik ausweiten und damit die deutsche Militärmaschinerie zu Fall bringen noch ehe sie richtig in Gang gesetzt werden könnte.

Von da an war der Zweifrontenkrieg sozusagen unabänderliches Schicksal. Der deutsche Generalstab unter Schlieffen erarbeitete dafür einen in jeder Hinsicht wahnwitzigen Plan. Mit einem schnellen Aufmarsch erst im Westen und einer weit ausholenden Umgehung der Maginot-Linie an der deutsch-französischen Grenze durch Belgien und die Niederlande sollte Frankreich binnen vier bis sechs Wochen geschlagen werden. Dann sollte das deutsche Heer gegen Russland aufmarschieren.

Das militärische Problem glaubte man damit gelöst; das politische – die Sozialdemokratie – bestand weiter.

Kriegskanzler Theobald von Bethmann-Hollweg

Seit 1909 war Bethmann-Hollweg, ein detailverliebter, intelligenter und strategisch-denkender Bürokrat, Reichskanzler. Er war sich im Klaren darüber, dass die sozialdemokratische Arbeiterbewegung nicht aufzuhalten war. Er kannte aber auch ihre inneren Streitigkeiten und wusste sie nutzbar zu machen. Der Kanzler wollte den rechten Flügel der SPD für sich gewinnen und lockte ihn mit Schönheitsreformen im Vereinsrecht. Die Linken in der Partei, ganz besonders Revolutionäre wie Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, waren gegen solcherlei Avancen immun. Leute wie Eduard Bernstein, Friedrich Ebert oder Philipp Scheidemann hingegen nicht.

Den Spitzenvertretern der deutschen Eliten war diese Taktik jedoch einigermaßen suspekt: Wilhelm II. forderte in internen Briefen: „Erst die Sozialisten abschießen, köpfen und unschädlich machen, wenn nötig Blutbad – und dann Krieg nach außen.“ Es kostete den Kanzler einiges an Mühe den Kaiser von seinem Vorgehen zu überzeugen.

Bethmann-Hollweg gedachte England zu neutralisieren. Nur, wenn es gelänge das Inselreich aus dem großen Krieg herauszuhalten, so sein Gedankengang, wäre ein militärischer Erfolg möglich. Und so machte der Reichskanzler in der zweiten Marokko-Krise 1911 nach anfänglicher Kriegsrhetorik einen Rückzieher: Deutschland hatte Ambitionen in Marokko, worauf bereits Frankreich seine Finger legte, England stützte den Verbündeten, Bethmann-Hollweg deeskalierte.

Als Ende 1913 Frankreich dem Osmanischen Reich, das mit Deutschland verbündet war, Kredite in Höhe von 500 Millionen Goldfrancs unter der Bedingung gewährte, französisches Kapital in großen Mengen ins Land zu lassen, fuhr der Kanzler den französischen Botschafter an: „Deutschland […] braucht Expansion, es hat einen Anspruch auf einen Platz an der Sonne […] Wenn ihr Franzosen ihm das verweigert […] so könnt ihr sein Wachstum doch nicht aufhalten! Aber ihr werdet es dann […] überall zum Gegner haben.“ Dem kriegslüsternen Industriellen Krupp versprach Bethmann-Hollweg in die Hand einen europäischen Krieg vom Zaume zu brechen, sobald sich ein Vorwand böte.

Julikrise 1914

Der Vorwand war bald gefunden. Als am 28. Juni 1914 Österreichs Kaiser, Franz Joseph, von der Ermordung seines Neffen erfuhr, soll er gesagt haben: „Da hat eine höhere Kraft die Ordnung wieder hergestellt, die ich selbst nicht aufrecht erhalten konnte.“ Franz Ferdinand war bei Hofe nicht beliebt. Seine Frau war nicht von seinem Stand. Außerdem erstrebte der Erzherzog Reformen, die den nationalen Minderheiten mehr Rechte einräumen sollten. Ausgerechnet seine Ermordung musste nun als Kriegsgrund herhalten. Der Attentäter Gavrilo Princip war bosnischer Serbe. Was die Doppelmonarchie behaupten ließ, die serbische Regierung stecke hinter dem Anschlag.

Aus Berlin kam umgehend grünes Licht: Sollte Österreich-Ungarn Serbien den Krieg erklären, wäre die Folge, dass Russland, welches sich als Schutzmacht der Balkanstaaten aufspielte, Österreich-Ungarn den Krieg erklären würde. Deutschland wollte dem Verbündeten dann beistehen. Als Russland am 30.Juli die Generalmobilmachung verkündete, erklärte Deutschland sowohl seinem östlichen, als auch seinem westlichen Nachbarn den Krieg. Der Schlieffen-Plan griff.

Die große Hoffnung der Arbeiterklasse war die SPD, die – ohne es zu wissen – 1905 den großen Krieg verhindert hatte. Sie stimmte am 4.August 1914 für die Kriegskredite, die das Kaiserreich für den Krieg benötigte. Mit einer Mischung aus Versprechungen und Drohungen hatte Bethmann-Hollweg es geschafft die bürokratisierte Spitze der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung auf seine Seite zu ziehen. Menschen wie Ebert und Scheidemann lebten nicht wie die ArbeiterInnen, die sie nun zur Beteiligung an einem imperialistischen Krieg verurteilten. Ihnen ging es vergleichsweise gut. Die Gesellschaft, die sie geschworen hatten zu stürzen, hatte für sie viel zu bieten und so stimmten sie in der Hoffnung auf ein paar sozialpolitische Zugeständnisse für die Kriegskredite. Der Kaiser feierte dieses Votum mit den Worten, er kenne nun keine Parteien mehr, sondern nur noch Deutsche.

Wie auf einer belagerten Burg im Mittelalter interne Kämpfe untersagt waren, so sollten nun auch die Deutschen fester zusammenrücken. Der Burgfrieden bedeutete für die Arbeiterklasse den Verlust demokratischer Rechte wie Presse- und Versammlungsfreiheit. Und während Rüstungsfirmen Profite ungeahnten Ausmaßes einstrichen, durften ArbeiterInnen nicht einmal um mehr Lohn geschweige denn aus politischen Gründen streiken. Dieser Verrat erledigte die II.Internationale und sollte furchtbare Folgen haben.

Widerstand statt Kriegsbegeisterung

Wenn, wie der bürgerliche Historiker George F. Kennan behauptet, der erste Weltkrieg die „Urkatastrophe des 20.Jahrhunderts“ war, so war das „Augusterlebnis“, der kollektive Jubeltaumel der Massen in den Krieg die „Urlüge des 20.Jahrhunderts“. In der Landbevölkerung herrschte Verzweiflung: Wer sollte die Ernte einholen? Pastoren berichteten von weinenden Kirchgemeinden.

Kriegsbegeisterung gab es vorrangig in den Großstädten. Bis zu 30.000 Menschen feierten auf öffentlichen Plätzen mit patriotischen Gesängen das Herannahen des allgemeinen Waffengangs. Schaut man jedoch genauer hin, so sieht man vorrangig Bürgerliche und Kleinbürger auf diesen Festen. Die SPD hingegen organisierte allein in der letzten Juliwoche in 160 Städten fast 300 Antikriegsveranstaltungen, -demos und –aktionen mit 750.000 TeilnehmerInnen. Als am 28. Juli Österreich-Ungarn Serbien den Krieg erklärte, verbot Großberlin jede Antikriegsdemonstration. Dennoch kamen zur SPD-Kundgebung mehr als 100.000 Menschen! Selbst führende Militärs stellten sich die bange Frage, ob man unter diesen Umständen überhaupt in den Krieg ziehen könnte.

Doch der Verrat der SPD änderte alles. Auf einmal argumentierte die SPD-Spitze für den Krieg und verteidigte die kaiserliche Regierung. Ein Hamburger Sozialdemokrat fasste die Verwirrung mit den treffenden Worten zusammen, man wisse nicht wer irrsinnig sei, man selbst oder der Parteivorstand.

In Berlin gab es bis in die letzten Julitage hinein Zusammenstöße zwischen ArbeiterInnen, die gegen den Krieg demonstrierten und kleinbürgerlichen Jugendlichen, die für den Krieg auf die Straße gingen. Nicht selten fürchteten die ArbeiterInnen die Verarmung der eigenen Familie, wenn der Mann und die größten Söhne ins Feld zu ziehen hatten. Das Potential für einen entschlossenen Kampf gegen den Krieg war riesig, dass die SPD es nicht nutzte war pflichtvergessen, dass sie den Krieg per Handzeichen im Reichstag mit absegnete war Verrat. Ein Verrat, den sich selbst Lenin kaum vorstellen konnte. Der russische Revolutionär glaubte, die Meldung über die Zustimmung der SPD zu den Kriegskrediten sei eine Fälschung der zaristischen Geheimpolizei.

Doch auch in den Reihen der deutschen Sozialdemokratie formierte sich Widerstand: Rosa Luxemburg rief die Gruppe Internationale, die spätere Spartakusgruppe als oppositionellen Zusammenschluss gegen den Kriegskurs der SPD-Führung, ins Leben. Karl Liebknecht lehnte als erster Abgeordneter am 2.Dezember 1914 die Kriegskredite ab. Seine kompromisslose Haltung brachte ihm den Gestellungsbefehl an die Front ein, wo er seine Einheit dazu brachte, den Krieg zu bestreiken.

Militärisches Desaster

Von Anfang an war der Krieg für alle Seiten ein militärisches Desaster. Die Generalstäbe scheiterten mit ihren Plänen. Bethmann-Hollweg schaffte es nicht, England aus dem Krieg herauszuhalten. Der Marsch durch das neutrale Belgien- so wollte es der Schlieffen-Plan – musste als Legitimierung der englischen Kriegserklärung an Deutschland herhalten. Doch schon im September drohte während einer französischen Gegenoffensive der Zusammenbruch der überdehnten Front. Die Deutschen zogen sich zurück und igelten sich ein. Für den Stellungskrieg gab es keinen Plan B. Engels‘ Vision wurde in den Schlachten um Verdun und an der Somme schreckliche Wirklichkeit. Zusammen wurden dort zwei Millionen Soldaten getötet oder verwundet. Für sie war der einfache Fingerzeig der Generäle auf ihren Karten ein Todesurteil. Der entscheidende Durchbruch und die Rückkehr zum Bewegungskrieg wurden nirgends erreicht.

Der Krieg wurde in ungeahnter Art technisiert. Das Maschinengewehr mähte Hunderte nieder, die Artillerie pflügte vor Offensiven tagelang den Boden um die Stellungen des Gegners um. Gas war der Schrecken ganzer Regimenter. Panzer walzten sich über die Schützengräben hinweg, U-Boote machten selbst vor Passagierschiffen keinen Halt und Flugzeuge veranstalteten, um dem bekannten deutschen Piloten Manfred von Richthoven zu folgen, „eine besondere Art der Menschenjagd.“

Wer ist „Lehnin“?

Das Jahr 1917 gilt gemeinhin als das „Epochenjahr“. Die deutsche Oberste Heeresleitung überzeugte sowohl Kaiser als auch Kanzler von der Wiederaufnahme des uneingeschränkten U-Bootkrieges. Dass die US-Imperialisten auf diesen Vorwand nur gewartet hatten, war den Planern in der OHL mehr als klar. Präsident Woodrow Wilson hatte schon 1915 nach der Versenkung des Dampfers „Lusitania“, bei der auch US-Bürger den Tod fanden, erklärt, dass einer Fortsetzung des uneingeschränkten U-Bootkrieges unweigerlich die Kriegserklärung der Vereinigten Staaten an Deutschland folge.

Doch die trügerische Hoffnung die britischen Inseln binnen einiger Wochen niederzuringen war eben größer als die Furcht vor einem US-Engagement in Europa. Würden die USA überhaupt so schnell ausreichend Truppen und Material anlanden können, um strategische Bedeutung in den Kampfhandlungen zu erlangen? Die OHL meinte nein.

Die SPD spaltete sich in einen kriegsbefürwortenden Flügel, die Mehrheits-SPD (MSPD) und einen den Krieg ablehnenden (Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands, USPD).

Der deutsche Generalstab wusste, dass ihm die Zeit in Riesenschritten davonlief. Seit der russischen Revolution im März 1917 rumorte es bei Freund und Feind. Französische Truppen hatten die Ausführung von Befehlen verweigert, Züge requiriert und waren unter der roten Fahne nach Paris aufgebrochen, um die Regierung zu stürzen und den Krieg zu beenden. Nur eilig herbeigeholte Eliteeinheiten konnten den Aufstand niederschlagen. In der Marine Österreich-Ungarns rebellierten Matrosen. Bereits 1916 hatte es in Deutschland „Hungerstreiks“ der Metall- und Rüstungsarbeiter gegeben. Wie lange war unter solchen Umständen die Disziplin noch aufrechtzuerhalten?

Das Jahr 1917 demonstrierte die Qualität des Verrats der Führungsriege der II. Internationale. Ein Flugblatt, ein Aufruf, eine Zeitung mit Forderungen, Ideen für die unmittelbar notwendigen Schritte in millionenfacher Auflage an allen Fronten und in den europäischen Großstädten verteilt, hätte 1917 die Lunte an das Pulverfass der kontinentalen Revolution gelegt. Doch nichts davon war da! Statt den Ruf der Massen nach einem Ende des Gemetzels und nach der Abschaffung des kapitalistischen Systems endlich zu erhören, prägte der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann die auch im Zweiten Weltkrieg so verhängnisvolle Vokabel vom zu erkämpfenden „Endsieg“.

Die deutsche Führung hatte unterdessen eine verzweifelte Idee. Sie unterbreitete russischen Revolutionären, die im Schweizer Exil leben mussten, das Angebot mit einem Eisenbahnwaggon durch Deutschland und das neutrale Skandinavien nach Russland auszureisen. Ihr Kalkül: Die Revolutionäre würden die Revolution vollenden und Russland so aus der Entente herauslösen. Dann könnte man frei werdende Truppen im Westen einsetzen, um die Front endlich zu durchbrechen und in großangelegten Operationen auch Frankreich niederzuringen. Das wäre er dann, der „Endsieg“.

Als Kurt Riezler, Berater des deutschen Reichskanzlers, dem Generalstab die Liste mit den für die Fahrt vorgesehenen Namen vortrug, machte General Ludendorff am Rande seines Blattes eine kurze Notiz: „Wer ist Lehnin?“ Man kannte die unbestrittene Führungsperson der Bolschewiki in diesen Kreisen ganz einfach nicht. Das steht der bürgerlichen Mär entgegen, wonach Lenin bei seiner Ankunft im revolutionären Russland im Sold des deutschen Kapitalismus gestanden habe.

Wohl aber setzte er vom ersten Tage seiner Ankunft an, alles daran die Beschlüsse der II. Internationale doch noch umzusetzen. Im Falle eines großen europäischen Krieges, sollte die Krisensituation dazu genutzt werden, den Kapitalismus als solchen abzuschaffen.

Mit dem militärisch von Trotzki geleiteten Petrograder Aufstand im Oktober 1917, erreichte Lenin genau das. Gleich als erstes Dekret der Sowjetmacht telegrafierten die Bolschewiki in alle Welt: „Diesen Krieg fortzusetzen, um die Frage zu entscheiden, wie die starken und reichen Nationen die von ihnen annektierten schwachen Völkerschaften unter sich aufteilen sollen, hält die [Sowjet-]Regierung für das größte Verbrechen an der Menschheit […].“ Das Fanal war gesetzt.

„Wir hauen ein Loch hinein!“

„Wir müssen es nur machen wie in Russland, dann wird bald alles anders werden“, war der Schlüsselsatz einer Unterhaltung zwischen Frauen, die vor einem Hamburger Lebensmittelgeschäft Schlange standen. Ein Polizeispitzel schrieb ihn auf und meldete ihn an seine Vorgesetzten. Trotz des imperialistischen Raubfriedens, den Deutschland der jungen Sowjetmacht im März 1918 in Brest-Litowsk abgerungen hatte, machten die Ereignisse in Russland den Arbeiterinnen, die ihre Kinder kaum ernähren konnten und voller Angst um ihre Männer an der Front waren, Hoffnung auf ein Ende des ganzen Wahnsinns. Die Spitzelberichte der Jahre 1917 und 1918 waren voll von solchen Beispielen.

Im Januar 1918 legten die Munitionsarbeiter in massiven Streiks ihre Arbeit nieder: Sie verlangten eine Verbesserung der Versorgung und ein Ende des Krieges. Die Industriellen erschraken vor der Aussicht einer womöglich siegreichen sozialistischen Revolution. Und so forderten die Eliten von den Männern in der OHL endlich den entscheidenden Durchbruch an der Westfront.

Im Frühjahr massierten Ludendorff und von Hindenburg noch einmal Hunderttausende Soldaten entlang der Westfront und eröffneten ihre letzte Offensive. Durchbruch durch die gegnerische Front, koste es was es wolle! Als Kronprinz Ruprecht von Bayern, seinen Zweifel an dem ganzen Unternehmen kaum verbergend, Ludendorff fragte, was denn die operativen Ziele des Angriffs seien, gab dieser barsch zurück: „Das Wort Operation verbiete ich mir. Wir hauen ein Loch hinein. Das Weitere findet sich.“ Besser konnte Ludendorff kaum ausdrücken, dass selbst er, der heimliche Diktator des Deutschen Reiches, ein Getriebener war, der vor dem Gespenst der Revolution in die militärische Offensive hinein floh. Ein Erfolg sollte alles richten, er musste alles richten!

Im Juni und Juli wurde klar, dass es diesen ersehnten Erfolg nicht geben würde. Noch einmal waren 1.000.000 Soldaten gefallen oder verwundet worden. Der Durchbruch blieb wieder aus, US-Truppen unterstützten Frankreich und England und begannen die deutsche Front aufzurollen.

Die deutschen Truppen beschwerten sich erst bei, dann über ihre Vorgesetzten. Sie verweigerten Befehle, streckten die Waffen, liefen über und begannen irgendwann sich selbst die Erlaubnis zum Rückzug zu erteilen. Truppen, die ihren Platz einnehmen wollten begrüßten die zurückflutenden deutschen Infanteristen mit Worten wie „Streikbrecher“.

Na, war sie das nicht, die immer so gefürchtete Revolution? Ludendorff glaubte genau das. Und so heckte er einen letzten, teuflischen Plan aus: Die Sozialdemokraten, die er hasste wie die Pest, sollten in die Regierung, in der Hoffnung, man könne mittels „roter“ Minister einen Frieden ohne Annexionen aushandeln – Schadensbegrenzung. Außerdem hoffte er so seine Verantwortung für die Niederlage auf die MSPD abschieben zu können.

Der verratene Aufstand

Die schluckte in der Hoffnung auf Ministerposten den Köder und machten sich so zum Nachlassverwalter des Kaiserreichs. Als im Oktober Matrosen in Kiel den Befehl zum Auslaufen gegen England verweigerten, spülten die revolutionären Ereignisse ausgerechnet Leute wie Ebert und Scheidemann an die Spitze der Erhebung. Dort vollendeten sie ihren Verrat vom August 1914 und vom Januar 1918, als sie halfen die Munitionsarbeiterstreiks abzubrechen. Im Bunde mit konservativen Militärs ließen sie die Revolution niederschießen. Engels hatte recht behalten, die Kronen rollten über das Straßenpflaster, doch die MSPD-Führung nutzte die Stunde nicht.

Am 11.November beendete ein Waffenstillstand alle Kampfhandlungen und 1919 unterzeichneten die kriegführenden Nationen die Pariser Vorortverträge. Eine Sammlung imperialistischer Dokumente. Das revolutionäre Russland war zu den Verhandlungen nicht einmal zugelassen. Im Versailler Vertrag verlor Deutschland riesige Gebiete, wurde gedemütigt und als Alleinschuldiger des imperialistischen Kriegs bezeichnet. Im Angesicht dieses Papiers gab der französische Marschall Ferdinand Foch zu Protokoll: „Hier liegt die Wurzel für den nächsten Krieg!“

Und zum Unglück für Millionen schätzte er die Situation korrekt ein. Die zerstörerischen Kräfte des Krieges, die Profitgier der imperialistischen Kräfte war nämlich nicht zerstört und entfesselten zwei Jahrzehnte später einen noch weit schlimmeren Krieg. Und so bildeten die mehr als 10 Millionen Todesopfer des Ersten Weltkriegs nur ein Kapitel in der blutigen Geschichte des globalen Imperialismus.

Immerhin, eines war bewiesen, das Morden war nur durch den Aufstand zu beenden. Wäre er siegreich gewesen, hätte er auch die Geschichte der Kriege für immer beendet. Das es nicht so kam war vor allem das Ergebnis des Verrats der sozialdemokratischen Führung.

 

Steve Kühne ist Mitglied des SAV-Bundesvorstandes, Geschichts- und Gemeinschaftskundelehrer sowie Verfasser zahlreicher politisch-historischer Texte, zum Beispiel dem Buch „Die Pariser Kommune“