Vor 125 Jahren, am 20. Juli 1889, wurde beim Internationalen Sozialistenkongress, die internationale Vereinigung aus der Taufe gehoben, die später als Zweite Internationale bezeichnet werden sollte. Bis 1914 debattierten Marxistinnen und Marxisten in ihr lebhaft, wie international der Sozialismus zu erreichen und wie mit Krieg und Regierungsbeteiligung umzugehen sei.
von Michael Koschitzki
Camille Huysmans, Generalsekretär der Zweiten Internationale, stürmte durch die Zimmer des Internationalen Sozialistischen Büros in Brüssel. Es war August 1914. Stimmte es wirklich? Die Reichstagsfraktion der SPD hatte soeben den Kriegskrediten zugestimmt und so den Weg zum Krieg frei gemacht. Lenin hielt zeitgleich im Schweizer Exil die Ausgabe des SPD-Organs „Vorwärts“, die diese Nachricht überbrachte, für eine Fälschung. Wie steht es mit den anderen Sektionen? Die britische Labour-Fraktion stimmt mit einigen Ausnahmen dem Krieg zu. Das französische Parlament stimmt am Tag der Kriegserklärung einstimmig für die Maßnahmen. In Belgien treten die Sozialisten sogar der Regierung bei. Was war aus den Beschlüssen geworden? Verweigerung des Militärdienst, Generalstreik, Kundgebungen in allen Städten: das hatten die Kongresse doch beschlossen. Keine Beteiligung an bürgerlichen Regierungen! 1889 als Hoffnungsträgerin für die Durchsetzung des internationalen Sozialismus gegründet, verrieten die Mitgliedsparteien der Zweiten Internationale nun ihre Prinzipien. Was war geschehen?
Pariser Gründungskongress
Die Internationale Arbeiterassoziation, später erste Internationale genannt, spaltete sich im Kampf von Anarchisten und wissenschaftlichen Sozialisten. Der Zusammenschluss von noch kleinen Arbeiterorganisationen wurde 1876 aufgelöst. Die Arbeiterparteien wuchsen jedoch weiter. Mit dem Wachstum und der Expansion des Kapitalismus entwickelte sich auch die Arbeiterbewegung. Der Marxismus setzte sich als anerkannte Lehre in großen Teilen der Arbeiterbewegung durch. Die Frage der Beziehung zwischen den einzelnen nationalen Teilen stellte sich erneut. „Heimweh nach der alten Internationalen“ nannte es Friedrich Engels.
Doch nicht in allen Ländern gab es Einigkeit. Vor allem der Streit in Frankreich mit den „Possibilisten“ bereitete Kopfzerbrechen. Diese Strömung beschränkte den Kampf der Arbeiter auf betriebliche und wirtschaftliche Forderungen. Politisch stellten sie eine stark gemäßigte Strömung da. 1888 gab es noch zwei Kongresse in Paris. Zum Jahrestag der französischen Revolution im nächsten Jahr sollte das vermieden werden. Doch die Vorbereitung war nicht einfach. „Es ist eine Schererei vor dem Teufel, nichts als Mißverständnisse, Krakeel und Verdrießlichkeit von allen Seiten, und dabei kommt bei der Sache schließlich nichts heraus“ schimpfte Friedrich Engels über die Vorbereitungen. Erst im Nachhinein wurde der Pariser Kongress als Gründungskongress der Zweiten Internationalen bezeichnet.
Er selbst konnte sich aber sehen lassen. 400 Delegierte von 300 Arbeiterorganisationen aus zahlreichen Ländern kamen in Paris zusammen. Neben europäischen Ländern waren Vertreter aus den USA, Argentinien und einer kleinen Gruppe aus Ägypten anwesend. „Proletarier aller Ländern vereinigen wir uns“ stand in großen Buchstaben im Saal Pétrelle geschrieben. Clara Zetkin hielt ihre erste Rede vor großem Publikum und sprach über die Lage der Arbeiterinnen im Kapitalismus. Die Versammlung sprach sich für Frieden und gegen stehende Heere aus.
Im Mittelpunkt der Diskussion stand die Durchsetzung des Achtstundentages. Beschlossen wurde an einem einheitlichen Tag in allen Ländern auf die Straße zu gehen, um „den Arbeitstag auf acht Stunden festzusetzen und die übrigen Beschlüsse des internationalen Kongresses von Paris zur Ausführung zu bringen.“ Letzter Halbsatz wird gerne von Gewerkschaftsführern vergessen, wenn sie den ersten Mai zelebrieren. Denn dieses Datum wurde für die Aktion angesetzt und gilt bis heute als Internationaler Kampftag der Arbeiterklasse.
Am 1. Mai 1890 demonstrierten sie zum ersten Mal. In Wien gingen 50.000 auf die Straße. In Prag, Stockholm und Kopenhagen kamen jeweils 30.000. In Italien wurde gestreikt. Die größte Maikundgebung fand am Sonntag den 4. Mai im Londoner Hydepark mit 300.000 TeilnehmerInnen statt. In Deutschland musste wegen der zu erwartenden Repression auf Demonstrationen verzichtet werden.
„Zeit des Aufbaus der Internationale“
… nannte Charles Longuet, Mitglied der Pariser Kommune und des Generalrats der ersten Internationale, die Jahre bis zur Jahrhundertwende. In vielen Ländern gab es noch keine starke Arbeiterbewegung und kleine oder gespaltene Organisationen. In Großbritannien bekam die Sozial-Demokratische Föderation keinen Masseneinfluss. Die Fabier-Gesellschaft wollte keine Partei gründen. Als Konsequenz gründete sich 1893 auf Initiative des schottischen Bergarbeiters James Keir Hardie die Independent Labour Party, die 1900 der neu gegründeten Labour Party beitrat. Bis dahin war diese bereits auf 376.000 Mitglieder gewachsen und nun ging es rapide weiter.
In Italien überwand die Arbeiterbewegung den Anarchismus und gründete 1892 die Partei, die ein Jahr später den Namen Italienische Sozialistische Partei annahm. Bereits 1892 erhielt sie 26.000 Stimmen bei den Kammerwahlen. Herzstück der ersten Internationalen war die SPD, die 1890 die Sozialistengesetze abschütteln konnte und weiter an Einfluss gewann.
Die Strukturen der Internationale waren in dieser Zeit noch schwach. Es gab keine ständigen Strukturen und ein Kongress berief den nächsten ein. Erst 1900 wurde das Internationale Sozialistische Büro in Brüssel gegründet, das Informationen und Beschlüsse zusammenfasste. Die große Mehrheit der Mitglieder konzentrierten sich in Europa. Diese brachten durch Emigranten getragen die Organisation in die USA. Erst die dritte, die kommunistische Internationale erfasste die koloniale Welt. Im Gegensatz zur Zweiten verstand sie sich als Weltorganisation, deren Diskussionen und Beschlüsse bindend waren. Nichtsdestotrotz waren die Kongresse der Zweiten Schauplatz zentraler Debatten der Arbeiterbewegung international.
Anarchismus und Regierungsbeteiligung
Die ersten Kongresse hatten nochmals die Debatten der Ersten Internationale nachzuarbeiten. Dort stritten Marx und Bakunin, ob politisches Handeln auch auf der Parlamentsebene möglich ist. Dieser Streit wurde auf dem Kongress in Zürich 1893 beigelegt und es wurde beschlossen: „Die politische Aktion ist im Hinblick auf die Agitation und Verteidigung sozialistischer Prinzipien weiterhin für die Verwirklichung von Reformen, die ein unmittelbares Interesse beanspruchen, notwendig. Von den Arbeitern aller Länder verlangt sie deshalb, daß sie ihre politischen Rechte erkämpfen und sich ihrer in allen legislativen und administrativen Körperschaften bedienen, um die Forderung des Proletariats durchzusetzen und um sie in Mittel der Emanzipation des Proletariats zu verwandeln, weiterhin sich aber von jeder politischen Macht fernzuhalten, die heute nur das Instrument kapitalistischer Herrschaft ist.“
Mit dem Wachstum der sozialistischen Parteien stand aber auf einmal der letzte Halbsatz dieser Resolution in Frage. Der französische Sozialist Alexandre Millerand trat als Minister der Regierung von Waldeck-Rousseau bei. Vor allem Rosa Luxemburg, Delegierte der SPD auf den Kongressen der zweiten Internationalen, polemisierte dagegen: „Während daher das Vordringen der Sozialdemokraten in die Volksvertretungen zur Stärkung des Klassenkampfes, also zur Förderung der Sache des Proletariats führt, kann ihr Vordringen in die Regierungen nur die Korruption und Verwirrungen in den Reihen der Sozialdemokratie zum Ergebnis haben.“ Die Internationale sprach sich gegen die Regierungsbeteiligung aus. Ausgenommen waren jedoch „außerordentliche Umstände“ – ein Schlupfloch das später genutzt werden sollte. Millerand wurde ausgeschlossen. Die Verlockungen der Macht hatten jedoch ihren Einfluss auf die Internationale nicht gänzlich verloren.
Revisionismus und Stuttgarter Kongress
Die sozialistischen Parteien wuchsen zu Massenorganisationen heran. 1903 holte die SPD 31,7 Prozent der Stimmen bei den Wahlen. Aufgrund des ungerechten Wahlsystems erhielt sie jedoch nur 81 Abgeordnete von 397. Die Organisation dehnte sich in Deutschland jedoch enorm aus. Das sozialistische Konsumvereinswesen hatte 1911 1,3 Millionen Mitglieder. Arbeitervereine machten ein Leben im sozialdemokratischen Milieu von der „Wiege bis zur Bahre“ möglich. In den Vereinen, Zeitungen und Parteistrukturen waren tausende Hauptamtliche tätig.
Verbunden mit wirtschaftlichem Wachstum und sozialen Reformen schuf das die Grundlage für die Idee, dass es nicht mehr nötig sei den Kapitalismus auf revolutionärem Wege abzuschaffen. Bernstein schrieb 1899 sein Werk „Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie“, in denen er die Ideen formulierte, die als Revisionismus bekannt wurden, weil sie Grundlehren des Marxismus in Frage stellten. „Trotz des großen Fortschritts, welchen die Arbeiterklasse gemacht hat, halte ich sie doch selbst heute noch nicht für entwickelt genug, die politische Herrschaft zu übernehmen“ schrieb er beispielsweise. Über den Anklang war er selbst überrascht und die Debatte übertrug sich auch auf andere Sektionen.
Doch der Klassenkampf sprach zunächst eine andere Sprache. Die Russische Revolution von 1905 setzte ihn nachdrücklich auf die Tagesordnung. In mehreren Ländern kam es die nächsten Jahre zu Großprotesten und aufstandsähnlichen Erhebungen. In Schweden traten 1909 über 300.000 Arbeiter in den Generalstreik, der von August bis September einen Monat dauerte! Der Revisionismus war bereits 1904 verurteilt worden. Auf dem Pariser Kongress 1909 wurde er verdammt und zurückgewiesen.
Dazwischen trat 1907 der Kongress der Internationalen in Stuttgart zusammen. Zu diesem Anlass versammelten sich Arbeiterinnen und Arbeiter auf den Cannstatter Wasen. Die Schätzungen schwankten zwischen 40.000 und 100.000 TeilnehmerInnen. So eine Kundgebung hatte es seit der 1848-Revolution nicht mehr gegeben. Vor dem Kongress tagte ein Frauenplenum. Im Anschluss fand ein Jugendkongress statt. Aus ihnen gründete sich die sozialistische Fraueninternationale und die sozialistische Jugendinternationale. Mit Clara Zetkin und Karl Liebknecht spielten VertreterInnen des revolutionären Parteiflügels die zentrale Rolle. Sie setzten sich für neue Kampfmethoden, wie des Massenstreiks ein und diskutierten das Verhältnis von Gewerkschaften zur Partei.
Die unterschiedlichen Flügel in der Internationalen wurden langsam sichtbar. Die so genannten Revisionisten wollten sich auf einzelne Reformforderungen beschränken, die sie an den Staat richteten. Sie hatten Unterstützung unter manchen delegierten Gewerkschaftsfunktionären. Das so genannte Zentrum redete radikal, wollte aber an der „alten, bewährten Taktik“ festhalten. Diskussionen über neue Kampfformen lehnten sie ab und neigten zur reformistischen Behäbigkeit. Doch wirklich deutlich wurden die Flügel noch nicht.
Der Kongress diskutierte über die Haltung zu den Kolonien, über Migration und andere Fragen. August Bebel legte angesichts der zunehmenden Aufrüstung und Kriegsgefahr einen Antrag gegen den Militarismus vor. Die Diskussion um die Auslegung und Präzisierung dieses Beschluss sollte die Debatte über Krieg in den nächsten Jahren bestimmen.
Kapitalismus bedeutet Krieg
„Wie die Wolke in sich das Gewitter trägt, trägt der Kapitalismus in sich den Krieg“ sagte der französische Sozialist und führender Kopf der Internationale Jean Jaurès. Die Internationale wurde als Garant des Friedens gesehen. Seit ihrer Gründung bestand die Auffassung, dass Kriege von Staaten Produkt ihrer Konkurrenz auf dem Weltmarkt seien. Deshalb könnten sie nur beendet werden, wenn die Konkurrenz aufgehoben ist, durch die internationale Durchsetzung des Sozialismus. 1893 verkündete der Züricher Kongress, dass der Sturz des Kapitalismus universellen Frieden bedeute.
Auch in Stuttgart war man sich schon einig, wie man sich zu verhalten habe, wenn der Krieg ausbricht. In Bebels Antrag hieß es: „Falls der Krieg dennoch ausbrechen sollte, ist es die Pflicht, für dessen rasche Beendigung einzutreten und mit allen Kräften dahin zu streben, die durch den Krieg herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zur Aufrüttelung des Volkes auszunutzen und dadurch die Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft zu beschleunigen.“
Bereits in den 90er Jahren tauchte die Frage auf, ob man nicht durch diese Haltung zwangsläufig für den Sieg vom „weniger zivilisierten Russland“ eintreten würde. Dieses von Nieuwenhuis vorgebrachte Argument wurde zu der Zeit noch vom russischen Sozialisten Plechanow beantwortet, dessen Partei aber später den Krieg fortsetzte. Tatsächlich mussten die sozialistischen Parteien mit der Haltung der Arbeiterklasse auseinandersetzen, dass man sich nicht schutzlos einem Angriffskrieg aussetzen lassen wollte.
Dafür argumentierten Linke für die – angesichts der heutigen Situation weniger verständliche – Forderung nach Volksbewaffnung. Denn sie ist, erklärte Rosa Luxemburg, „natürlich ungeeignet für die Führung blutiger Eroberungskriege und Raub fremder Völker und Länder, weil ein ganzes Volk niemals bereit sein wird, sein Land zu verlassen, um der Eroberung fremder Gebiete in ferne Länder oder über den Ozean zu ziehen. Vor allem jedoch ist die Waffe in der Hand des Volkes das beste Mittel gegen die Unterdrückung von Seiten der Kapitalisten.“
Die Diskussion in der Internationale drehte sich aber vor allem darum, was gegen einen drohenden Krieg zu tun sei. In Stuttgart wurde beschlossen, angesichts eines drohenden Krieges „alles aufzubieten, um durch die Anwendung der ihnen am wirksamsten erscheinenden Mittel den Ausbruch des Krieges zu verhindern, die sich je nach der Verschärfung des Klassenkampfes und der Verschärfung, der allgemeinen politischen Situation naturgemäß ändern.“ Was aber „alles“ genau sein soll, wurde auf den folgenden Kongressen besprochen.
Kopenhagen 1910 und Basel 1912
August bis September 1910 wurde das zum Gegenstand der Debatte in Kopenhagen. 896 Delegierte repräsentierten acht Millionen Arbeiter aus 23 Ländern. Der Internationale Frauentag wurde hier für den 8. März beschlossen. Ein Antrag von Vaillant aus Frankreich und Hardie aus Großbritannien sah im Generalstreik das entscheidende Mittel im Kampf gegen den Krieg. Während sich die Bolschewiki aus marxistischer Sicht gegen eine Festlegung des Mittels aussprachen, das der Situation und dem Stand der Kräfte möglicherweise nicht entsprechen könnte, argumentierten die Opportunisten aus Angst vor zu radikalen Mitteln gegen dieses „Abenteurertum“. Die Frage des Generalstreiks wurde vertagt. Eine Kommission sollte dem Kongress in Wien eine Resolution vorlegen. Er wurde einberufen …. für den August 1914! Statt dessen wurde eine Resolution beschlossen, die nur „Abrüstung“ und die „Einsetzung eines internationalen Schiedsgerichts“ vorsah. Die Parlamentsfraktionen sollten von ihren Regierungen Abrüstung und Beilegung der Konflikte durch das Schiedsgericht verlangen. Lenin kritisierte deren „Nichterfüllbarkeit im Rahmen des Kapitalismus“ und die fehlende Forderung nach Volksbewaffnung.
Man sah die Gefahr kommen, aber handelte nicht entschlossen genug. Es gab eine „vertrauliche Versammlung der Linken der Internationale“, aber man unterschätzte den Gegner. Lenin meinte, „Meinungsverschiedenheiten mit den Revisionisten sind zwar sichtbar geworden, doch ist es noch weit bis zu einem Auftreten der Revisionisten mit einem selbstständigen Programm“. Die Linken waren nicht organisiert genug.
Derweil steigerte sich das Kriegsgeheul und die Bereitschaft zum Protest gegen den Krieg nahm zu. Eine ernste Bedrohung verursachte der Krieg auf dem Balkan, der sich ausdehnen könnte. In Berlin demonstrierten im Oktober 250.000 Menschen gegen den Krieg. Die Internationale rief den 17. November 1912 zum internationalen Antikriegstag aus. In elf Ländern demonstrierten die ArbeiterInnen. In Paris kamen 100.000 zusammen. Die französischen Sozialisten beschlossen auf ihrem Sonderkongress, dass „Generalstreik und Aufstand“ im Falle der Kriegsdrohung auszurufen seien. Um das weitere Vorgehen zu besprechen, setzte die Internationale ein Sondertreffen in Basel für Ende November an.
Trotz der kurzen Einladung kamen 555 Delegierte aus 23 Ländern dort zusammen. 10.000 Menschen demonstrierten durch die Baseler Straßen für den Frieden. Eine Entscheidung über den Generalstreik wurde wieder vertagt und auf die Kommission verwiesen. August Bebel fürchtete, dass scharfe Kampfmittel zu stärkerer Repression des Staates führen würden. Das Baseler Friedensmanifest wiederholte so nur die Beschlüsse aus Kopenhagen: „Der Kongress stellt fest, dass die ganze sozialistische Internationale über diese Grundsätze der auswärtigen Politik einig ist. Er fordert die Arbeiter aller Länder auf, dem kapitalistischen Imperialismus die Kraft der internationalen Solidarität des Proletariats entgegenzustellen. Er warnt die herrschenden Klassen aller Staaten, das Massenelend, das die kapitalistische Produktionsweise herbeiführt, durch kriegerische Aktionen noch zu verschärfen. Er fordert nachdrücklich den Frieden.“
Die tiefere theoretische Verarbeitung des drohenden Krieges begann in der Internationale erst richtig nach dem Kongress mit Rosa Luxemburgs „Die Akkumulation des Kapitals“ 1913 und nach Ausbruch des Krieges durch Lenins „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ 1916.
Der Zerfall der Zweiten Internationalen
Wenige sahen die Katastrophe kommen, die auf die Internationale zuraste. In Deutschland verkam bei der SPD, der Sozialismus mehr zur Phrase in Sonntagsreden und in der Praxis löste die Vereinsmeierei den Klassenkampf mehr und mehr ab. Aber würde die SPD dem Krieg zustimmen? Basel hatte doch die Friedenshaltung nochmals bekräftigt!
Und tatsächlich war der fortgeschrittene Teil der Arbeiterklasse nicht vom Kriegsgeheul erfasst sondern ging gegen die Kriegstreiberei auf die Straße. Zu den halbherzig einberufenen Kundgebungen gingen zwischen dem 25. und 30. Juli schätzungsweise 750.000 ArbeiterInnen. Der Parteivorstand verkündete noch: „„Gefahr ist im Verzuge. Der Weltkrieg droht! Die herrschenden Klassen, die euch in Frieden knechten, verachten, ausnutzen, wollen euch als Kanonenfutter mißbrauchen. Überall muß den Machthabern in den Ohren klingen: Wir wollen keinen Krieg! Nieder mit dem Kriege! Es lebe die internationale Völkerverbrüderung!“ Trotz Demonstrationsverbot nahmen 90.000 Menschen an einer Kundgebung außerhalb von Paris teil. In Großbritannien hielten Demonstrationen bis in den August an.
Doch der Nationalismus nahm zu. Jean Jaurès wurde am 31. Juli in Paris ermordet. Es mag die Tat eines Einzelnen gewesen sein – erklärbar wird sie, wenn man sich anschaut, welchen Hass die bürgerliche Presse dem Kriegsgegner entgegen brachte.
Die herrschenden Klassen in allen Ländern übten jedoch enormen Druck auf die sozialdemokratischen Parteien aus. In der Parteibürokratie stießen sie auf Resonanz. Sie hatte sich über Jahre im System eingenistet und in den Apparaten begonnen einen Selbstzweck zu sehen. Theoretisch hatte sich das in der Strömung des Revisionismus bereits ausgedrückt. Aber auch wenn nicht alle allen Aussagen von Bernstein folgten, wuchs der Abstand zwischen dem Minimal- und Maximalprogramm der Sozialdemokratie. Eine Brücke zwischen den kleinen Reformforderungen und dem Sozialismus wurde nicht gebaut. Auch das Zentrum war erfasst. So begann der Parteibürokrat den revolutionären Umsturz zu fürchten. Der drohende Krieg ließ ihnen nur die Wahl zwischen Pakt mit der herrschenden Klasse oder der Vorbereitung des revolutionären Umsturzes. Parteiführungen und Fraktionen vieler Sektionen der Internationale war jetzt die gemeinsame Sache mit der bürgerlichen Klasse näher als der revolutionäre Umsturz.
Am 1. August erklärte Deutschland Russland den Krieg. Die Gewerkschaftsführungen erklärten am 2. August während des Krieges auf Lohnbewegungen und Streiks zu verzichten. Der junge Parteisekretär Scheidemann trat für den „Burgfrieden“ ein. Demnach sollte während des Krieges der Kampf mit den Kapitalisten zurückgestellt werden. Der Parteivorsitzende Hugo Haase erklärte, im Kampf mit dem „blutrünstigen russischen Despotismus“ sei es die Aufgabe der Sozialdemokratie „das eigene Vaterland in der Stunde der Gefahr nicht im Stich zu lassen“. Am 4. August erklärte Wilhelm II: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche!“
Die Rechten der Partei sprachen sich ab. Der Fraktion wurde die Zustimmung zu den Kriegskrediten vorgelegt. 78 Abgeordnete stimmten dafür, 14 dagegen. Die Kriegsgegner waren zahlenmäßig klein und nicht gut organisiert. Ähnliche Entwicklungen fanden in den anderen Sektionen statt. Was in Deutschland Burgfrieden hieß, nannte sich in Frankreich union sacrée. Die Internationale zerfiel in dem Augenblick, als sie am meisten gebraucht wurde.
Eine neue Internationale
Die Arbeiterbewegung brauchte Jahre, um sich mitten im blutigen Weltkrieg wieder zu organisieren. Die russischen Bolschewiki ließen sich vom Kriegsgeheul nicht erfassen und leisteten Opposition. In mehreren Ländern musste sich die Opposition erst organisieren. In Deutschland gründete sich die Gruppe Internationale um Luxemburg und Liebknecht, die später zu Spartakusbund wurde. Es dauerte ein Jahr bis sich in Zimmerwald zum ersten Mal Kriegsgegner international trafen. Die Teilnehmer hätten in zwei Postkutschen gepasst, sagte der russische Revolutionär Leo Trotzki, der an der Konferenz teilnahm. Der Widerstand gegen den Krieg nahm zu, doch in vielen Ländern gab es keine Parteien mehr, die ihn hätten systematisch organisieren können. Doch 1917 gab die Februarrevolution und letztlich die Oktoberrevolution den entscheidenden Weckruf. Ausrechnet im rückständigen Russland hatte es eine sozialistische Revolution gegeben. Sie begann in einem Land – doch war ihr Ziel die Ausdehnung auf weitere Länder. Auf dem Trümmerhaufen der Zweiten Internationale wurde 1919 in Moskau die Kommunistische Internationale gegründet.
Heute stehen ArbeiterInnen international wieder vor ähnlichen Herausforderungen, wie die Internationale vor 125 Jahren. In vielen Ländern gibt es keine starken Arbeiterparteien – noch gibt es keine revolutionäre Masseninternationale. Die SAV leistet mit dem Komitee für eine Arbeiterinternationale (engl. CWI) einen Beitrag, sie wieder aufzubauen. Internet und Flugzeuge machen diese Aufgabe leichter als damals. Politisch haben wir den Vorteil, von den Debatten und Erfahrungen der Zweiten Internationale zu lernen und heute in Bezug auf Regierungsbeteiligung, Bürokratisierung und Kriegsgeheul nicht die gleichen Fehler zu begehen.