Vor 25 Jahren brachte das chinesische Regime tausende Aktivistinnen und Aktivisten in Peking um. Studierende und ArbeiterInnen revoltierten gegen die Unterdrückung des Regimes. Auch in den Protestbewegungen heute, wird jährlich diesem Ereignis gedacht. Aus diesem Anlass veröffentlichen wir einen Augenzeugenbericht von 1989 eines Unterstützers von „Militant“. Steve Jolly, damals 27 Jahre alt, geboren in London, ging in Südafrika zur Schule und besuchte dort die Universität von Kapstadt. Nach mehrjähriger Aktivität als Unterstützer der Zeitung „Militant“ in der britischen Arbeiterbewegung übersiedelte er nach Australien und wurde Herausgeber der dortigen „Militant“. Heute ist er Stadtrat in Melbourne und aktiv in der australischen Socialist Party.
Steve Jolly: Augenzeuge in China
Auf dem Platz des Himmlischen Friedens im Mai, Juni 1989
Ich ging nach China, um aus erster Hand die Bewegung im bevölkerungsreichsten Land der Welt, mit einem Viertel der Weltbevölkerung, kennenzulernen. Ich ging, um politische und organisatorische Erfahrungen mit den besten der Studierenden in Peking und Schanghai und den besten des Proletariats auszutauschen.
Nichts hätte mich auf das vorbereiten können, was ich gesehen habe. Es war das Großartigste, was ich in der ganzen Zeit, seit ich Politik betreibe, gesehen habe. Ich kam am Sonntag vor dem Massaker an, dem letzten Sonntag im Mai. Nachdem ich mich eingerichtet hatte, wollte ich zum Platz des Himmlischen Friedens gehen. Ein gewaltiger Marsch fand gerade statt. Daher war es schon eine Schlacht für sich, überhaupt zum Platz zu gelangen.
Es war ein Marsch von ca. 200.000 Menschen — einige der Studierenden waren, wie ich später hörte, etwas enttäuscht, dass er nicht größer war. Viele ArbeiterInnen arbeiteten nicht, da es ja Sonntag war, und nahmen an dem Marsch teil. Er fand auf einer achtspurigen Schnellstraße statt, die absolut vollgestopft war — eine kilometerlange Masse roter Fahnen mit chinesischer Schrift. Dort waren Delegationen der StahlarbeiterInnen, Universitäten, Lehrervereinigungen etc., die Parolen gegen die Regierung anstimmten und alle die Internationale sangen.
Wenn das, was ich heute sage, einen Grund hat, dann denjenigen, die Lügen zu widerlegen, die die stalinistische chinesische Regierung in die Welt gesetzt hat, und die international von der kapitalistischen Presse übernommen wurden, nämlich dass diese Bewegung der Massen in China „konterrevolutionär“ oder „pro-kapitalistisch“ sei. Denn vom Anfang bis zum Ende habe ich nie auch nur einen Menschen getroffen — sei er Student, Arbeiter oder auch Bauer — der irgendwelche Einbildung hatte, dass das Ziel ihres Kampfes der Kapitalismus sei, egal welcher Art, Gestalt oder Form.
Der Platz des Himmlischen Friedens
Nach ungefähr drei Stunden gelangte ich zum Platz des Himmlischen Friedens. Er für sich allein war schon ein einmaliger Anblick. Dort im Zentrum von Peking liegt dieser aus architektonischer Sicht abscheuliche stalinistische Platz. Er ist gewaltig, hat wahrscheinlich ungefähr die Größe von vier bis fünf Kricketfeldern oder fünf bzw. sechs Fußballplätzen. Direkt in der Mitte steht der historisch bedeutsame Obelisk, das Denkmal der Helden des Volkes. Viele Reden Maos, viele große Versammlungen fanden in der Vergangenheit dort statt. Der größte Teil des Platzes wurde von Zelten eingenommen — einige waren Marke Eigenbau, andere hatten die Studierenden von Hongkonger KommilitonInnen und aus dem Westen erhalten. In einigen Zelten waren immer noch Hungerstreikende, obwohl die meisten diese Form des Streiks eingestellt hatten.
Im Norden des Platzes liegt die Verbotene Stadt mit einem großen Bild von Mao, der auf den Platz herabschaut. Ich weiß nicht, was er gedacht haben würde, wenn er hätte sehen können, was dort vor ihm geschah! Nebenbei bemerkt, das ist das einzige Bildnis von Mao, das es in Peking noch gibt. In der Jugend existieren nur wenige Illusionen über Mao. Offensichtlich gab es eine massive politische Kampagne der Bürokratie gegen Mao nach dessen Tod. Die Erfahrungen mit der Kulturrevolution brachten ihn in Misskredit. Seine Frau und die „Viererbande“ sind der Regierung und dem Volk absolut verhasst. Für ältere ArbeiterInnen, die sich an die Zeit vor 1949 und an die frühen Jahre danach erinnern können, ist es etwas anders, weil sie noch wissen, wie die Bürokratie früher zurückhaltender, begrenzter und weniger korrupt war als heute, wo die großen Bürokraten und Armeeführer in dicken Wagen in Peking herumfahren.
Auf dem Platz des Himmlischen Friedens gibt es außerdem drei scheußlich aussehende Gebäude im Süden, Westen und Osten. Aber sie sahen klein aus, verglichen mit der Volksmasse auf dem Platz selbst.
Ich hatte das Gefühl, im Zentrum der Welt zu sein, denn die Augen und Ohren von Arbeitern, Studenten und Bauern der ganzen Welt richteten sich auf diesen Platz — jeden Tag im Radio, in der Zeitung und im Fernsehen. Die Elite der kapitalistischen Journalisten der ganzen Welt war hier. Aber was viel wichtiger war, hier protestierten die besten der Studierenden und des Proletariats eines Viertels der Weltbevölkerung.
Als ich dort ankam, dachte ich, ich müsse hingehen und mit den Leuten diskutieren. Zuerst war ich etwas besorgt darüber, wie sie mich aufnehmen würden. In der Schule hört man vom „Bambusvorhang“ und fragt sich, was man als Mensch von der anderen Seite des Planeten zu bieten hat. Was weiß man schon über China? Denn diese Leute spielten offensichtlich nicht. Sie riskierten ihr Leben im Hungerstreik und waren der Gefahr der Unterdrückung ausgesetzt, die sie zu der Zeit schon zu spüren bekamen, und die eine Woche später noch viel stärker werden sollte.
Aber sobald ich auf die Zelte zuging, war jegliche Besorgnis wie weggeblasen. Ich kam zum ersten Zelt und traf dort einige Studierende aus Schanghai. Sie waren seit einigen Tagen dort. Glücklicherweise sprachen ein paar von ihnen Englisch. Ich setzte mich und wurde gefragt:
„Bist du Reporter?“ Ich antwortete: „Nein, ich bin Marxist. Ich bin ein Sozialist aus dem Westen. Ich bin hier, um mir anzuhören, was ihr zu sagen habt, denn wir wollen uns nicht auf die kapitalistischen Zeitungen verlassen, um die Forderungen eures Kampfes zu erfahren. Wir wollen sie von euch selbst hören. Ihr sollt wissen, dass Arbeiter und Jugendliche auf der ganzen Welt euren Kampf mit großer Anteilnahme verfolgen. Wir wollen von euch lernen. Ihr zeigt uns einen Weg nach vorne. Aber wir würden auch gerne einige Erfahrungen austauschen. Denn vielleicht könnten einige der Erfahrungen, die wir in Übersee gemacht haben, seien sie politisch oder organisatorisch, euch helfen.“
Überschäumende Freude
Als ich das gesagt hatte, konnte man die große Freude darüber sehen, dass jemand gekommen war, um sie zu unterstützen. Sie gaben mir einen kleinen Stuhl und boten mir immer wieder Zigaretten und kalte Getränke an — ich lehnte natürlich dankend ab! Ihr solltet sehen, wie arm diese Studenten sind. Auch wenn man dort die Universität besucht — und darauf komme ich später zurück — gehört man, wirtschaftlich gesehen, nicht zu einer privilegierten Elite. Diese Leute, von denen einige im Hungerstreik gewesen waren, saßen einfach da und behandelten mich fast wie einen König, weil ich als Sozialist gekommen war und sie unterstützen wollte.
Sobald ich zu reden anfing, versammelten sich Leute um das Zelt. Auf einmal waren es 50. Es wären noch mehr gewesen, aber da ich so weit hinten in dem kleinen Zelt saß, war es den Leuten draußen nicht möglich, zu hören, was ich sagte. Sie rangelten direkt miteinander, um nach vorne zu kommen, damit sie hören konnten, was ich zu sagen hatte. Es erinnerte mich an John Reeds „Zehn Tage, die die Welt erschütterten“, ich war aber von noch größerer Genugtuung erfüllt, denn wir waren nicht einfach als Reporter dort. Selbstverständlich wollten wir etwas lernen, aber auch die Entwicklung dieser Bewegung mit marxistischen Ideen und marxistischer Organisation unterstützen.
In den Diskussionen gaben sie mir einen Überblick über die Erfahrungen der letzten Wochen in China, was die Studierendenbewegung betrifft, und über ihre Vorstellungen von den Perspektiven und nächsten Schritten. Was sie im Grunde von mir wollten, war genau das, was ich ihnen anbieten konnte. Sie sagten mir oft: „Wir erhalten viel Geld aus Übersee, und das ist großartig. Aber wir wollen mehr als Geld. Wir wollen Ideen. Das ist der beste Weg uns zu helfen.“ Das sagte man mir immer wieder in anderen darauffolgenden Diskussionen.
Was ich den Studenten aus Schanghai an diesem Tag und in den meisten anderen Diskussionen sagte, war dies: „Die erste Lehre, die ihr lernen müsst, ist die Notwendigkeit für die Studierendenbewegung, sich mit den ArbeiterInnen zu verbinden, da die Studierenden den Kampf nicht alleine gewinnen können.“ Ich ging über zur Frage der Macht der Arbeiterklasse, zum Grund, warum die ArbeiterInnen diesen Kampf leiten müssen, und warum es für die Studierenden wichtig sei, zu versuchen, auf jede mögliche Art Verbindungen mit den ArbeiterInnen herzustellen — und wenn es irgendeine Entwicklung in Richtung einer unabhängigen Gewerkschaft gäbe, sollten sie sie unterstützen und ausbauen. Denn das sei ihr Schlüssel zum Sieg — nicht nur für die ArbeiterInnen, sondern auch für die Studierenden selbst. Wir besprachen die Frage, warum die Russische Revolution im Oktober 1917, die von der Arbeiterklasse geführt worden war, sich von der Chinesischen Revolution 1949 unterschied, die natürlich nicht von der Arbeiterklasse angeführt worden war.
Der zweite Punkt betraf die Forderungen, das Programm, das für die ArbeiterInnen- und Studierendenbewegung nötig war. Wir waren übereingekommen, dass diese beiden Kämpfe gemeinsam vorangetrieben werden müssten. Es folgten Lenins vier Punkte gegen die Bürokratie: Die jederzeitige Wähl- und Abwählbarkeit aller Funktionäre, sie dürfen nicht mehr verdienen als FacharbeiterInnen usw.; die Notwendigkeit einer freien Presse; kein Einparteienstaat; und das Recht aller Menschen, die die Planwirtschaft unterstützen, sich zu organisieren. Wir betonten die Notwendigkeit der Arbeiterbewaffnung — natürlich nicht so, dass sechs oder sieben bewaffnet seien, um Deng oder Li Peng abzuknallen (ich muss allerdings auch sagen, dass bei den Studenten einige terroristische Vorstellungen herrschten, allerdings mehr aus Frustration als aus irgendwelchen anderen Gründen). Jeder müsste bewaffnet sein. Nicht eine „Volks-Befreiungs-Armee“, sondern ein bewaffnetes Volk, so erklärten wir.
Demokratische Reform im Stalinismus?
Der dritte Punkt, den wir besprachen, war der schwierigste. Es war der, bei dem wir die meisten Probleme hatten, von einigen Studenten und Arbeitern Zustimmung zu erlangen, obwohl wir es in neun von zehn Fällen schließlich schafften. Darum ging es: Ist es in einem stalinistischen Land wie China oder auch der Sowjetunion oder der DDR für eine starke ArbeiterInnen- oder Studierendenbewegung mit dem richtigen Programm möglich, einer stalinistischen Regierung demokratische Rechte abzugewinnen? Was mir diese Studierenden aus Schanghai und andere Studierende und ArbeiterInnen, mit denen ich sprach, sagten, war folgendes: „Wir glauben, dass es möglich ist. Schau, was heute in der Sowjetunion passiert. Schau dir die Wahlen in Polen an. Und sieh dir den Westen an: Ihr habt den Kapitalismus, der noch schlimmer ist, als das, was wir haben, und doch besitzt ihr demokratische Rechte. Müsste das dann nicht auch hier unter einer sogenannten sozialistischen Regierung möglich sein?“ Diese Fragen mussten wir von Grund auf theoretisch beantworten und erklären.
Die Studierenden haben tatsächlich reichlich Informationen über die Außenwelt, selbst von der offiziellen Presse. Insofern die Bürokratie mit dem US-Imperialismus in Konflikt kommt, liegt es in ihrem Interesse, z.B. die Situation der Schwarzen in Amerika, die Massenarbeitslosigkeit, den Abgrund zwischen Reich und Arm darzustellen. Auf der anderen Seite wird eine wohlwollende Analyse des pakistanischen Regimes oder der chilenischen Diktatur verbreitet, weil die chinesische Bürokratie diese Regimes unterstützt. Die Zeitungen übernehmen auch einfach sehr viel Material der internationalen kapitalistischen Presse.
Chinesische Bürokratie
Die Menschen erhalten viele Informationen über die Entwicklungen in Osteuropa und der Sowjetunion. Es liegt im Interesse von Deng und der Bürokratie, herauszustellen, welche Probleme Glasnost und Perestrojka aufwerfen. Sie glauben, das werde eine gute Wirkung auf das Bewusstsein der Massen in China haben. Vor ungefähr zwei Monaten hielt Deng eine wichtige Rede vor der Elite der Bürokratie. In den Hongkonger Zeitungen wurde darüber berichtet. Er sagte mehr oder weniger: „Wir haben zwei Möglichkeiten. Wir können Gorbatschows Weg gehen. Aber in einem Land mit einer Milliarde Menschen hieße das, mit dem Feuer zu spielen. Seht euch die Probleme an, die Gorbatschow hat. Er hat eine nationale Bewegung ausgelöst, die er nicht mehr kontrollieren kann. Er hat eine Oppositionsbewegung hervorgerufen, die nach hinten losgehen wird. Er glaubt, besonders klug zu sein, aber das ist er nicht. In China haben wir keine andere Alternative, als einen klaren Kopf zu bewahren, und die Dinge ruhig zu halten. Also was soll‘s, wenn wir eine Million Menschen töten müssen, wir haben schließlich eine Milliarde.“ Das ist die gleiche Menschenverachtung, die die alten chinesischen Kaiser an den Tag legten.
Aber trotz ihrer Weigerung, Gorbatschows Weg des Glasnost zu gehen, sieht sich die chinesische Bürokratie in gleicher Weise einer Bewegung gegenüber.
Jedenfalls versuchten wir, die Frage nach den Möglichkeiten demokratischer Reformen unter dem Stalinismus folgendermaßen zu beantworten. Erstens ist die Situation im Westen anders. Die kapitalistische Klasse hat wirtschaftliche Macht dadurch, dass sie die Produktionsmittel besitzt. Sie hat durch den Staat auch die politische Macht. Bei einer starken Arbeiterbewegung werden die Kapitalisten manchmal gezwungen, selbst linke Regierungen von Arbeiterparteien zuzulassen — aber nur solange sie noch die Kontrolle über die Wirtschaft haben und dieser Regierung vorschreiben können, was sie tun kann und was nicht — wie es beispielsweise zur Zeit in Australien geschieht.
Das ist in der kapitalistischen Welt möglich, sagte ich in den Diskussionen, aber nur, wenn man eine starke ArbeiterInnen- und Gewerkschaftsbewegung hat. Darauf musste ich näher eingehen. Ich legte dar, dass nur 15% der Bevölkerung in der kapitalistischen Welt demokratische Rechte hätten. Und dass auch die nur durch Kampf gewonnen worden seien. Wir sprachen z.B. über die Geschichte der Suffragetten-Bewegung: Wie die Arbeiterinnen das Wahlrecht erhalten hatten. Sowie die Kämpfe im australischen Eureka, wo in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts die Arbeiterklasse Australiens das Wahlrecht endgültig erkämpft hatte. Das Wahlrecht war ihr nicht auf dem Silbertablett serviert worden.
Dann sprach ich darüber, dass dies in der stalinistischen Welt vollkommen anders aussehe. Warum? Wegen der Verstaatlichung der Wirtschaft — in China als Ergebnis der 1949er Revolution und in Russland wegen der Revolution von 1917 — hat die Bürokratie nichts als die Staatsmacht. Der Staat kontrolliert die Hebel der Wirtschaft, und sollte die Bürokratie ihre Staatsmacht verlieren, würde sie ihre Privilegien einbüßen. Dann wäre sie völlig machtlos. Wenn Deng die Staatsmacht verlöre, dann würde man ihn am nächsten Laternenpfahl aufhängen. Die Bürokratie wird dementsprechend bis zum bitteren Ende gegen wirkliche demokratische Rechte der Arbeiterklasse und der Studentenbewegung in China kämpfen.
Forderungen
Als wir über diese Frage gesprochen hatten, und theoretisch einer Meinung waren, mussten wir uns fragen, welche Konsequenzen wir daraus zu ziehen hätten. Die Folgerungen sind ziemlich einfach. Die ersten und wichtigsten Forderungen müssen die Übergangsforderungen sein, Lenins vier Punkte usw., die Gründung und Entwicklung einer unabhängigen Gewerkschaftsbewegung, der weitere Fortschritt der Studierendenbewegung und ihre Verbindung mit den ArbeiterInnen u.a.. Gleichzeitig wäre es völlig falsch, sich vor der furchtbaren Tatsache zu drücken, der man ins Auge sehen muss: Dass keine dieser Forderungen der ArbeiterInnen und Studierenden in China unter der Kommunistischen Partei und ihrer Regierung erkämpft und gesichert werden kann. Das ist absolut unmöglich.
Aber was ist mit dem Reform-Flügel der Kommunistischen Partei, fragten die Studierenden, was ist mit Zhao? Die Illusionen in ihn, besonders bei den aktiven Schichten der ArbeiterInnen und Studierenden, sind nicht halb so groß, wie die kapitalistische Presse behauptet, aber sie existieren. So sprachen wir über die Situation in Polen: Die Wahlen stehen nicht für den Beginn einer Demokratisierung in der polnischen Gesellschaft. Der einzige Grund, warum sie stattfanden, ist erstens, weil die Führer von Solidarnosc, wie Walesa, von Jaruzelski und dem polnischen Regime gezähmt wurden und zweitens, weil sie sehr eingegrenzte demokratische Reformen darstellten, nicht wirkliche demokratische Rechte und Macht für das Volk. Es sieht so aus, dass die Bürokratie begrenzte Reformen von oben gewährt, um eine Revolution von unten zu verhindern. Ich erzählte ihnen ebenfalls, dass in der Sowjetunion Seite an Seite mit Glasnost eine Unterdrückung der Massen in Georgien vor sich geht, usw.. Das musste daraufhin ausführlich besprochen werden, und um es deutlich zu sagen: Die Folgerung eines jeden Programms der Studierenden und ArbeiterInnen in China muss eine neue Regierung sein, eine neue revolutionäre Regierung, eine politische Revolution, wie wir als MarxistInnen sagen würden. Mit anderen Worten, die ArbeiterInnen und Studierenden müssen die Macht übernehmen. Das ist der einzig mögliche Weg für das chinesische Volk, Reformen durchzuführen und zu erhalten. Als wir uns darüber einig waren, gingen wir über zu den organisatorischen Schlussfolgerungen, die daraus zu ziehen seien.
Das alles war leicht, da die meisten der Studierenden und ArbeiterInnen Kenntnisse über die Schriften von Marx, Engels und Lenin besaßen. Allerdings wusste keiner von ihnen etwas über Trotzki. Manchmal war es möglich, auf Trotzki zu kommen, wenn man über die Wirkung sprach, die Stalins Konterrevolution in der Sowjetunion auf die Entwicklung in China selbst hatte. Ich stellte dar, wie die falsche Politik der stalinistischen Bürokratie in der Sowjetunion durch ihren Einfluss auf die Führung der KP Chinas zur Niederschlagung der chinesischen Revolution 1925-27 führte. Und wie Mao sich dann von der Arbeiterklasse in den Städten distanzierte, um sich auf die Bauernschaft zu stützen. Wie daher die Revolution von 1949 nicht von der Arbeiterklasse geführt worden war. Aber das bedeutete nicht, dass die Ideen des wahren Marxismus vollkommen verloren waren. In Russland war es Trotzki — ich erklärte seine führende Rolle mit Lenin in der Revolution von 1917 —‚ der den Ideen und Traditionen treu blieb. Ich stellte die Position dar, die er in Hinsicht auf die Chinesische Revolution und die Weltrevolution in den zwanziger und dreißiger Jahren hatte.
All dies war Gegenstand der meisten meiner Diskussionen mit den Studierenden. Und nach gerade diesen Gesprächen mit den Schanghaier Studierenden nahmen sie mich zusammen mit den kapitalistischen Reportern mit zum Denkmal der Helden des Volkes, wo alle Führer wohnten. An jenem Tag traf ich viele der Studierendenführer. Ich muss sagen, dass sie nicht so sehr an der Theorie interessiert waren wie die breite Masse. Aber nicht, weil sie anders lebten als die breite Masse, sondern weil sie das Gefühl hatten, eine Schlacht führen zu müssen. Sie waren mehr daran interessiert, ob ich Geld spenden, einige Zelte beschaffen oder durch meine Verbindungen mit der westlichen Arbeiterbewegung internationale Solidarität organisieren könnte, wenn jemand von ihnen ins Gefängnis käme: Praktische Fragen wie diese.
Ich muss hinzufügen, dass diese Führer, die in den Augen der Studierenden dem Recht der Abwählbarkeit zu unterstehen hatten, nicht besser lebten als die breite Masse und sogar als erste den Kopf riskierten. Diese Führer waren äußerst tapfer. Die erste Gruppe der Führer war im Hungerstreik gewesen. Ich traf einige von denen, die schon von Anfang an dabei gewesen waren. Manche von ihnen hatten Gehirnschäden davongetragen. Ich hatte das Gefühl, mit Kindern zu reden; es war furchtbar, mit diesen Helden zu sprechen, die ihr Gehirn aufgegeben hatten und nur dahinvegetierten. Sie konnten Gespräche führen, aber sie waren äußerst verstört, angespannt und nervös. Ständig kamen sie vom Thema ab. Sie werden sich niemals davon erholen.
Ich würde es niemals zulassen, dass auch nur ein schlechtes Wort über irgendeinen der Führer gesprochen wird. Denn viele von ihnen sind jetzt tot. Sie sind wahre Märtyrer und Helden gewesen. Viele wussten, dass sie in dem Moment, als sie den Entschluss gefasst hatten, diese Bewegung zu führen, praktisch ihr eigenes Todesurteil unterzeichnet hatten: Sie wussten, was ihnen passieren konnte. Um ein Wort dafür zu finden: Diese Leute waren von einem Kaliber, das ich außerhalb der marxistischen Tendenz niemals erlebt hatte. Es war ein großartiges Privileg, diese GenossInnen — und das waren sie — kennenlernen zu dürfen.
Es gab übrigens nie nur eine einzige Organisation, die die Studierenden anführte. Auch an dem Denkmal waren es fünf oder sechs Studierendengruppen. Zu einem früheren Zeitpunkt des Kampfes waren einige der Führer im Kommunistischen Jugendverband recht aktiv gewesen. Anfangs sahen sie die Bewegung nur als Unterstützung für Zhao in seinem Kampf gegen die Vertreter einer harten Linie. Diese Illusion dauerte aber nicht lange an. Vor meiner Ankunft hatte eine kämpferischere Gruppe die Führung von einer gemäßigteren Gruppe übernommen, die den Platz räumen wollte. Alle waren sich darüber einig, dass es eine zentrale Studierendenorganisation geben müsse. Diese ohne Theorie und Programm auf die Beine zu stellen, war schon schwieriger. Als die Bewegung abzuebben begann, entwickelten sich Konflikte zwischen den verschiedenen Gruppen, keine politischen, sondern über die Frage der Verteilung von Zelten, Geld, usw..
Hunger nach Theorie
In den nächsten Tagen führte ich noch mehrere Gespräche mit den FührerInnen und mit vielen anderen in etlichen Zelten. Immer wieder — und das war etwas, was ich bei der politischen Arbeit im Westen nie erlebt habe — ging ich ganz einfach auf irgendein Zelt zu, fing an zu sprechen, und sobald ich gesagt hatte, wer ich war, versammelten sich die Leute um uns. boten kalte Getränke und Zigaretten an, klopften mir auf die Schulter und wollten mein Autogramm. Die Leute fragten nach meinem Autogramm, als ob ich irgendein Popstar wäre. Aber das geschah nicht aus einer schmeichlerischen „Wie schön, einen Westler kennenzulernen“—Haltung, sondern: „Du bist der erste Sozialist aus dem Westen, den ich treffe, und das ist wirklich ein Privileg, dich kennenzulernen.“ Natürlich lag das Privileg in Wirklichkeit bei mir, nicht bei ihnen. Ich kann es nicht genug betonen, dass es bei den Studierenden einen wahren Hunger nach Theorie gab. Wir beendeten unsere Gespräche immer in völliger Übereinstimmung über die Ideen und den weiteren Weg.
Es muss noch gesagt werden, dass ein hohes kulturelles Niveau unter diesen Studierenden herrschte: Es wurde nicht geflucht, gab keine Drogen, keinen Alkohol und keinen Sexismus. Weibliche und männliche Studierende lebten und lagen nebeneinander auf dem Platz ohne jegliche Komplikationen. Menschen verschiedenen Geschlechts behandelten einander mit großem Respekt.
Am Dienstagabend sollte ich auf einer Versammlung der FührerInnen sprechen. Dort wurde mir die Ehre zuteil, die Plakette des Platzes des Himmlischen Friedens zu erhalten. Hiervon wurde nur eine begrenzte Anzahl hergestellt für jene Studierenden, die heldenhafte Taten vollbracht hatten. Es war für sie so etwas wie das Viktoria—Kreuz des britischen Imperialismus. Ich fühlte mich sehr privilegiert, es zu bekommen. Viele der Studierenden, die ich traf, hatten keins erhalten. Ich glaube, sie waren ein wenig neidisch. Von diesem Banner werde ich mich niemals trennen, es sei denn, jemand bietet $1.000 für den Kampffonds des australischen Militant, dann überlege ich es mir vielleicht! Ansonsten werde ich es für immer behalten.
Die unabhängige Gewerkschaft
Am Montagabend geschah etwas absolut Fantastisches. Einige Studierenden sagten: „Komm‘ mit uns und wir stellen dich einigen ArbeiterInnen vor, die eine unabhängige Gewerkschaftsbewegung gründen wollen.“ Also nahmen sie mich mit zur Verbotenen Stadt. Ich weiß nicht, ob ihr den Film „Der letzte Kaiser“ gesehen habt. Dort wird gezeigt, wie die Verbotene Stadt mit der alten Ordnung der chinesischen Kaiser identifiziert wurde. Nun brachten sie mich dorthin. Wir kamen zu dem riesigen verschlossenen Tor, ca. zehn Meter hoch. Davor standen keine Studierenden, sondern ArbeiterInnen, die versuchten, hineinzukommen. Auf der anderen Seite standen sechs mit Baseballschlägern bewaffnete ArbeiterInnen, eine kleine Arbeitermiliz, die das Tor bewachte. Hinter ihnen standen dreißig Arbeiterführer, die die Gründung einer unabhängigen Gewerkschaft vorbereiteten, nach der Art von Solidarnosc, wie sie meinten.
Also bahnten mein Dolmetscher und ich uns einen Weg durch die ArbeiterInnen, um mit Hilfe des von den Studierenden ausgestellten Sicherheitsausweises durch das Tor gelassen zu werden. Aber die Arbeitermiliz sah uns nur streng an. Wahrscheinlich dachten sie, ich sei ein Reporter, der eine Story wollte. Aber als sie dann hörten, wer ich war, wurde das Tor geöffnet. Alle anderen ArbeiterInnen versuchten, mit uns hineinzukommen. Sie mussten zurückbleiben, so groß war die Begeisterung über die Gründung einer unabhängigen Gewerkschaft und die Begierde, herauszufinden, was vor sich ging.
Apropos Begeisterung, auf den Straßen sah man Leute, die sich um Telegrafenmasten versammelten. Zuerst hielt ich das für seltsam, warum betrachten sich alle diese Leute einen Telegrafenmasten? Aber wenn man näher kam, sah man Untergrundzeitungen am Pfosten befestigt. Jeder wollte sie lesen, also kämpfte man sich durch. Es war so wie ein Bericht über die Russische Revolution von 1917, einfach großartig. Jeder, der mit Flugblättern unterwegs war, wurde sozusagen überfallen, so wie wenn Zehn-Dollar-Scheine in Sydney verteilt würden. Die Leute rissen sie ihnen einfach aus der Hand. Sie lasen fast alles. Ich bekam zufällig eine kapitalistische Zeitung aus Hongkong in die Finger, und sogar die wurde in Fetzen gerissen. Die Leute baten mich um Fotos und Artikel daraus. So groß war der Hunger nach Information und Ideen.
Wir kamen also in die Verbotene Stadt. Da sie nun wussten, wer ich war, gerieten sie in Aufregung. Ich habe so etwas noch nie gesehen. Ihre Reaktion war sogar noch besser als die der Studierenden. Sie sagten: „Das ist fantastisch“ und holten sechs Stühle für mich, für meinen Dolmetscher und für vier Arbeiterführer. Nicht aus bürokratischen Gründen, sondern weil hier eine diszipliniertere Haltung herrschte als bei den Studierenden, bestanden sie darauf, dass an diesem Treffen nur sechs Leute teilnehmen sollten. Später sollte ich dann zum Rest sprechen. Die anderen ArbeiterInnen waren so verärgert, dass zwei von ihnen in Tränen ausbrachen, weil sie nicht daran teilnehmen durften, als wir über unsere Ideen sprachen.
Ein Unterschied zwischen den Gesprächen mit ArbeiterInnen und Studierenden war, dass sich alle ArbeiterInnen Notizen machten. Jeder hatte einen Notizblock, und sie schrieben jedes Wort auf, das ich sagte. Da weniger von ihnen Englisch sprachen als bei den Studierenden, redete ich langsam und durch den Dolmetscher. Wir diskutierten drei Stunden lang, besonders über die Frage der Lehren, die man aus der polnischen „Solidarität“ ziehen sollte. Die ArbeiterInnen, die sehr ernst waren, kamen schnell darauf, was ich sagen wollte. „Im Grunde sagst du, dass wir die Kommunistische Partei stürzen sollen“, sagten sie. Der Groschen fiel sehr viel schneller als bei den Studierenden. Das soll keine Anklage gegen die Studierenden sein, sondern das ergibt sich aus der Klassenlage und der Rolle der ArbeiterInnen in der Gesellschaft. Außerdem hatte eine Menge dieser Leute Familien. Sie setzten also das Leben ihrer ganzen Familie aufs Spiel.
Einer der ArbeiterInnen erzählte mir, dass er 80% seines Lohns für die unabhängige Gewerkschaft spendet. Er sagte: „Das ist alles, was ich im Leben habe.“ Ich fragte: „Du meinst, das ist wie eine Investition für die Zukunft.“ Er antwortete: „Genau das ist es!“ Das erinnerte mich an einige der Berichte aus Südafrika, wo die ArbeiterInnen ihre Gewerkschaft als Ausweg aus Apartheid und Kapitalismus ansehen.
Bei den Studierenden war es viel leichter, zu einer grundsätzlichen Übereinstimmung über die Ideen zu kommen, auch zur vollen Übereinstimmung über das gesamte Programm. Die Frage des Sturzes der Kommunistischen Partei und der Errichtung einer neuen ArbeiterInnen- und Studierendenregierung wollten die ArbeiterInnen erst schlucken, als sie völlig überzeugt waren, dass meine Aussagen ernst gemeint waren. Es war leicht für mich, aus Übersee daherzukommen und über all dies zu reden. Aber sie mussten es durchführen. Also kam das Gespräch immerfort darauf zurück, ob es möglich sei, ihre Forderungen unter einer Regierung der Kommunistischen Partei durchzusetzen. Sie mussten immer wieder davon überzeugt werden, dass dies unmöglich wäre. Es war nicht einfach, das bei dem scheinbaren Gegenbeispiel der „Solidarität“ in Polen klarzumachen. Aber nach diesen drei Stunden hatten wir ein großartiges Gespräch geführt. Sie sagten: „Morgen werden wir unsere Gewerkschaft gründen. Möchtest du kommen und auf der Gründungsversammlung sprechen? Komm‘ wieder zur Verbotenen Stadt und wir werden weiterreden.“ Ich dachte, O.K., ich würde wieder hingehen, unsere Solidarität mit dieser Entwicklung anbieten und mit den dreißig ArbeiterInnen über ihre Zukunft sprechen. Ich verabschiedete mich, um weitere Gespräche mit den Studierenden zu führen.
Als ich am nächsten Tag zurückkam, waren drei der vier Führer, mit denen ich gesprochen hatte, in der vorhergehenden Nacht verhaftet worden, mit ihren Notizblöcken. Um ehrlich zu sein, beunruhigte mich das ein wenig! Warum waren sie verhaftet worden? In jenen Tagen wurden innerhalb der Bürokratie Gespräche darüber geführt, was zu tun sei. „Sollen wir die Bewegung zerschlagen, sollen wir die Armee hinschicken, oder sollen wir warten, bis sie einfach abstirbt?“ Meiner Meinung nach war es der Wendepunkt, als sie Wind bekamen von der potentiellen Entwicklung einer unabhängigen Gewerkschaftsbewegung — sie wussten aus der Erfahrung mit Solidarnosc, wie schnell sich eine solche Bewegung entwickeln konnte. Ich glaube, das war der Anlass, weswegen beschlossen wurde, „den Daumen drauf zu halten“ und zuzuschlagen. Die Verhaftung dieser drei Arbeiterführer war also kein Zufall, denn keiner der Studierenden war zu dem Zeitpunkt verhaftet worden, jedenfalls nicht in Peking. Aber diese ArbeiterInnen waren sofort verhaftet worden, als die Bürokratie davon hörte, was vor sich ging.
Am Dienstag erfuhr ich in der Verbotenen Stadt von den Verhaftungen. Ich tat alles, was in unserer Macht stand, Solidaritätsaktionen mit Hilfe internationaler Verbindungen zu organisieren, um diese drei ArbeiterInnen frei zu bekommen. Sie wurden übrigens am nächsten Tag wieder freigelassen, obwohl die meisten von ihnen hinterher getötet wurden — aber dazu komme ich später. Die Ereignisse überschlugen sich.
Als ich an jenem Abend zur Verbotenen Stadt kam, waren alle im Aufbruch. Ich fragte: „Was ist mit der Versammlung?“ Sie antworteten: „Die Versammlung findet hier nicht statt. Wir werden sie auf der anderen Straßenseite abhalten.“ Und ich sagte: „Oh“. Wir saßen dort einige Stunden, bis es anfing, dunkel zu werden. Ungefähr um sieben oder acht Uhr überquerten wir die Straße von der Verbotenen Stadt zum Platz des Himmlischen Friedens. Es war spät abends, nach der Arbeit. In den vorhergehenden 24 Stunden waren überall in Peking Plakate erschienen, die bekanntgaben, dass heute Abend eine unabhängige Gewerkschaft gegründet werde. Also waren um neun Uhr ein halbe Million Menschen auf dem Platz versammelt. Ich würde sagen, dass gut 40—50% von ihnen ArbeiterInnen waren.
Eine halbe Million Menschen
Wir bahnten uns einen Weg zum Denkmal der Helden des Volkes. Von dort aus war es wirklich ein einmaliger Anblick. Man sah eine halbe Million Menschen vor sich, verzweifelt nach Ideen suchend, nach Organisation und Führung auf dem Weg nach vorne, um ihren Kampf zu gewinnen. Es war ein ungeheurer Anblick: eine halbe Million Menschen, die die Ketten des täglichen Lebens abgeworfen hatten, wo sie sonst nur daran dachten, etwas zu verdienen, um die Familie zu ernähren. Jetzt war die Politik ihr Hauptinteresse. Es war stockdunkel. Jemand machte ein Foto mit Blitzlicht. Ein anderer zündete eine Zigarette an. Kleine Lichter flammten auf. Man fühlt sich wirklich klein, wenn man die Macht der Arbeiterklasse, oder wenigstens die verborgene Macht der Arbeiterklasse, direkt vor sich hat. Es wird mir klar, dass eine solche Bewegung mit marxistischen Ideen von keiner Macht auf Erden gestoppt werden könnte.
Vor der Versammlung kamen mehrere Leute, um ihre Solidarität auszudrücken: ein buddhistischer Mönch, ein einheimischer Popstar und — besonders interessant — eine 98 Jahre alte Frau, schon sehr gebrechlich, kam vorbei, die auf dem „Langen Marsch“ gewesen war und Mao gekannt hatte. Sie riskierte wirklich ihr Leben, in dem Alter, und besonders, da es immer deutlicher wurde, dass es irgendeine Art von Zuschlagen durch die Regierung geben würde — obwohl niemand erwartet hat, dass es so blutig werden würde. Ich bekam eine kurze Übersetzung. Sie sagte, sie habe ihr Leben der Revolution von 1949 gewidmet, und es würde ihr überhaupt keine Freude machen, hier stehen zu müssen, 40 Jahre später, und immer noch kämpfen zu müssen. Aber sie müsse es tun. Sie sagte, sie habe durch die Studierenden Mut bekommen, und sie hätte das Gefühl, bei ihnen zu sein, und, obwohl sie bald sterben werde, müsse der Kampf weitergehen. Ich muss ganz ehrlich sagen, dass mir die Tränen in die Augen stiegen, als ich sie sah. Sie erhielt stürmischen Beifall.
Ungefähr um zehn Uhr begann die Versammlung. Ich möchte an diesem Punkt einige Hintergrundinformationen geben. Überall in Peking, besonders im Zentrum, hatte die Regierung große Lautsprecher an den Telegrafenmasten befestigen lassen. Den ganzen Tag, ununterbrochen, besonders seit Beginn der Bewegung, brüllten sie ständige Kommentare in die Gegend, fast wie im Film „1984“. In spöttischem Tonfall redeten sie vom „Abschaum der Gesellschaft“, „Chaos“, „Konterrevolutionären“. Gleichzeitig sah man direkt vor sich die besten der Jugend der Welt, des Proletariats von China, im Kampf für unverfälschten Sozialismus und demokratische Rechte im Rahmen des Sozialismus. Aber auf dem Platz selbst hatten die Studierenden ihr eigenes Lautsprechernetz. Sie schmetterten immer lauter die Internationale, fast als wollten sie sagen: „Das sind alles Lügen, wir sind keine Konterrevolutionäre, wir sind eher diejenigen, die die beste Tradition der internationalen Arbeiterbewegung weiterführen.“
Die Geburt der Gewerkschaft
Ungefähr um zehn Uhr stand der Gewerkschaftsführer auf und las der versammelten Menge die Forderungen der Gewerkschaft vor, warum sie gegründet wurde, die Präambel, usw.. Ich war der zweite Redner. Ich stand auf und erklärte unsere Solidarität im Namen der ArbeiterInnen und Studierenden überall, die voller Begeisterung mit dieser Bewegung sympathisierten, die in Peking und in anderen Städten in China in den vorangegangenen Wochen stattgefunden hatte. Dann erklärte ich das Programm, das die Studierenden fast unbewusst übernommen hatten: Die Notwendigkeit der jederzeitigen Wähl- und Abwählbarkeit der Funktionäre, die Notwendigkeit, dass kein Funktionär mehr als einen durchschnittlichen Facharbeiterlohn verdient usw. Ich fuhr fort mit der Frage der kommunistischen Regierung. Ich sagte, dass jeder „Kommunist“ oder jede „kommunistische“ Regierung, die ArbeiterInnen verhaftete und sich gegen die demokratischen Rechte der ArbeiterInnen stellte, nicht wirklich kommunistisch sei. Ich sagte, dass die einzigen wahren Kommunisten in China — die, die den Traditionen von Marx, Engels und Lenin folgen — jene seien, die diese Bewegung unterstützten. Ich kann euch sagen, dass besonders diese Aussage sehr gut aufgenommen wurde. So etwas wollten die Leute hören. Ich sprach ca. 10-15 Minuten lang. Es kam sehr gut an. Nach mir kamen noch zwei Redner.
Die Leute wollten nicht hören: „Ihr müsst den Weg des Westens gehen“, oder „Wir haben großartige demokratische Rechte im Westen, diesen Weg müsst ihr auch gehen“. Ein Student stellte dies so dar: „Wenn wir kapitalistisch würden, wäre es wie in Indien, nicht wie in Japan. Wir haben hier eine Milliarde Menschen. Wenn die Kapitalisten nach China kämen, würden sie uns wirtschaftlich in Stücke reißen. Wir haben da keine falschen Vorstellungen.“
Die kapitalistischen Journalisten interpretierten viel in die sogenannte „Freiheitsstatue“ hinein, die die Studierenden auf dem Platz aufgestellt hatten. Aber für die Studierenden war sie kein Symbol der Unterstützung für den US-Imperialismus oder dafür, zum Kapitalismus zurückzukehren. Sie symbolisierte demokratische Rechte. Viele der Studierenden zweifelten daran, ob man sie überhaupt hätte aufstellen sollen. „Wenn wir in Südamerika wären“, sagten sie mir, „würde dies nicht so gut ankommen“. Hier war diese Statue, dort wurde die ganze Zeit die Internationale gespielt. Es war absolut nicht die Rede davon, zum Kapitalismus zurückzukehren.
Denn die Vorteile der Planwirtschaft — wie der Gesundheitsdienst — sind für jeden sichtbar. Ein kleines Beispiel: Ein ganzer Tag im Zoo von Peking — der wahrscheinlich der beste Zoo der Welt ist — kostet nicht mehr als den Gegenwert eines australischen Cents. U-Bahnen, Busse, Mieten usw. sind billig, fast zum Nulltarif. Es gibt zwar eine Gebühr, aber die beträgt nur einen sehr kleinen Prozentsatz des Einkommens. Das große Problem für die ArbeiterInnen ist die Inflation, die Auswirkungen auf Nahrungsmittel und Kleidung hat.
Ein Student sagte zu mir: „Wir wissen viel vom Westen, wir sind nicht dumm. Wir wissen, dass nur eine Minderheit der Menschen im Westen in Ländern wie Japan, Australien oder Großbritannien lebt. Wir wissen auch, was die Schwarzen in Amerika zu leiden haben. Wir wissen, dass es in Amerika viele Arbeitslose gibt. Wir wissen, dass die meisten Menschen im sogenannten Westen, in der kapitalistischen Welt, in Afrika, Süd- und Mittelamerika usw. leben.“ Diese Leute wussten, was vor sich ging. Sie wollten die Vorteile aus der Revolution von 1949 bewahren, mit anderen Worten, die staatliche Planwirtschaft und die anderen kulturellen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Vorteile. Aber sie glaubten, dass diese Vorteile begrenzt wären, dass der großartige Unternehmungsgeist, der in einer Milliarde Menschen steckt, von der bürokratischen Ordnung erstickt würde.
Die bürgerliche Presse sieht die chinesischen ArbeiterInnen als „faul“ an, weil es sehr viel personelle Überbesetzung zu geben scheint. Wenn also ein Rationalisierungsexperte von MacDonald nach China käme, wäre das für ihn ein Erfolgserlebnis! Aber es ist nicht eine „Überbesetzung“ als solche, oder dass Chinesen „faul geboren“ werden. Die Tatsache, dass jeder einen Arbeitsplatz hat, ist gerade einer der Vorteile der Planwirtschaft. Obwohl die sogenannten „Markt-Sozialisten“ in der Bürokratie dem natürlich ein Ende bereiten wollen. Aber warum sollte man härter arbeiten, wenn man weiß, dass man, egal was man tut, nicht mehr Vorteile davon hat, und wenn man das Gefühl hat, kein Mitspracherecht bei den Regierungsgeschäften zu haben, wo es eigentlich die „eigene“ Regierung sein sollte? Es ist ein bisschen anders als die Arbeit für eine kapitalistische Firma. Wenn man hier härter arbeitet und seine Arbeit um zwei Uhr beendet, obwohl man erst um fünf Uhr nach Hause gehen sollte, erlaubte es der Chef nicht, dass man drei Stunden früher geht. Man bekommt einfach für drei weitere Stunden Arbeit. Leider ist es in diesen sogenannten „sozialistischen“ Ländern fast genau so. Das ist der Grund dafür, dass die Begeisterung an den Arbeitsplätzen, die Produktion zu steigern, nicht mehr die gleiche ist wie in den ersten Jahren nach 1949. Es liegt an der Bürokratie, nicht an den Menschen. Dessen sind sie sich durchaus bewusst.
Selbst in der Regierungspresse gab es vor der Niederschlagung Artikel, die beschrieben, wie Investitionen aus Übersee kämen, aber durch bürokratische Misswirtschaft und Korruption zurückgehalten würden. Es kämen Firmen ins Land, die versuchten, Rohstoffe zu bekommen und Güter von einer Provinz in die andere zu transportieren. Das ist fast wie Feudalismus. Die Nation zu vereinigen war eine der historischen Aufgaben der bürgerlichen Revolution. Aber auf der Basis des Stalinismus hat die Chinesische Revolution nicht einmal das erreicht. Um etwas von Kanton nach Peking zu transportieren, muss man verschiedene Provinzen mit unterschiedlichen Steuersystemen durchqueren. Formulare müssen ausgefüllt werden, alle dreifach. Wenn man in Peking eine Schachtel Streichhölzer kaufen will, erhält man eine Quittung — dreifach, nicht nur doppelt. Das ist die völlig verrückte Bürokratie. Nicht einmal in der Kolonialwelt ist es so.
„Sozialismus in einem Land“ erstickt die Wirtschaft. In der Zeitung erschien ein Brief eines Wissenschaftlers aus Schanghai. Schaut euch Sibirien an, schrieb er. Es muss weiterentwickelt werden. Es besteht ein Mangel an sowjetischen ArbeiterInnen, die bereit sind, nach Sibirien zu gehen. Sie müssen den drei- oder vierfachen Durchschnittslohn erhalten. Wir haben ein Übermaß an Leuten in Nordost-China, in Peking. Sie würden liebend gerne nach Sibirien gehen. Auch noch mit der Hälfte dessen, was die sowjetischen ArbeiterInnen bekommen, würden sie immer noch mehr verdienen als in China. Da wir beide sozialistische Länder sind, und weil Gorbatschow uns nun besucht hat, könnten wir doch sicherlich einen gemeinsamen Ausweg finden? Das hat er vorgeschlagen. Aber auf der Basis einer bürokratischen Ordnung ist das natürlich unmöglich.
Eine Regierung von Dinosauriern
In anderen Leserbriefen beschwert man sich über das Maß an Umweltverschmutzung, das sehr groß ist, besonders in Peking, weil es im Binnenland liegt. Man gibt die Schuld daran der Bürokratie, und das ist wichtig. All das bezeichnet die Frustration, die sich besonders bei Intellektuellen und Studierenden bemerkbar macht, aber doch eine tiefere, weit verbreitete Stimmung wiedergibt. Alles bewegte und lockerte sich, man durfte sich außerhalb der Landesgrenzen bewegen und in Übersee studieren — aber man wurde immer noch von der gleichen bürokratischen Elite politisch beherrscht, fast noch wie zur Zeit der Kulturrevolution. Die ganze Zeit gab es eine kombinierte, aber ungleichmäßige Entwicklung, veraltete politische Strukturen, Seite an Seite mit äußerst fortschrittlicher Technologie. In Peking, und besonders in Schanghai kommt man sich vor wie in London. Es gibt Nachtclubs und Restaurants wie in jeder beliebigen westlichen Stadt. Aber an der Spitze steht eine altmodische, überholte Regierung, die in der Vergangenheit lebt, die darüber redet, dass „eine Million“ Menschen entbehrlich“ sei, oder: „die neue Generation hat die Lehren aus dem ‘Langen Marsch‘ vergessen. Sie hat das Land nie befreit, wir haben es getan.“
Die wirtschaftliche und die politische Situation widersprechen einander völlig, und das hatte große Wirkung auf die Intellektuellen. Als diese Menschen die politische Öffnung in der Sowjetunion, Polen, Ungarn, usw. sahen, sagten sie sich: das wollen wir auch! Es war keine Bewegung von unten gegen wirtschaftliche Verschlechterung, es war anfangs eine intellektuelle Bewegung. Deshalb dauerte es eine Weile, bis die ArbeiterInnen einsahen, wie wichtig es für sie war, an diesem Kampf teilzunehmen.
Aber aus allen Teilen der Gesellschaft kam massive Unterstützung. Nicht nur aus den Reihen der ArbeiterInnen, sondern sogar aus großen Schichten der Bürokratie selbst. Am Tag meiner Ankunft z.B. nahm an dem Marsch eine Delegation der „Pekinger Volkszeitung“ teil, der meistgelesenen Zeitung der Welt. Sie berichtete täglich über die Geschehnisse. Um die Zensur irrezuführen begannen sie so: „Auf dem Platz des Himmlischen Friedens geschah heute Furchtbares.“ Dann gaben sie detailliert wieder, was genau geschehen war. Am Schluss schrieben sie: „Nach den Worten des Premier Li Peng war es verbrecherisch.“! Sie erhielten großartige Reaktionen von den Leuten auf dem Marsch. Sogar im Regierungs-Fern sehen wurde in leicht veränderter Form von den Entwicklungen berichtet. So konnten die Menschen in anderen Städten und auch auf dem Land verfolgen, was vor sich ging. Aber der wirkungsvollste Weg, Nachrichten weiterzugeben, war die „Buschtrommel“, wie wir es in Australien nennen. Es gab nur wenige Einschränkungen der Freizügigkeit für die Stadtbewohner. Die Züge waren vollgestopft mit Studierenden, die aus Schanghai und anderen Städten hin und her reisten.
Trotzdem war die Arbeiterklasse nicht an die Spitze der Bewegung getreten oder hatte ihr nicht einmal ihren Stempel in Form von Streiks aufgedrückt. Auf dem Gipfel des Kampfes, vor meiner Ankunft, verließen ArbeiterInnen ihre Baustellen und Fabriken und nahmen an den Demonstrationen teil. Aber auch das konnte nicht als organisierter Streik angesehen werden. Am Tag nach dem Massaker, als der Generalstreik ausgerufen wurde, kam es zum völligen Stillstand des Transportwesens. Hotelangestellte traten in den Ausstand. Aber beispielsweise die Bauindustrie lief weiter. Die ArbeiterInnen befürchteten nämlich teilweise, ihren Arbeitsplatz zu verlieren, wenn sie, ohne Garantie auf Sieg, sich dieser Bewegung anschlössen. Diese Probleme sprachen die Gewerkschaftsführer an, als ich mich mit ihnen unterhielt.
Die Stimmung der ArbeiterInnen
In den Fabriken, herrschte die Angst vor der Möglichkeit des Endes dieser Bewegung und ebenso davor, dass die Forderungen noch zu unausgereift waren. „Wir stimmen mit den Forderungen der Studierenden nach demokratischen Rechten überein, aber sie reden eigentlich nicht direkt von Macht. Und wir sind nicht zuversichtlich, dass wir nicht, wenn wir streiken, doch wieder mit den gleichen Bastarden dasitzen, die uns bei unserer Arbeit oder die Gesellschaft als ganzes beherrschen“ — also die Bürokratie der Kommunistischen Partei. Das war es, was die ArbeiterInnen dachten. Bevor sie nicht überzeugt sein konnten, dass es irgendeine Veränderung geben würde, zögerten die ArbeiterInnen sogar, der unabhängigen Gewerkschaft beizutreten.
Eigentlich hatten die wirtschaftlichen Reformen der letzten zehn Jahre widersprüchliche Wirkungen. Einige ArbeiterInnen haben Vorteile daraus. Es gibt z.B. keinen Mangel an Konsumgütern, wenigstens nicht in Peking oder Schanghai, von Autos bis zu ausländischen Zigaretten. Es ist nicht so wie in Polen. Außerdem wird ein System, in welchem die Bürokratie und Ausländer spezielles Geld haben, anderes als normale Leute, immer wieder zusammenbrechen. Wenn man im Taxi fährt, muss man mit fremder Währung zahlen. Viele ArbeiterInnen haben diese fremde Währung, mit der sie Konsumgüter kaufen können.
Von diesen ArbeiterInnen, die etwas besser leben, kam die aktive Unterstützung für die Bewegung. Die Gründer der unabhängigen Gewerkschaft, z.B., hatten zum größten Teil ziemlich gut bezahlte Arbeitsplätze. Vielleicht waren sie deshalb selbstbewusster — und gleichzeitig wurden ihre Einkünfte von der Inflation weggerafft. Auf keinen Fall wollen diese ArbeiterInnen zur strengen Zentralisierung der Vergangenheit, zur Unterdrückung, die mit der Kulturrevolution einherging, zurückkehren. Fast wie die Studierenden sagen sie, sie hätten „wirtschaftliche Reformen“ gehabt, wie wäre es jetzt mit Demokratie dazu, Demokratie auf der Basis einer Planwirtschaft.
Wenn die unabhängige Gewerkschaft einen Monat oder auch nur zwei Wochen früher gegründet worden wäre, wäre sie sehr schnell gewachsen. Die Studierenden hatten Vertrauen zu den ArbeiterInnen. Aber die Gewerkschaft wurde gegründet, als die Studierendenbewegung bereits am Abebben war. Die Masse der ArbeiterInnen, die glaubte, am meisten zu verlieren zu haben, war noch nicht zuversichtlich genug, aktiv daran teilzunehmen. Aber wenn das nächste Mal eine Bewegung entsteht, gibt es keinen Zweifel, dass sich gleich zu Beginn eine unabhängige Gewerkschaft bilden wird.
Schanghai
Am Tag nach dieser Versammlung — historisch, weil sie die erste unabhängige Gewerkschaft in China seit der Revolution von 1949 in die Welt setzte — ging ich nach Schanghai. An der dortigen Universität führte ich einige großartige Gespräche mit Studierenden.
Ich möchte einiges über den Lebensstil der Studierenden erzählen. Man mag den Eindruck haben, dass die Studierenden in China in gewisser Weise eine privilegierte Elite seien, die in den Kampf gezogen seien, weil sie über die Lebensbedingungen um sie herum entsetzt wären, nicht über ihre eigenen. Das ist ein falscher Eindruck. Die meisten Studierenden der Universität in Schanghai wohnen auf dem Campus und in Studierendenwohnheimen, die in einem furchtbaren Zustand sind. Sie wohnen zu zehnt in einem Schlafsaal, ohne Teppich oder wenigstens Fußbodenfliesen, mit Betonböden und Betonwänden. Sie haben noch nicht einmal Farbe an den Wänden und keine Heizung. Und das Essen… der Geruch ist das Schlimmste. Man kann es zwar schlucken, aber der Geruch macht es äußerst schwierig. Die Unterstützung, die sie von der Regierung erhalten, ist sehr klein. Sie leben teilweise in sehr großer wirtschaftlicher Not. Das einzige Privileg, das sie besitzen, ist die Chance, zu studieren und zu lernen.
Abends organisierten die Studierenden ein Treffen, auf dem ich sprechen sollte, mit einem Hungerstreikenden, der am nächsten Tag nach Peking fahren sollte. 500 Menschen nahmen daran teil, umgeben von Studierenden, die mit Stöcken bewaffnet waren, weil die Universitätsleitung die Versammlung verboten hatte. Ich erklärte die Verbindung zwischen dem Kampf in China und denen in anderen stalinistischen Ländern, in Polen, Jugoslawien und der Sowjetunion. Wieder einmal zeigte sich der Internationalismus der Studierenden. Als ich ihre Erfahrungen international verallgemeinerte, kamen die meisten Reaktionen. Nachtwachen bei Kerzenlicht vor der chinesischen Botschaft in London oder in New York interessierten sie nicht. Sie wollten Ideen, wollten eine Art Führung für die Bewegung und den richtigen Weg hin. Das war ihnen soviel wert wie tausend Tränen im Rest der Welt. So wenigstens der Eindruck, den ich von ihnen hatte.
Ich wusste nicht, dass, als ich zu denen sprach, die ich für eine geschützte Menge von 500 Menschen hielt, meine Rede über den Studierenden-Sender direkt zu 50.000 Menschen in der Universität übertragen wurde! Am nächsten Tag kehrte ich nach Peking zurück — so schnell wie möglich. Am Samstag war ich wieder auf dem Platz des Himmlischen Friedens, am Tag vor dem Massaker. Wie vorher schon, führte ich auch an diesem Tag einige hervorragende Gespräche mit verschiedenen Studierendengruppen, im Inhalt ähnlich wie zuvor.
Samstag, der 3. Juni
Gegen Abend ging ich zurück zum Denkmal, um mich zu setzen. Es war eine warme, milde Nacht. Tausende von Menschen waren dort. Es war Samstagabend und wir ruhten uns alle ein wenig aus. Morgen würde ein neuer Tag sein … und sonntags kamen immer die ArbeiterInnen hierher. Alles schien in Ordnung. Am frühen Abend lag eine leichte Spannung in der Luft. Sofort holten die Studierenden jene herbei, die sie als „Lumpen-Jugend“ bezeichneten, ehemalige Zuchthäusler, wie sie sie nannten, die die Studierenden unterstützten, rau, aber zuverlässig. Eigentlich ganz nette Jungs. Sie kamen bewaffnet mit Mistgabeln und Knüppeln. Sie setzten sich in meiner Nähe hin. Sie sprachen kein Englisch. Aber einer von ihnen gab mir einen Schluck Wasser, ich nahm es…und es schmeckte wie irischer, schwarzgebrannter Whisky, es war überhaupt kein Wasser, sondern das stärkste, das ich je in meinem Leben getrunken habe! Ich glaubte, es sei Wasser und nahm daher einen kräftigen Schluck.
Aber ich musste nicht husten, also dachten sie wohl, „der ist schon in Ordnung!“
Im Laufe des Samstag geschah einiges, das mir und den Studierenden das Gefühl gab, dass in dieser Nacht etwas passieren würde. Zum ersten hatte die Regierung Spione auf den Platz geschickt. Die chinesische Regierung besitzt nicht diese Erfahrung in Sachen Unterdrückung, von der man schon gehört hat, wenn man „Die rote Kapelle“ oder „Tagebuch der Hölle“ gelesen oder die DDR besucht hat. Die Unterdrückung hier ist grober, blutiger. Diese Spione trugen z.B. alle weiße T-Shirts und Khaki! Offensichtlich war ihnen befohlen worden, getrennt aufzutreten, aber sobald sie den Platz erreicht hatten, bekamen sie solche Angst, dass sie alle beisammen standen! Die Studierenden nahmen sie gefangen, schleppten sie zum Denkmal der Helden des Volkes und verprügelten sie. Sie töteten sie nicht, verprügelten sie nur. Dann stellten sie sie vor ein Mikrophon, und man konnte hören: „Oh, es tut mir leid, ich wollte das nicht tun, ich wurde gezwungen, hierher zu kommen“. Dann verprügelten sie sie nochmals und ließen sie laufen. Das war eine ganz gute Taktik.
Die Studierenden und ArbeiterInnen auf dem Platz waren nicht bewaffnet. In den vorhergehenden Tagen und Wochen hatten ArbeiterInnen aus den Waffenfabriken, die im Streik waren, den Studierenden Waffen angeboten. Die Studierenden lehnten ab. An diesem Samstag, als die 27. Armee in Richtung Peking zog, hielten zwei gepanzerte Armeetransporter — die in Wirklichkeit voll mit Waffen waren, nicht mit Soldaten — und boten den Studierenden diese Waffen an. Wieder lehnten sie ab. Sie besaßen nur Knüppel. Einige Studierenden hatten Handfeuerwaffen, und sie empfanden sich selbst als Terroristen. Sie wollten Li Peng erschießen. Sie waren nicht daran interessiert, ihre Waffen mit den anderen zu teilen. Es war wie ein Privileg, sie waren fast stolz auf die Tatsache, dass sie eine Waffe hatten. Allerdings hatten sie nur sechs oder sieben Patronen.
Noch bevor es dunkel wurde, ca. fünf Uhr nachmittags, zogen 3.000 Soldaten in die große Halle des Volkes, westlich des Platzes des Himmlischen Friedens. Sie übernahmen das Gebäude. Dahinter saßen sie alle in konzentrischen Kreisen. Die meisten waren unbewaffnet, außer einigen in der Mitte. Die Studierenden umringten sie und sprachen mit ihnen. Einige dieser Gespräche verliefen gut. Manche Soldaten weinten und sagten: „Wir wollen gar nicht hier sein“.
Über die Armee muss gesagt werden, dass sie eine Bauernarmee ist. Wie zu jeder Zeit der chinesischen Geschichte ist es eine Bauernarmee. Aus einer Fabrik mit tausend ArbeiterInnen werden vielleicht drei einberufen. Als Industriearbeiter muss man schon sehr viel Pech haben, um in die Armee gehen zu müssen. Wenn man zur Universität geht, kann man fast sicher sein, nicht einberufen zu werden. Die meisten Bauern aber wollen in die Armee, denn nach drei Dienstjahren darf man in der Stadt leben — was bei Bauern sonst nicht der Fall ist. Also sind auch die „Pekinger Truppen“ Bauern aus der Gegend um Peking, nicht Industriearbeiter oder Studierende aus Peking.
Es ist eine bewusste Taktik der Bürokratie, die Armee nicht auf Industriearbeitern aufzubauen. Trotzdem, wenn (unbewaffnete) Soldaten bisher geschickt worden waren, um den Platz zu räumen, hatten sie auf die Appelle der ArbeiterInnen und Studierenden reagiert, welche die Truppen und ihre Fahrzeuge umringten und sie überredeten wegzugehen.
Barbarei
An jenem Samstagabend kehrte ein Student aus dem Westen der Stadt zurück und berichtete uns, dass Soldaten mit Tränengas angerückt seien. Ungefähr einen Tag vorher war ein Militärfahrzeug in eine Gruppe von drei Studierenden gefahren und hatte sie getötet. Die Stimmung war also ziemlich angeheizt. Ein Student fing an, Steine nach den Soldaten zu werfen. Und das war der Beginn der Barbarei, die ich einige Stunden später sehen sollte.
Einige der Soldaten liefen in die Menge und fingen den Studierenden. Sie schleppten ihn zwischen die 3.000 Soldaten und zogen ihn aus. Es war immer noch sehr heiß, ca. 32° C. Sie schlugen ihn mit einem hölzernen Knüppel auf den Kopf. Er stand immer noch. Sie sorgten dafür, dass er stehen blieb. Sie zertrümmerten ihm den Schädel. Er stand einfach da und verblutete. Ungefähr zwei Stunden später fiel er tot um. Es war ein entsetzlicher Anblick. Sie zwangen ihn, dort zu stehen, aus seiner Kopfwunde blutend, bis er starb.
Aber zu diesem Zeitpunkt waren die ArbeiterInnen und Studierenden noch zuversichtlich. Die ArbeiterInnen der unabhängigen Gewerkschaft übernahmen jetzt die Planung. Sie hatten Stadtpläne und sagten: „Die Soldaten sind hier, die Soldaten sind dort … wir sollten Arbeiterbataillone hierhin schicken und dorthin … die älteren Arbeiterinnen (die am besten mit den Soldaten sprechen und sie vom Schießen abhalten konnten) sollten wir dorthin schicken, denn das sind die grausamsten der Soldaten, bei denen am meisten Überredungskraft gebraucht wird.“ Je weiter der Samstagabend fortschritt, desto mehr übernahmen die ArbeiterInnen die Führung von den Studierenden. Fast als ob sie dachten: „Dies ist jetzt unsere Schlacht. Ihr Studierenden habt die Bewegung soweit geführt, das ist O.K., aber jetzt müssen wir übernehmen.“ Die unabhängige Gewerkschaft war zu dem Zeitpunkt erst im Anfangsstadium. Sie war schließlich erst einige Tage alt. Und da sie erst gegründet wurde, als die Bewegung bereits wieder abebbte, und nicht gleich am Anfang, hatten viele ArbeiterInnen immer noch Angst, der Gewerkschaft beizutreten oder sich von ihr leiten zu lassen. Aber die Gewerkschaftsführer taten, was sie konnten, ohne zu vergessen, dass sie kein ausgefeiltes marxistisches Programm hatten, und dass sie nicht bewaffnet waren.
Um Mitternacht geschah es. Die 27. Armee rückte vom Westen her an. Das waren keine Soldaten aus Peking. Sie hatten in Vietnam gekämpft. Sie hatten die nationalen Rechte der tibetischen Bevölkerung unterdrückt. Sie waren an der russischen Grenze gewesen. Diese Soldaten waren ans Töten gewöhnt. Und in den Wochen vorher konnte man sogar in den Regierungszeitungen und im Fernsehen sehen, dass die Bürokratie und die Befehlshaber diese Soldaten schon in Lagern vor der Stadt stationiert hatten. Sie durften keine Zeitungen lesen. Sie wurden nur auf eines getrimmt: „Wenn ihr in die Stadt einzieht: die Leute, die euch gegenüberstehen, sind Faschisten, Konterrevolutionäre. Sie werden Dinge zu euch sagen, wie z.B., die Volksbefreiungsarmee könne die Leute nicht einfach erschießen, usw.. Aber das ist nur ein Trick. Das meinen die nicht so. Das ist nur Propaganda.“ Diese Soldaten waren also auf das vorbereitet, was Studierenden und ArbeiterInnen zu ihnen sagen würden. Das war Gehirnwäsche.
Es gab Gerüchte, dass sie Drogen gespritzt bekämen. Man erzählte ihnen natürlich, dass der Platz des Himmlischen Friedens verseucht sei, was nicht stimmte. Vor der Niederschlagung gaben offizielle Regierungszeitungen zu, dass die Zahl der Verkehrsunfälle und Verbrechen in Peking — welches im Grunde unter Kontrolle und Verwaltung der ArbeiterInnen stand, oder zumindest Elemente von Doppelherrschaft aufwies — gesunken war. Ich sah in Peking vor der Eskalation nicht einen Polizisten, außer Verkehrspolizisten, und auch die waren überflüssig. Sie standen nur herum, während die Studierenden den Verkehr regelten. Jedenfalls ging das Gerücht um, dass diese Soldaten so etwas wie Aufputschmittel oder Adrenalinspritzen erhielten. Ein französischer Reporter, der in Algerien gekämpft hatte, erzählte mir, dass sie damals, wenn sie im 24-Stunden-Einsatz waren, Spritzen bekamen, welche sie wach und aufmerksam halten sollten. Er nahm an, dass sie hier den Soldaten das gleiche verabreichten.
Wenn das, was folgt, nicht mehr so flüssig sein sollte, dann deshalb, weil ich in der letzten Woche einige entsetzliche Dinge gesehen habe, schreckliche Dinge, die ich nie wieder sehen möchte. Die einzige Garantie dagegen ist die Verbindung der Bewegung mit marxistischen Ideen. Darum kommt man einfach nicht herum.
Mitternacht
Um Mitternacht rückten die Soldaten in folgender Formation ein. Zuerst die, die Tränengas warfen. Es gibt verschiedene Formen Tränengas. Das hier ließ nicht die Augen tränen, sondern löste Krämpfe in Magen und Brust aus. Einige Studierenden hatten mir eine Gasmaske gegeben, und ich fühlte mich sehr privilegiert, fast als hätte ich noch einmal dieses Banner erhalten, denn es gab sehr wenige dieser Masken. Ich wollte sie nicht nehmen, aber sie bestanden darauf, es war unmöglich, nein zu sagen.
Danach kamen die Soldaten mit Schlagstöcken. Das ist reine Ironie: Auf der einen Seite redet die Bürokratie davon, dass die Studierenden pro-kapitalistisch und die Regierung eine „revolutionäre Regierung“ sei, auf der anderen Seite waren diese Schlagstöcke aus Taiwan importiert. Das kapitalistische, konterrevolutionäre Taiwan versorgte die chinesischen Stalinisten mit Schlagstöcken, um chinesische ArbeiterInnen und Studierenden damit zu verprügeln. Es waren nicht nur einfache Schlagstöcke. Diese waren elektrische Schlagstöcke, so dass man nicht nur einen furchtbaren Schlag auf den Kopf, oder wo sie einen auch treffen mögen, sondern gleichzeitig einen elektrischen Schock bekommt.
Das war die zweite Welle. Die dritte bestand aus bewaffneten Fußsoldaten. Darauf folgten Panzer und gepanzerte Armeetransporter. Mit den gepanzerten Fahrzeugen kamen Kommandeure in Jeeps im Stil der US-Jeeps im 2. Weltkrieg mit großen Antennen. Es waren auch Hubschrauber da, aber die waren bei Nacht nicht sehr nützlich, da sie keine Scheinwerfer hatten. Sie sollten die Leute nur einschüchtern. Am nächsten Tag waren sie allerdings zumindest für die Regierung nützlich.
Etwa um sechs Uhr nachmittags wurden auf den Straßen, die zum Platz führten, mit Bussen Barrikaden errichtet. Die Leute auf dem Platz steckten die Busse in Brand, als sie die Soldaten kommen sahen. In jeder Straße im Zentrum von Peking gibt es Zäune von ca. einem halben Meter Höhe. Sie gruben diese Zäune aus und stellten sie auf jeder Seite der brennenden Busse auf. Sie rissen die Wege auf, um steinerne Barrikaden zu errichten. Es wurde viel aufgebaut. Backsteine wurden zerbrochen, damit sie leicht weiter geworfen werden konnten. Ein großer Stein, den man nicht werfen kann, ist nutzlos. Nur einige wenige ArbeiterInnen und Studierenden hatten Waffen.
Aber die Schlacht verlief an der politischen Front, d.h. auf dem Felde der Propaganda. Selbst als die Soldaten mit dem Tränengas kamen, liefen die Leute ihnen entgegen und riefen: „Ihr könnt uns nicht erschießen, ihr seid die Armee des Volkes! Wie könnt ihr das Volk erschießen?“ Man hörte, dass sogar in dieser Nacht einige Soldaten sich weigerten zu schießen, und dass ihre Kommandeure sie mit Waffen bedrohen mussten, damit sie es doch taten. Als es geschah, und sie anfingen zu schießen, dachte selbst ich als Marxist zunächst, sie könnten es nicht tun. Das klingt vielleicht naiv, aber ein solches Massaker direkt vor sich zu sehen, war ein schockierendes Erlebnis. Man lässt sich von der Bewegung um sich herum beeinflussen, und die Bewegung um mich herum war überzeugt, dass die Soldaten nicht schießen würden. Als es geschah, war es ein Schlag für das ganze System.
Massaker
Sie haben das Feuer eröffnet, und die Menschen fallen einfach um, immer mehr. Einige stehen manchmal wieder auf und gehen auf die Soldaten zu, einige mit roten Fahnen, einige mit Steinen, andere rufen nur. Sie brechen zusammen, sie stehen wieder auf. Die Soldaten schießen jeden nieder.
Ich habe einen Dreijährigen gesehen, mit einem Bajonett durch die Brust. Ich habe eine schwangere Frau gesehen, der sie das Bajonett in den Leib gestochen hatten, und ihr ungeborenes Kind lag neben ihr auf dem Boden. Es war absolut grauenhaft, was sie taten.
Es war ein halbstündiger Zug einer angreifenden Armee, die durch die Barrikaden hindurch gegen die Studierenden und ArbeiterInnen kämpfte. Sie hatten sich im Laufe des Nachmittags in den Arbeitervierteln formiert. Als sie vorrückten — und dabei blieben sie zusammen, denn keiner der Soldaten wollte von den anderen getrennt werden — folgten diesem halbstündigen Zug Tausende von unbewaffneten ArbeiterInnen, manche auf Fahrrädern. Diese Masse von ArbeiterInnen hinter den Soldaten konnte nicht gegen sie kämpfen, aber sie sangen die Internationale. Die Soldaten im hinteren Teil der Truppe wussten nicht, was sie tun sollten. Sie schossen gelegentlich. Jeder ließ sich fallen. Man wusste nicht, wie viele getötet wurden, denn manche standen wieder auf, und die Toten blieben zwischen ihnen auf dem Boden liegen. Es sah fast aus wie Wellen am Strand, immer und immer wieder, und sie sangen die Internationale.
Später in der Nacht wurden die Menschen immer verbitterter. Sie riefen den Soldaten „Faschisten, Faschisten“ zu. Jeder, der die Frechheit besitzt zu behaupten, diese Bewegung sei konterrevolutionär, hätte bloß einmal fünf Minuten dort sein sollen.
Auch die bürgerlichen Journalisten konnten nicht glauben, was sie sahen. Einige dieser Journalisten bekamen Angst und liefen davon, andere waren recht tapfer. Die Journalisten haben mehr Mumm als die reformistischen Führer der Arbeiterbewegung im Westen, denn sie werden von ihren Zeitungen von Brennpunkt zu Brennpunkt geschickt, und sie legen sich ein Verständnis für weltweite Entwicklungen zu. Sie sehen die Weltrevolution direkt vor sich ablaufen. Aber sogar einige dieser Leute konnten nicht glauben, was sie sahen.
Als die Soldaten den Platz des Himmlischen Friedens, das Zentrum der Revolution erreichten, umkreisten sie ihn und setzten sich hin. Die Studierenden und ArbeiterInnen wurden von Norden, Osten und Westen her umzingelt. Nur Richtung Süden gab es eine Fluchtmöglichkeit. die Soldaten gaben den Studierenden eine Stunde zu verschwinden. Zu diesem Zeitpunkt verließ ich den Platz mit drei Studierenden, die mir halfen, in den Süden zu fliehen. Danach formierten sich viele der Studierendenführer zu einem Block, wie eine militärische Formation, und schoben sich durch die Truppen. Als sie zwischen den Soldaten durchliefen, wurden sie ziemlich übel geschlagen, aber keiner von ihnen wurde getötet.
Einige der Studierenden und ArbeiterInnen blieben auf dem Platz. Die Soldaten mähten sie einfach um. Sie schossen sie tot. Sie erschossen sie einfach. Tote und Verletzte lagen auf dem Platz. Dann kamen die Panzer und überrollten sie, zerdrückten sie. Die Soldaten hatten Bulldozer, mit deren sie die Leichen und Zelte auf einen Haufen schafften und jeden und alles darin verbrannten. Ich bin überzeugt., dass einige der Menschen noch am Leben waren, als sie verbrannt wurden. Dafür habe ich allerdings keine Beweise. Alle diese Menschen sind jetzt offiziell für vermisst erklärt, nicht für tot.
Das war am frühen Sonntag morgen. Bis zum Sonntag Mittag wurde in den Straßen von Peking gekämpft. Als ich ungefähr um sechs Uhr morgens zum Platz des Himmlischen Friedens zurückkehrte, sah ich die Kehrseite, denn es war keine einseitige Schlacht.
Straßenkämpfe
Die Soldaten beschossen die Studierenden auf den Straßen mit Tränengas. Die Studierenden flohen, versuchten über einen Zaun zu klettern. Elf der Studierenden, die die volle Wucht des Tränengases abbekamen, schafften es nicht, hinüberzukommen. Ein Panzer fuhr nah am Zaun entlang und drückte sie zu Tode. Sie waren flach wie Streichholzschachteln. Dieser Panzer verlor den Anschluss an die anderen. Die ArbeiterInnen umzingelten ihn wie Ameisen eine tote Ratte. Sie rissen den Deckel ab. Drinnen saß ein Kommandeur, nicht nur ein einfacher Panzerfahrer. Sie holten ihn heraus, verprügelten ihn und verbrannten ihn bei lebendigem Leibe, wie man es seit 1984/86 in Südafrika immer wieder sieht. Dann hängten sie ihn auf, als Warnung für die Soldaten weiter unten auf der Straße. So war es fast überall, seit das Massaker angefangen hatte. Wenn die Leute Soldaten zu fassen bekamen, rissen sie sie praktisch in Stücke. Zu diesem Zeitpunkt gab es hierzu einfach keine Alternative.
Wenn die ArbeiterInnen bewaffnet gewesen wären, und wenn schon früher im Kampf solche Exempel statuiert worden wären, hätte es anders ausgehen könne. Ich rede nicht von Exempeln an einzelnen Gefangenen oder einzelnen verängstigten Spionen auf dem Platz des Himmlischen Friedens. In solchen Fällen sollte man sie ein wenig verprügeln, sie dazu bringen, sich zu entschuldigen und Propaganda daraus machen. Aber wenn Soldaten töten, wie zu diesem Zeitpunkt, blindlings, barbarisch, dann muss man darauf brutal reagieren. Dies war Revolution oder Konterrevolution direkt vor den Augen aller, und so etwas ließ sich da nicht verhindern.
An jenem Sonntag herrschte Zorn, nicht Bedrückung. Ein frustrierter Zorn: „Wie konnte das passieren?“ Ich fühlte mich genauso. Ich hatte für den Montag auf dem Platz Versammlungen organisiert und benötigte volle sechs Stunden, um mir klarzumachen, dass der Platz geräumt war. Was das Zentrum der Welt zu sein schien, war über Nacht von Revolution in Konterrevolution umgeschlagen, und der Platz des Himmlischen Friedens war nun ein einziges Blutbad der Metzger der 27. Armee. Ich hielt mich eigentlich für einen relativ erfahrenen Marxisten, der schon viel herumgekommen war und viel gesehen hatte! Aber ich kam mir vor wie ein Narr, weil ich wirklich sechs Stunden dafür brauchte. Ich sagte zu den Leuten: „Aber sicher sind die Studierenden noch dort. Ich werde am Montag weitere Gespräche mit ihnen führen.“ Die Leute lachten mich aus und sagten: „Sei nicht dumm. Sie sind tot. Es ist zuende.“
Und wenn schon ich so empfand, kann man sich vorstellen, wie sich die chinesischen ArbeiterInnen und Studierenden fühlten, die ihr Leben, die alles aufs Spiel gesetzt hatten, für das, was die Bewegung auf dem Platz des Himmlischen Friedens darstellte. Sie bedeutete ihnen alles. Und dann wurde sie derart zerschlagen. Aber das zeigt die Notwendigkeit von Ideen. Was ihnen fehlte, war ein klares Programm, basierend auf klaren Perspektiven. Ebenso fehlte eine klare Führung. Dann hätte dies alles nicht geschehen müssen.
Als ich bei den Studierenden auf den Straßen um den Platz des Himmlischen Friedens war, bekam ich ein wenig Tränengas ab. Als die Situation sich zuspitzte, bekam ich Angst. Ich würde lügen, behauptete ich etwas anderes. Jeder, der in den Krieg zieht, zurückkommt und behauptet, es sei großartig gewesen, ist entweder ein Narr oder ein Lügner. Wir hatten alle Angst. Aber an jenem Sonntag morgen war es anders. Wir wurden beschossen und mit Tränengas angegriffen. Wegen der Toten um uns herum und des Zorns, den wir fühlten, waren wir alle, selbst ich, zu allem fähig.
Wenigstens zehn der Menschen, mit denen ich in den vorhergehenden Tagen diskutierte hatte, waren nun tot. Am Abend vorher hatte ich bei der „Lumpen-Jugend“ mit einem Mädchen gesprochen. Sie war 18 Jahre alt, hatte eine runde „John-Lennon“-Brille und ein schwarz-weißes Kleid — ein ziemlich schmächtiges Mädchen. Wir alberten herum und plauderten miteinander. Am nächsten Tag fand ich ihre Leiche.
Ich war der einzige Westler, der sich auf der Straße aufhielt, und hatte meine Kamera dabei. Die Studierenden zogen mich von einer Leiche zur nächsten. „Mach‘ ein Foto hiervon. Was hältst du davon? Kannst du nach Hause fahren und den Leuten erzählen, was hier passiert?“ (Einige der Studierenden gaben mir die Marke dieses Kommandeurs, den sie getötet hatten, und seine Knöpfe. Das mag zwar merkwürdig erscheinen, war es zu der Zeit aber nicht. Einige Tage später, als ich auf dem Weg zum Flughafen war, hielten die Soldaten Wagen an, und ich dachte: ich habe Fotos davon, wie dieser Kerl getötet wird, Fotos von seiner Leiche, seine Abzeichen, einen Tränengaskanister und das Wappen des Platzes des Himmlischen Friedens. Also warf ich alles, außer dem Wappen, auf die Straße.)
Am Tag des Massakers, als ich auf den Straßen herumging, habe ich wohl sechs oder sieben Straßentreffen abgehalten. Jedes Mal sagte ich: „Dieser Tag, der 4. Juni 1989, wird in die Geschichte eingehen. Jeder, der heute gestorben ist, ist ein Märtyrer der Weltrevolution. Man wird sie nie vergessen. Alle ArbeiterInnen und Studierenden auf der ganzen Welt haben eine Lektion gelernt, und die ist sehr einfach. Kein denkender Arbeiter, kein denkender Student irgendwo auf diesem Planeten, wird je wieder irgendwelche Illusionen in die Regierung der sogenannten Kommunistischen Partei haben. Sie kann sich nicht mehr eine revolutionäre Regierung nennen. Eine Regierung, der das Blut der chinesischen ArbeiterInnen und Studierenden an den Händen klebt, ist keine kommunistische Regierung. Von heute an sind die ArbeiterInnen und Studierenden der ganzen Welt mit den chinesischen Menschen.“
Die Reaktion auf diese Rede war absolute Erregung. Einige Leute versuchten, mich auf ihre Schultern zu heben. Da bekam ich wirklich Angst! Kugeln flogen um uns herum. Wenn ich dann gesagt hätte, dass China eine revolutionäre Arbeiterpartei mit den Ideen von Marx, Engels, Lenin und Trotzki braucht, dann wäre ich erledigt gewesen. Alle Illusionen, zumindest in diesen Flügel der Kommunistischen Partei, welcher in der vorhergehenden Nacht diese Entscheidung getroffen hatte, waren für immer verschwunden.
Zerrissene Parteibücher
Die Kommunistische Partei hat 47 Mio. Mitglieder — das sind 5% der Bevölkerung. Viele der Studierenden in der Bewegung waren Mitglieder der Kommunistischen Partei, besonders in der Parteijugend, einige der ArbeiterInnen ebenfalls. Ich sah, wie zwei der ArbeiterInnen ihre Parteibücher am Tag nach dem Massaker zerrissen. Sie sagten: „Wir lassen uns nicht länger mit dieser Regierung identifizieren nach dem, was sie letzte Nacht getan hat.“
Die KPCh ist nicht das gleiche, wie die Regierungspartei in, sagen wir, Osteuropa oder der Sowjetunion. Es gab in der KPCh immer noch viele Leute, die sie, zumindest vor dem Massaker noch für eine revolutionäre Organisation hielten, die die Gesellschaft vorwärtsbringt. Die Bürokratie in China ist wirtschaftlich gesehen erst eine relative Fessel für die Produktion. Es gab noch nicht den extremen Hass gegen die Bürokratie wie in Osteuropa. Als Mitglied der Kommunistischen Partei war man nicht unbedingt gleich Bürokrat oder ein Streikbrecher. Aber heute ist die Situation anders. Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendein Student oder Arbeiter mit Kenntnissen über die Geschehnisse der letzten Wochen jetzt noch mit revolutionären Illusionen der Kommunistischen Partei beitritt.
Das Entstehen dieser Bewegung bedeutete die „Entleerung“ der Kommunistischen Partei. Ihre Zellen befinden sich in den Fabriken und in allen Wohngebieten, und nach außen hin verurteilten diese Zellen die Bewegung, wie die Regierung es vorschrieb. Aber als die Basismitglieder der Partei sich der Bewegung zuwendeten, konnte die Partei auf örtlicher Ebene nicht mehr funktionieren. In diesem Sinne war es wie der Zusammenbruch der kommunistischen Partei Polens nach der Entstehung von Solidarnosc 1980/81. Es wird sehr schwierig sein, die Partei an der Basis in gleicher Weise wieder aufzubauen. Es wird eine „Kommunistische Partei“ der Streikbrecher und Spione sein.
Man kann natürlich nicht sagen, dass sämtliche Illusionen in die KP jetzt für immer zusammengebrochen sind. Wenn ein Reformer wie Zhao in der nächsten Phase die Macht übernähme, könnte er durchaus seine Schonfrist haben. Aber wer auch immer mit diesem Massaker identifiziert wird — in ihn wird es absolut keine Illusionen mehr geben, ganz egal welcher Art. Nichts wird mehr so sein wie vor dem 4. Juni. Es ist ein großer Wendepunkt in der chinesischen Revolution. Es war eine Erfahrung für China wie 1905 für Russland.
Für eine Weile gingen die Straßenkämpfe weiter. Die Stadt war ein Schlachtfeld. Überall sah man ausgebrannte Lastwagen, ausgebrannte Panzer, Leichen, Blut. Mit Blut an die Wände geschrieben sah man die Parole „Generalstreik“.
Die Menschen hatten unglaublichen Mut. Sie standen auf den Strassen, Kugeln und Tränengas um sie herum, und hatten immer noch das Verlangen nach Gesprächen und Theorie. Sie wollten wissen, was ich denke. Jeder, der behauptet, „Theorie sei nur etwas für Intellektuelle‘, hätte jetzt eingesehen, dass das absoluter Blödsinn ist. Besonders in Zeiten der Revolution wollen die Menschen Theorie.
Aber die Konterrevolution gewann immer mehr die Oberhand. Im Laufe der Zeit wurde es immer riskanter für die ArbeiterInnen, Studierenden und auch für mich. Es ist eine ziemlich bedrückende Geschichte von Morden und immer einseitigeren Kämpfen. Darauf gehe ich nicht weiter ein.
Die Konsequenz, die man daraus ziehen muss, ist die Notwendigkeit, die Arbeiterbewegung auf marxistischen Ideen aufzubauen, bevor es zu derartigen großen Explosionen kommt. Theorie ist die stärkste Waffe der Revolution. Sie muss an erster Stelle stehen. Die Frage der Bewaffnung, der Taktik, der Strategie und der Organisation ist der Theorie untergeordnet. Gewehre und Pistolen sind natürlich die tödlichsten Waffen im Arsenal der Arbeiterklasse. Sie aber können nicht wirkungsvoll genutzt werden, wenn man nicht die richtigen Ideen und keine politische Führung hat.
Einige kapitalistische Reporter meinten, es werde eine Konfrontation zwischen verschiedenen Teilen der Armee geben – die 38. Armee (aus der Gegend von Peking) gegen die 27. Armee. Ich denke, das war ziemlich übertrieben. Es stimmt, dass die 38. Armee vermutlich mit Zhao zu identifizieren war, mit dem Reform-Flügel der Bürokratie. Als die Bewegung zerschlagen wurde, begannen verschiedene Teile der Bevölkerung ebenfalls auf „Befreier“ zu hoffen: Sie hofften, die 38. Armee werde kommen und die Stadt „befreien“.
Die 38. Armee stand im Süden der Stadt und beim Flughafen im Osten. Aber ich glaube, das war nur für den Fall, dass sich die ArbeiterInnen erfolgreicher gegen die 27. Armee zur Wehr gesetzt hätten, und falls es in Schanghai, der größten Stadt Chinas, zur Explosion gekommen wäre, was einen schlimmeren Kampf entfacht hätte. Dann, glaube ich, wäre die 38. Armee in Peking eingerückt, von den Massen als „Befreier“ verstanden, in Wirklichkeit jedoch als Ersatz für die 27. Armee, um die Ordnung wieder herzustellen und das bürokratische System aufrechtzuerhalten. Unter diesen Umständen hätte man Li Peng und Deng als Sündenböcke ablösen müssen.
Aber nachdem die 27. Armee die Bewegung erfolgreich zerschlagen hatte, warum sollte die 38. Armee dann überhaupt noch einrücken? Ihre Kommandeure sind genauso ein Teil der Bürokratie und sind genauso an Unterdrückungen in Tibet und anderen Gegenden beteiligt. Sie haben bloß ihre Muskeln spielen lassen, um zur 27. Armee zu sagen, „O.K., ihr habt die Arbeit erledigt, aber glaubt jetzt nicht, ihr seid der dominierende Teil der Bürokratie. Es gibt da immer noch andere Tendenzen, und wir warten nur auf den richtigen Moment. Wenn wir gegen euch gekämpft hätten, hätten wir das Volk hinter uns gehabt, und ihr wäret gelyncht worden.“
Nun hat Deng es geschafft, die Situation zu stabilisieren. Er wird alles Notwendige tun, um diese Bewegung auszulöschen und die bürokratische Ordnung zu erhalten. Es wird noch viele Verhaftungen und Tötungen geben. Es ist sehr schwierig für die Studierenden, sich jetzt im Untergrund zu halten, da sie so leicht zu identifizieren sind. Die Bürokratie zeigt Fotos der Studierenden im Fernsehen und kann sie dann nach wenigen Tagen verhaften. Sogar innerhalb des Proletariats scheint es Leute zu geben, die zur besten Zeit der Bewegung gedacht haben mögen, sie könnte gewinnen, also kann ich sie eigentlich unterstützen, oder wenigstens neutral dazu standen und jetzt dem Regime wieder loyal ergeben sind und die Menschen um sie herum denunzieren. Während 99% der Gesellschaft die Bewegung auf ihrem Höhepunkt unterstützt hätten, sieht die Sache jetzt anders aus. Die Regierung ist nicht völlig isoliert.
Wenn es nötig ist, wird sich der „Bambusvorhang“ wieder öffnen. Deng soll gesagt haben: „Welchen Sinn haben ausländische Investitionen, wenn wir alle an Laternenpfählen aufgehängt werden.“, obwohl sie sich natürlich nicht unbedingt selbst von ausländischen Investitionen usw. abhängen wollen, falls sie es nicht müssen. Vielleicht müssen sie zu strenger Zentralisierung der Wirtschaft zurückkehren. Gleichzeitig mit der Unterdrückung könnten sie versuchen, den ArbeiterInnen und Bauern einige wirtschaftliche Zugeständnisse zu machen.
Schließlich werden vielleicht einige als Sündenböcke herhalten müssen. Li Peng ist selbst innerhalb der Bürokratie ziemlich unbeliebt. Es geht das Gerücht um, er sei an jenem Sonntag, nach dem Massaker, von einer seiner eigenen Wachen zweimal ins Bein geschossen worden. Es ist unmöglich, dass selbst eine erfolgreiche Konterrevolution eine Milliarde Menschen mit Hilfe der meistgehassten Person des Landes auf Dauer regiert. Es liegt nicht im Interesse der Bürokratie, ihn kurzfristig loszuwerden, aber irgendwann, denke ich, werden sie ihn „hinausbefördern“.
Ich bin sicher, dass alle aktiven ArbeiterInnen und Studierenden weltweit mit Leib und Seele bei jenen in China ist, welche in den letzten Wochen das höchste Opfer gebracht haben. Die größte Missachtung, die wir diesen Märtyrern der Weltrevolution jemals entgegenbringen könnten, wäre, sie umsonst sterben zu lassen — sie sterben zu lassen, ohne Lehren für die nächste Schlacht daraus zu ziehen.
Wenn Deng meint, mit Hilfe der 27. Armee — der meistgehassten Gruppe von Soldaten, die es wahrscheinlich momentan auf der Welt gibt — ein Viertel der Weltbevölkerung, eine Milliarde Menschen unterdrücken zu können, macht er damit den größten Fehler seines Lebens. Es steht außer Frage, dass diese Bewegung sich wieder erheben wird. Es mag eine Weile dauern, aber sie wird sich wieder erheben.
Die Aufgabe der MarxistInnen überall ist die, sicherzustellen, dass Konsequenzen hieraus gezogen werden und dass, wenn das nächste Mal ein solcher Kampf ausbricht, die Ideen des Marxismus präsent sind, um diese Bewegung im bevölkerungsreichsten Land der Welt auszurüsten. Erst dann können wir sagen, dass diese GenossInnen nicht umsonst gestorben sind, und dass 1989 wirklich der erste Schritt, wie 1905, zu einer erfolgreichen politischen Revolution in China in den nächsten Jahren gewesen ist.
Juni 1989
Ein Programm für die Arbeiterdemokratie
1917 legte Lenin, der Führer der Russischen Revolution die grundlegenden Bedingungen für den Beginn einer Arbeiterdemokratie dar, welche, wie er sagte, die Basis für die Umwandlung der Gesellschaft zum Sozialismus sind:
- Jederzeitige Wähl- und Abwählbarkeit aller Funktionäre
- Kein Funktionär darf mehr als einen durchschnittlichen Facharbeiterlohn verdienen,
- Zug um Zug Einarbeitung aller in verwaltende und leitende Funktionen von Wirtschaft und Staat, also Rotation der Ämter;
- Auflösung des stehenden Heeres und Kontrolle der Bewaffnung durch die gewählten Organe der Arbeiterklasse.
Keine dieser Bedingungen existiert in China, der UdSSR oder anderen stalinistischen Staaten. Sie bleiben die Hauptziele der politischen Revolution, für den Sturz der Bürokratie und die Gründung einer Arbeiterdemokratie in diesen Ländern.
Die heutigen MarxistInnen fordern außerdem:
- Kein Ein-Parteien-System, sondern volle demokratische Freiheit für alle Personen und Parteien;
- Gründung von unabhängigen Gewerkschaften;
- Gewählte ArbeiterInnen-, Studierenden-, BäuerInnen- und Soldatenräte für die Übernahme der Kontrolle über die Produktion und jeden Teil des Staates
Anhang: Chronologie der Ereignisse 1919-1989
4. Mai 1919: Demonstration von 3.000 Studierenden auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking gegen die Bedingungen des Versailler Vertrages und für „Demokratie und Wissenschaft“.
1921: Gründung der Kommunistischen Partei Chinas durch die Jugend der „Bewegung des 4. Mai“, die, inspiriert vorn Beispiel der Russischen Revolution, begannen, in China eine Arbeiterbewegung als einzige Grundlage für eine nationale Befreiung aufzubauen.
1925-27: Die revolutionäre Bewegung der chinesischen Arbeiterklasse, die Kommunistische Partei Chinas (KPCh), unter dem Einfluss der stalinistischen Politik der Kommunistischen Internationale, gab die Führung an die „nationaldemokratische“ Kuomintang-Bewegung unter Tschiang Kai-schek ab, die fortfuhr, ihre kommunistischen „Verbündeten“ zu ermorden und die Arbeiterbewegung zu zerschlagen. Nach der Zerstörung der Arbeiterbewegung begann die KPCh Guerillakämpfe auf dem Land.
1944-49: Die KPCh unter Mao Tse-tung kam an der Spitze einer Guerillaarmee an die Macht. Obwohl „100 Jahren Kapitalismus“ verschrieben, war sie gezwungen, Verstaatlichungen der Produktion durchzuführen, da dies die einzige Grundlage war, auf welcher nationale Unabhängigkeit zu erhalten war. Aber ohne die bewusste aktive Teilnahme der Arbeiterklasse lag die Macht von Anfang an in den Händen einer bürokratischen stalinistischen Diktatur.
1958—60: „Der große Sprung nach vorne“. Versuche, durch extreme Zentralisierung eine Industrie in China aufzubauen. Sie scheiterten und führten zur Entmachtung Maos durch Reformbürokraten wie Deng Xiaoping und Liu Schao-tschi.
1966-76: „Kulturrevolution“. Jugendbewegung von Mao in „Roten Garden“ mobilisiert, um die Reformer, die „dem Kapitalismus folgen“, aus der Bürokratie zu entfernen, und um eine Strategie strikter Zentralisierung, Autarkie und Kollektivierung der Landwirtschaft zu fördern. Die Bewegung der Roten Garden musste schließlich von der Armee niedergeworfen werden.
1976: Maos Tod verstärkt die Position des Reform-Flügels, geführt von Tschu En-lai, Hua Guofeng und Deng Xiaoping. „Die Viererbande“, unter der Führung von Maos Witwe Tschiang Tsching wird für Ausschreitungen in der Kulturrevolution vor Gericht gestellt.
1978: „Wandzeitungen“. Massenbewegung der Jugend, besonders der Studierenden, ursprünglich von Deng initiiert, gegen den „linken Flügel“ der Bürokratie und für Demokratie. Die Bewegung geriet jedoch außer Kontrolle und bedrohte die gesamte Bürokratie. Also wurde sie von Deng niedergedrückt, 200 Jugendliche inhaftiert.
Dezember 1986-Januar 1987: Neue Studierendenbewegung. Hu Yaobang, Generalsekretär der KPCh, wird von Deng gezwungen zurückzutreten, als Sündenbock für die Verlangsamung der Wirtschaft, als die dezentralisierenden Reformen nicht mehr vorankamen.
November 1987: 13. Parteitag der KPCh. Deng tritt in „Halbruhestand“ und ernennt den Reformer Zhao Ziang zum Generalsekretär. Der Parteitag erweitert das „Reformprogramm“, kennzeichnet aber auch den Beginn eines Wiederzusammenschlusses von „konservativen“, zentralistischen Bürokraten unter Li Peng.
Juni 1988: Mord an einem Studierenden in der Pekinger Universität löst Studierendenproteste aus, die steigende Unzufriedenheit widerspiegeln, besonders in städtischen Gegenden, wo die Reformpolitik zu Inflationsraten von offiziell 21% (inoffiziell 31%) geführt hat.
Januar 1989: Studierendenunruhen gegen afrikanische Studierenden.
15. April: Hu Yaobang stirbt, angeblich während einer feurigen Debatte im Politbüro. Position des „konservativen“ Flügels der Bürokratie gegen Zhao Ziang wird gestärkt.
17. April: 100.000 Studierende demonstrieren auf dem Platz des Himmlischen Friedens zum Andenken an Hu, und um die Demokratie zu unterstützen.
21. April: Studierende demonstrieren erneut und behalten die Nacht über die Kontrolle über den Platz des Himmlischen Friedens.
22. April: Demonstrationen auf dem Platz gehen weiter während Hus Beisetzung in der großen Halle des Volkes.
24. April: Studierenden beginnen Streik in den Klassenräumen.
27. April: 50.000 Studierende marschieren zum Platz des Himmlischen Friedens, der Obrigkeit zum Trotz, und ziehen 1 Mio. Sympathisanten an.
2. Mai: Fahrraddemonstration der Studierendenführer zu Regierungs- und Politbüros in ganz Peking. Sie fordern Verhandlungen mit der Obrigkeit.
4. Mai: Studierendenmarsch zum Platz des Himmlischen Friedens, die Menge auf dem Platz wächst auf 100.000 Menschen an. In zehn anderen Städten ebenfalls Studierendendemonstrationen.
13. Mai: 1.000 Studierende beginnen einen Hungerstreik, um die Forderungen nach einer im Fernsehen übertragenen Debatte zwischen Studierenden und Regierung und anderen demokratischen Reformen zu unterstützen. Später kommen weitere 2.000 Studierenden hinzu.
15. Mai: Gorbatschow kommt nach Peking. Jetzt ständige Besetzung des Platzes.
16. Mai: Gorbatschow trifft Deng an der großen Halle, während draußen auf dem Platz die Demonstration mit mittlerweile 250.000 Menschen weitergeht. Proteste in Schanghai und fünf anderen Provinzhauptstädten.
17. Mai: 1 Million Menschen demonstrieren in Peking. Proteste in sieben anderen Städten
19. Mai: Truppen beginnen in Peking einzurücken. Dreieinhalbstündige Debatte zwischen Studierenden und Regierung in Schanghai im Fernsehen übertragen.
20. Mai: Das Kriegsrecht wird erklärt. Nur Zhao widerspricht der Entscheidung des Politbüros. Massenmobilisierung der Studierenden und ArbeiterInnen. Bau von Blockaden. Die Soldaten werden daran gehindert, auf dem Platz einzumarschieren, der Hungerstreik wird beendet, aber die Besetzung des Platzes geht weiter. Demonstrationen in zwanzig Städten.
21. Mai: Demonstrationen gehen weiter. Militärkommandeure in Peking kritisieren die Erklärung des Kriegsrechts. 1 Million Menschen demonstrieren in Hongkong. Weitverbreitete Gerüchte über Li Pengs Rücktritt, die sich später als falsch herausstellen.
24. Mai: Der „reformistische“ Vorsitzende der Nationalen Volksversammlung Wan Li beendet einen Besuch in den USA vorzeitig, um zu versuchen, gemäßigte Kräfte zusammenzubringen. Li Peng erhält Unterstützung der Militärführung.
25. Mai: Demonstrationen werden allmählich kleiner.
28. Mai: Bewegung in China nimmt ab. Verstärkung der Position des konservativen Flügels der Bürokratie geht weiter. Größte Demonstration überhaupt in Hongkong und Demonstration in der portugiesischen Kolonie Macao.
4. Juni: Truppen räumen den Platz des Himmlischen Friedens, töten und verwunden Tausende. Eine Woche der Massenproteste, Demonstrationen und Streiks in China folgt.