Arbeitende Bevölkerung fürchtet umfassenden Krieg
Vor sechs Monaten weigerte sich die frühere Regierung der Ukraine unter der Führung von Viktor Janukowitsch, eine Assoziierungsvereinbarung mit der EU zu unterschreiben. Das löste die „Euromaidan“-Proteste aus. Jetzt ist das Land nahe am Auseinanderbrechen und einem tiefen Abgleiten in einen Krieg. Hunderte wurden schon bei militärischen Zusammenstößen in der Ost- und Südukraine getötet. Erklärungen durch den neu ins Amt eingeführten Präsidenten, dem Milliardär Petr Poroschenko, dass die Kämpfe binnen einer Woche enden sollten, stoßen in ostukrainischen Städten wie Slawjansk, Mariupol und Donetsk auf Unglauben und Empörung, wo die tödlichen Zusammenstöße weitergehen.
von Rob Jones, Moskau, 13.6.2014
Poroschenkos Wahl wurde von den EU- und US-Regierungen befürwortet, die ihn als den zuverlässigsten der westlich-orientierten Oligarchen sehen. Diese westlichen „Demokratien“ sorgen sich nicht über die Einbeziehung bösartiger anti-russischer Nationalisten, rechtsextremer Politiker und Neofaschisten in das Kiewer Regime, einschließlich dem Justizministerium und Schlüsselposten in den Streitkräften.
Poroschenko verspricht, das Assoziierungsabkommen zu unterschreiben, und sagte, die Ukraine solle der EU als Vollmitglied beitreten. Euromaidan war im Kern ein Ausbruch der Unzufriedenheit von Millionen von UkrainerInnen über die Folgen der Wirtschaftskrise, wachsende Korruption, gegen die verhassten Oligarchen und Schritte hin zu einem autoritären Regime unter Janukowitsch. Viele, die die Proteste unterstützten, sahen den Beitritt zum europäischen Block als leichten Weg zum Wohlstand. Aber sie werden desillusioniert werden, wenn sie sehen, dass die EU keine Pläne hat, das Land als Mitglied aufzunehmen, und wenn sie beginnen, die Wirkungen der drastischen Haushaltskürzungen zu spüren, die von der EU und dem IWF als Bedingung für Wirtschaftshilfe gefordert werden.
Die Maidanproteste entfachten einen brutalen Kampf zwischen verschiedenen Teilen der ukrainischen herrschenden Elite. Jede Seite stützt sich auf reaktionäre Kräfte wie den neofaschistischen „Rechten Sektor“ und die verschiedenen prorussischen rechten Kräfte, um den Reichtum des Landes zu kontrollieren. Sie werden dabei von den kapitalistischen Mächten unterstützt, die ihren politischen und militärischen Einfluss in Osteuropa vergrößern möchten.
Die Krise hat die Spannungen zwischen den westlichen imperialistischen Mächten beträchtlich vergrößert. Die USA fordern härtere Sanktionen gegen Russland, während sich Deutschland – dessen Wirtschaft besonders im Energiesektor stark vom Handel mit Russland abhängt – sich sorgt, dass Sanktionen auch die EU-Wirtschaft schädigen würden. Die EU möchte verhindern, dass die Instabilität in der Ukraine außer Kontrolle gerät, aus Angst, dass das ganz Europa schädigen würde. Gleichzeitig versuchte das Putin-Regime, die westlichen Ambitionen in der Ukraine aufzuhalten, und schmiedete durch das Unterzeichnen des Gasabkommens und anderer Investitionsprojekte mit China stärkere Beziehungen mit Peking.
„Die Krim wird immer ukrainisch sein”
In seiner Amtseinführungsrede demonstrierte Poroschenko, indem er ein schnelles und entschlossenes Ende der „anti-terroristischen Aktion” forderte und dann erklärte, dass die „Krim immer ukrainisch sein wird”, dass es kein leichtes (schnelles) Ende der Krise geben wird. Anti-Kiew-Rebellen halten weiterhin strategische Schlüsselstellungen in weiten Teilen der Regionen Donetsk und Lugansk, und die Ereignisse der letzten zwei Monate haben die Stimmung der Bevölkerung gegen die Kiewer Regierung verstärkt. Das Kiewer Regime befahl einen brutalen militärischen Angriff gegen den Osten und Süden des Landes, unter Einsatz von Luftangriffen und der Nationalgarde. Faschistische Banden werden gegen Anti-Kiew-Protestierende und arbeitende Menschen eingesetzt. Viele Anti-Kiew-DemonstrantInnen und ZivilistInnen wurden im Mai in Odessa getötet, als das Gebäude, in dem sie Schutz suchten, von einem pro-Kiewer Mob, einschließlich Schlägern des Rechten Sektors, angezündet und belagert wurde.
Putin hat, indem er praktisch die Legitimität von Poroschenkos Wahl akzeptiert hat und an von der EU vermittelten Gesprächen zu den russischen Gaslieferungen an die Ukraine teilgenommen hat, den zynischen Charakter von Russlands kapitalistischer Politik gezeigt. Nach Monaten von Propaganda über das „faschistische Regime” in Kiew und die Notwendigkeit des Schutzes von russischsprachigen Menschen, zeigt die Putin-Regierung jetzt, dass diese Rechte nichts wert sind im Vergleich zu seinen wirtschaftlichen Hauptinteressen wie den Gaseinnahmen. Die Realität ist, dass die russische herrschende Elite versteht, dass nach der Einverleibung der Krim in die russische Föderation die finanziellen, sozialen und politischen Kosten für die Übernahme anderer Regionen zu hoch wären. Die Produktivität der Donbass-Kohlefelder, die nach Berichten zehnmal niedriger als in Russland ist, auf Standardniveau zu bringen, erfordert große Investitionen und umfangreiche Zechenschließungen. Damit würde man eine riesige soziale Explosion einer Arbeiterklasse mit einer Kampftradition riskieren. Der Kreml würde es vorziehen, Donetsk und Lugansk in der Ukraine zu lassen, vielleicht als nicht anerkannte Republiken, die sich als Druckmittel gegen die Kiewer Regierung verwenden lassen.
Es wird schon erwartet, dass die Vereinigung der Krim mit Russland mehr kostet als die Olympischen Winterspiele in Sotschi. Russland wird zwar keine Pacht mehr an die Ukraine für die Nutzung des Schwarzmeer-Flottenstützpunkts in Sewastopol zahlen, aber es wird für die Pensionen und Löhne von Staatsbeschäftigten aufkommen müssen und für die Überwindung größerer Infrastrukturprobleme zahlen müssen. Elektrizität und Wasser kommen gegenwärtig vom ukrainischen Festland. Weil es nur einen Straßenzugang durch die Ukraine gibt, wird ein Plan zum Bau einer Brücke zum russischen Festland diskutiert. Die Kosten steigen, zugleich werden Verhandlungen mit den Chinesen zur Durchführung des Projekts geführt. Aber die Krim-Wirtschaft kann nicht auf den Bau der Brücke warten. Die Reisernte ging durch den Mangel an Wasser verloren und die Tourismuswirtschaft bricht zusammen, weil der Zufluss der TouristInnen aufgehört hat. Zusätzlich ist die tatarische Bevölkerung der Halbinsel zunehmend besorgt über den neuen „Polizeistaat“, der die russische Annexion begleitet hat. Tausende sind von der Krim geflohen und beschweren sich über Schikanen und Gewalt.
Die Spannungen konzentrieren sich jetzt in der Donetsk-Region und, in geringerem Maße, in der Lugansk-Region. Bewaffnete Gruppen mit verschiedenen Loyalitäten kämpfen um die Kontrolle von Verwaltungsgebäuden, Flughäfen und anderen strategisch Orten. Die ukrainische Regierung setzt Militärhubschrauber und bewaffnete Truppentransporter gegen die Städte ein, während die Rebellen mächtige Waffen zum Abschuss von Flugzeugen haben. Die Bevölkerung kann nur voll Entsetzen zuschauen. Die Stadt Slawjansk wird von der ukrainischen Nationalgarde belagert, die regelmäßig Raketensalven in das Stadtzentrum abschießt. Die EinwohnerInnen, die nicht fliehen konnten, müssen sich in Kellern verbergen.
„Volksrepublik Donetsk”
Die selbsterklärte „Volksrepublik Donetsk (VRD)“ unter der Führung einer Kombination von pro-russischen Rechtsextremisten, Antisemiten, Ex-Militärs und früheren Angehörigen von Polizei-Sondereinheiten, hat Streitkräfte unter dem Kommando eines „Oberbefehlshabers“, Igor Girkin (der „Bogenschütze“), der nach eigenen Angaben „früher“ russischer Geheimagent war. Angeblich war die Miliz an Plünderungen, Schikanen gegen die Bevölkerung und Pogromen gegen die Roma-Community unter dem Deckmantel einer „Anti-Drogen-Kampagne“ beteiligt.
Ende Mai griffen bewaffnete Aktivisten des „Wostok-Bataillons“ die Zentrale der VRD an, nahmen eine Reihe von Kämpfern unter dem Vorwurf der Plünderung und Schikanen fest. Das wurde als Staatsstreich bezeichnet. VRD-Führer erklärten zwar später, dass sie dem Angriff zustimmten. Es scheint aber, dass Wostok eingriff, um eine diszipliniertere Führung direkter unter russischer Kontrolle zu bilden. Wostok hat seine Wurzeln in einer paramilitärischen Einheit, die zuerst von pro-russischen Söldnern während des Tschetschenienkrieges gebildet und später in die russische Armee integriert wurde. Sie wurde dann aktiv in Südossetien eingesetzt. Als Reaktion errichtete die Kiewer Regierung ihr eigenes „Donbass”-Bataillon aus ukrainisch- und russisch-sprachigen OstukrainerInnen in der Nationalgarde.
Während Präsident Poroschenko, der die pro-europäischen Oligarchen vertritt, die Streitkräfte des Landes gegen den Osten schickt, vertreten andere Oligarchen ihre Positionen im Osten. Unter ihnen ist Rinat Akmetow, der Eigentümer von großen Teilen der ukrainischen Kohle- und Stahlindustrie, der eine entscheidende Rolle bei Janukowitschs Aufstieg an die Macht spielte, bevor er sich nach dem brutalen Angriff der Berkut-Polizeisondereinheiten auf die Maidan-Protestierenden gegen ihn wandte. Laut dem selbsternannten „Gouverneur“ der VRD, Pawel Gubarew, finanzierte er die pro-russischen Separatisten, bevor er sich im Mai gegen sie wandte. Entweder erkannte er, dass Chaos und die Drohung von offenem Krieg seinen Unternehmensinteressen großen Schaden zufügen würde, oder er handelte in Übereinstimmung mit den Kremlinteressen, die Rebellenregionen unter direktere Kontrolle zu bringen. Akmetow wies ArbeiterInnen und Personal von seinem Werk in Mariupol unter der Leitung eines Chefingenieurs an, in der Stadt zu patroullieren, um Barrikaden zu entfernen und „Ordnung zu schaffen“.
Während die Mächte sich um die Ukraine streiten, die Oligarchen manövrieren, um ihre Unternehmensinteressen zu verteidigen, und die Kriegsherren weiterhin Krieg im Interesse ihrer Zahlherren führen, können die arbeitenden Menschen in der Ukraine nur fürchten, dass ein richtiger Krieg ausbrechen wird.
Viele in den Ostregionen, die sich für die Unterstützung der „Föderalisierung“ entschieden – anfänglich als Reaktion auf die von der neuen Nach-Janukowitsch-Regierung vorgeschlagenen Angriffe auf die russischen Sprachrechte und die gewaltsamen Aktivitäten des rechtsextremen Rechten Sektors – wurden in ihren Ängsten bestätigt durch die Weise, in der Kiew die neu gebildete Nationalgarde bei einem brutalen Versuch zur Wiederherstellung der Kontrolle in ihren Regionen verwendet hat. Für viele bedeutet Föderalisierung die Beibehaltung einer vereinigten Ukraine, aber auch den Schutz der Menschen im Osten und Süden vor den Aktionen der Zentralregierung. Andere, besonders die pro-russischen AktivistInnen, interpretieren Föderalisierung als Abspaltung und Vereinigung mit Russland.
Diejenigen, die an den in Donetsk und Lugansk am 11. Mai abgehaltenen „Referenda“ teilgenommen haben, waren hauptsächlich ältere Menschen, die Illusionen haben, dass sich durch einen Beitritt zu Russland ihr Lebensstandard verbessern würde und aus deren Sicht das gegenwärtige Putinregime in irgendeiner Weise eine Fortsetzung der früheren Sowjetunion ist. Viele Jugendliche, die sich selbst als Teil der Ukraine betrachten, ignorierten die Abstimmung, ebenso wie ein beträchtlicher Teil der Bergarbeiter, die erstehen, welches Schicksal die Donetsk-Bergwerke erleiden würden, wenn die Region Russland beitreten würde.
Proteste
Auch wenn die Arbeiterklasse, besonders die Bergarbeiter, während der Krise noch nicht auf entschlossene, organisierte, unabhängige Weise gehandelt hat, gab es bedeutende Proteste. Neben Streiks von Bergarbeitern in der Lugansk-Region um Lohnfragen haben sporadische Proteste gegen die Aktionen der Nationalgarde und auch manchmal gegen die der Separatisten stattgefunden. Bezeichnend war, dass Bergarbeiter in der Region Lwow in der Westukraine wegen der Nichtzahlung von Löhnen gestreikt haben. Als TransportarbeiterInnen auf der Krim wegen verspäteter Lohnzahlungen streikten, tauchten unbekannte Männer in Armeeuniformen auf, um sie zurück an die Arbeit zu bringen. Anfang Juni streikten Tausend ArbeiterInnen im „Titan“-Werk auf der Krim, weil ihr Monatslohn in Rubel umgerechnet nur 3.600 Rubel (75 Euro) wert war.
Es gab auch Proteste von Angehörigen von Mitgliedern der Nationalgarde und der Polizei in der Westukraine, gegen deren Entsendung in den Süden und Osten. In Berdansk, blockierten Angehörige von PolizistInnen, die nach Lugansk geschickt werden sollten, so lange das Tor der Kaserne, bis die, die das wollten, einen Bus verließen und den Polizeidienst quittierten.
Es gibt eindeutig die Grundlage, um einen vereinigten Kampf von ArbeiterInnen quer durch die Ukraine gegen das Abgleiten in einen umfassenden Krieg zu beginnen, und auch zu Löhnen und Arbeitsbedingungen, besonders angesichts des erwarteten Rückgangs der Wirtschaftsleistung um fünf Prozent in diesem Jahr. Die organisierte Arbeiterklasse hat auch die Verantwortung, ein tieferes Absinken des Landes in einen militärischen Konflikt zu verhindern. Zahnlose Appelle an die Kiewer Regierung, ihre anti-terroristische Operation zu beenden, an die separatistischen Regierungen, Friedensabkommen zu unterschreiben, oder an die auswärtigen Mächte, ihre Intervention im Land einzustellen, haben weniger Erfolgsaussicht als Appelle an einen Tiger, zum Vegetarier zu werden. Selbst wenn schließlich irgend eine Art „Abkommen“ zwischen Kiew und Moskau unterschrieben würde, würde es die zugrundeliegende Krise nicht lösen, sondern wäre ein Abkommen zwischen verschiedenen oligarchischen Räuberbanden.
Für einen vereinigten Arbeiterkampf
Nur ein vereinigter Kampf der Arbeiterklasse, um dem reaktionären Nationalismus und den Kriegsherren entgegenzutreten, um Angriffe auf den Lebensstandard zu verhindern, um nationale Minderheiten zu schützen und um für volle demokratische Rechte für arbeitende Menschen zu kämpfen, kann die verschiedenen Seiten zwingen, militärische Angriffe zu stoppen.
Arbeitende Menschen in allen Teilen der Ukraine haben das Recht, sich gegen physische Angriffe von rechtsextremen Schlägern und Ultranationalisten, egal von welcher Seite, und gegen Staatsbrutalität zu verteidigen. ArbeiterInnen und Jugendliche im Osten und Süden stehen einer tödlichen Bedrohung durch von Kiew unterstützen Milizen, einschließlich faschistischer Elemente, gegenüber. Notwendig sind unabhängige multhiethnische Arbeiter-Verteidigungskräfte, die demokratisch kontrolliert und koordiniert sind, um gegen die rechtsextreme Bedrohung und Angriffe der staatlichen Streitkräfte Widerstand zu leisten. Indem das mit dem Aufruf zum Klassenkampf gegen alle Oligarchen und die Einmischung auswärtigen kapitalistischer Mächte verbunden wird, kann eine mächtige Alternative der Arbeiterklasse aufgebaut werden.
Dies würde die Grundlage schaffen für die Schaffung einer Arbeitermassenpartei, die den Kampf zum Sturz jener Regierungen anführen könnte, die mit dem Kapitalismus verbunden sind und zynisch Nationalismus und den militärischen Konflikt zur Verteidigung ihrer Macht und ihres Reichtums nutzen. Eine Arbeitermassenpartei würde dafür kämpfen, sie durch eine Regierung zu ersetzen, die die Interessen der arbeitenden Menschen vertritt, die den Reichtum und die natürlichen Ressourcen des Landes in kollektives Eigentum unter demokratischer Kontrolle und Verwaltung und in einer geplanten Wirtschaft überführt – die den morschen Kapitalismus durch eine neue sozialistische Gesellschaft ersetzt. Nur unter solchen Bedingungen könnten wirkliche demokratische Rechte voll verwirklicht werden und andauern. Und alle Menschen der Ukraine könnten ihre eigene Zukunft bestimmen, einschließlich des Rechts auf regionale Autonomie, als Teil einer sozialistischen Ukraine und einer breiteren sozialistischen Föderation auf einer freiwilligen und gleichberechtigten Basis.
Rob Jones ist Mitglied des internationalen Vorstands der Komitees für eine Arbeiterinternationale. Der Artikel erschien in englischer Sprache am 13. Juni 2014 auf www.socialistworld.net. Die Übersetzung besorgte Wolfram Klein.