Zerfällt die Ukraine?

Foto: https://www.flickr.com/photos/87913776@N00/ CC BY 2.0
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Aufbau von Antikriegskomitees und Arbeiterorganisationen vorantreiben

Die Wahlen am 25. Mai fanden in einem Land statt, das von wirtschaftlichen und sozialen Widersprüchen zerrissen ist. Bewaffnete Nationalisten und separatistische Milizen stehen sich mit dem Finger am Abzug gegenüber. Ukrainische Oligarchen verfügen – genau wie afghanische Warlords – über eigene Privatarmeen. Washington, Brüssel und Moskau lechzen nach Einfluss. Das Land schlittert immer stärker in Richtung Chaos und ethnische Spaltung.

von Dima Yansky, Aachen

Die Kräfte, die in Kiew jetzt am Ruder sind, haben wenig mit den ursprünglichen Anliegen der Maidan-Bewegung zu tun. Auf der Tagesordnung der neuen, von Oligarchen gestützten Regierung stehen neoliberale Reformen, militärische Aktionen, politische Verfolgung und Parteiverbote.

In der verzerrten Welt der bürgerlichen Medien hierzulande ist alles ganz einfach. Es gibt eine klare Trennung in Gut und Böse: Die Guten wollen die Ukraine für Demokratie, Freiheit und Eingliederung in die Europäische Union (EU) gewinnen, die Bösen wollen „Back in the USSR“, in die Arme des Präsidenten mit den Eisaugen, Herrn Wladimir Putin.

Ziele der NATO-Staaten

Dabei bleibt die NATO sich treu – besteht ihre Funktion doch in der Durchsetzung gemeinsamer ökonomischer und geostrategischer Interessen der US-amerikanischen und europäischen Eliten. Mit ihrem Vorgehen (nicht zuletzt der NATO-Osterweiterung) hat sie maßgeblich zur heutigen Krise beigetragen. Und die Bundesregierung, die im Europa-Wahlkampf gerade wieder wolkig von „Frieden“ und „Demokratie“ schwafelte, stellt sich in der Ukraine ganz offen hinter die neue Kiewer Regierung, in der sich Faschisten tummeln und die Waffen auf die eigene Bevölkerung richtet.

Noch vor einem Jahr stellte EU-Kommissionschef José Manuel Barroso dem damaligen Präsidenten Viktor Janukowitsch ein Ultimatum, in dem er ihm faktisch untersagte, der Eurasischen Zollunion beizutreten. Jetzt laufen mit den neuen Machthabern Verhandlungen über die Stationierung des US-Raketenabwehrsystems. Die NATO-Verbündeten lassen in der Ukraine heute ihre Geheimdienste agieren und pumpen Milliarden in politische Lakaien. So hat die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung den neuen Bürgermeister von Kiew, Vitali Klitschko, aufgebaut. Durch die vorbehaltlose Unterstützung des Kiewer Regimes – mitsamt der faschistischen Swoboda-Partei und dem Rechten Sektor – tragen sie maßgeblich dazu bei, dass sich die Ukraine am Rande eines Bürgerkriegs befindet. Sie belügen die Öffentlichkeit bezüglich der Ereignisse im zerrissenen Land; das beste Beispiel hierfür ist das Stillschweigen über das Massaker in Odessa (über 40 Menschen kamen um, nachdem am 2. Mai rechtsextreme Schlägerbanden das Gewerkschaftshaus angezündet hatten).

Rolle Russlands

Trotz der hartnäckigen Behauptungen der westlichen Medien hat das neue kapitalistische Russland wenig mit der stalinistischen Sowjetunion zu tun. Vielmehr handelt es sich um ein Land mit einer knallharten neoliberalen Marktwirtschaft. Für Moskaus Großbanken und Konzerne sind vor allem die ukrainische Industrie, ihre Arbeitsressourcen und die geopolitische Lage von Bedeutung.

Zweifellos will der russische Imperialismus die Ukraine an sich binden. Allerdings schreckt er zum jetzigen Zeitpunkt davor zurück, die NATO frontal herauszufordern. Zu hoch sind die Risiken. Stattdessen ist man derzeit vor allem darauf aus, eine Aufnahme der Ukraine in die NATO zu verhindern.

Dazu kommt die wirtschaftliche Abhängigkeit Russlands von Europa. Schließlich gehören die NATO-Länder zu den wichtigsten Absatzmärkten für Russlands Öl- und Gaskonzerne. Die russische Industrie ist bisher auf europäisches High-Tech angewiesen. Russlands Reiche wohnen gerne in London, lassen sich medizinisch in Berlin versorgen und ihre Kinder in der Schweiz unterrichten. Schon eine begrenzte militärische Auseinandersetzung mit der NATO oder auch nur verschärfte wirtschaftliche Sanktionen würden die Basis der russischen Oligarchie untergraben. Der Druck Putins auf die Ukraine hat unterdessen auch eine paradoxe Wirkung. Denn Russlands Militärmanöver nahe der ukrainischen Grenze und der Anschluss der Krim stärkten gleichzeitig die Positionen der „patriotischen“ ukrainischen Oligarchie.

Die begonnene Eskalation führt allerdings auch dazu, dass Putin verstärkt bemüht ist, neue Allianzen zu schmieden. So schloss er mit China im Mai einen 400-Milliarden-Dollar-Gas-Deal. Diese Vereinbarungen wie auch die Verhandlungen zwischen den USA und der EU um das transatlantische Freihandelsabkommen werfen ein grelles Licht auf die neu in Bewegung geratenen zwischenimperialistischen Beziehungen.

Armenhaus Europas

Die Ukraine gilt als das Italien Osteuropas. Leider ist damit nicht das gute Essen und das milde Klima gemeint, sondern Korruption, Gesetzesbruch und der Machtkampf zwischen den politischen Clans. Das politische System nach 1989 war von Anfang an extrem instabil. Wie gelangten „Gretchenzopf“ Julija Timoschenko und ihr Rivale Janukowitsch sowie die Oligarchen Ihor Kolomojskyj, Rinat Achmetow und der neue Präsident „Schokokönig“ Petro Poroschenko an ihre Milliarden? Diese erwuchsen ihnen aus dem blutigen Sumpf von Privatisierung, Vetternwirtschaft und gnadenloser Ausplünderung der arbeitenden Menschen.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion schlug die ukrainische Gesellschaft eine sehr heterogene Entwicklungsrichtung ein. Dank billiger Energie und Rohstoffe aus Russland war die ukrainische Bourgeoisie in der Lage, die gigantischen Industrieanlagen in der Ostukraine zu erhalten. Die meisten ArbeiterInnen im Süden und Osten des Landes haben zumindest Jobs und Auskommen in den großen Bergminen, Häfen, Metallfabriken und Maschinenbauunternehmen. Da die Oligarchen qualifizierte Arbeitskräfte brauchen, sind diese Arbeiter oftmals relativ gut bezahlt und zudem gewerkschaftlich organisiert.

In der Zentral- und Westukraine kam es hingegen zu einer weitreichenden Deindustrialisierung. Die Arbeiterklasse ist stark atomisiert. Millionen gehören zu sozialen Randgruppen: landwirtschaftliche Saisonarbeiter, Beschäftigte ohne Qualifikationen in Kleinbetrieben, verarmte RentnerInnen, die nur dank ihrer Gärten überleben können. Außerdem Kleinangestellte in öffentlichen Dienstleistungsbetrieben, die häufig mehreren Jobs nachgehen müssen, um über die Runden zu kommen, sowie kleine Kiosk-BesitzerInnen und Vertreter.

Was haben sie alle gemein? Sie befinden sich ständig in einer wackligen materiellen Situation. Beschließt die Oligarchie neue Gesetze oder schlägt wieder einmal die Wirtschaftskrise durch, verlieren etliche ihre Existenzgrundlage. Diese Menschen sind extrem abhängig von der Willkür des Staatsapparates. Jeder Polizist, jeder Staatsbeamte kann ihnen das Leben zur Hölle machen. Die Europäische Union gilt vielen von ihnen als mögliches Licht am Ende des Tunnels. Als Hoffnung auf rasche Verbesserung, gesetzlichen Schutz und eine funktionierende Verwaltung. Nicht zu vergessen sind die StudentInnen, für die eine Annäherung an die EU eine Chance bieten würde, im Ausland studieren zu können.

Wichtig ist auch, dass zwischen drei und fünf Millionen UkrainerInnen als „GastarbeiterInnen“ in Europa tätig sind. Das bedeutet, dass fast jede dritte bis vierte ukrainische Familie Verwandte im Ausland hat. Für diese Menschen könnte die Annäherung an die EU eine Erleichterung im Hinblick auf Visa und Geldtransfer bedeuten.

Maidan-Bewegung

All diese sozialen Gruppen bildeten ursprünglich die Basis der Maidan-Proteste. Dagegen blieb der Süden und der Osten der Republik skeptisch. Für Millionen IndustriearbeiterInnen im Osten würde mit der Annäherung an die EU die Vernichtung ihrer Betriebe drohen. Viele Menschen dort fühlen sich traditionell stärker mit Russland verbunden.

Die linken Kräfte haben bei der Organisation der Bewegung keine maßgebliche Rolle gespielt. Das hatte verschiedene Gründe. So wurde die Kommunistische Partei (die auch jahrelang die Regierung unterstützte und Privatisierungen zustimmte) als Flügel des Janukowitsch-Blocks gesehen. Andere linke Kräfte (wie Borotba und die Linke Opposition) waren schlichtweg sehr schwach. Dazu kommt das verwirrte Bewusstsein – viele haben tatsächlich Erwartungen in die EU.

Bedeutet das nun, dass die Menschen alle hinter den Rechten standen? Davon kann keine Rede sein. Laut Umfragen auf dem Maidan waren in der aktiven Phase der Aufstandsbewegung lediglich zwei bis vier Prozent Parteimitglieder. 70 Prozent demonstrierten aus Protest gegen die Zerschlagung der Studentendemonstration durch die Polizei am 29. November letzten Jahres. 49 Prozent der DemonstrantInnen erklärten, dass sie die Machtverhältnisse in der Ukraine ändern wollten.

Auch wenn Antisemiten, Nationalisten und Faschisten eine wesentliche Rolle bei den Protesten gespielt haben, so waren sie doch zahlenmäßig eine Minderheit. Was wir jetzt aber beobachten, das ist eine Allianz zwischen den ukrainischen „demokratietreuen“ Superreichen und den extrem rechten Kräften. Die Oligarchen organisieren die Nationalisten in paramilitärischen Verbänden, bewaffnen und finanzieren diese. Die blutigen Auseinandersetzungen im Osten und Süden werden oft genau von diesen Banden geführt.

Einige linke Organisationen waren sehr wohl auf dem Maidan aktiv. Zunächst die unabhängigen Gewerkschaften sowie einige Gewerkschaften aus dem Osten. Es gab auch blutige Auseinandersetzungen zwischen AnarchistInnen, Gewerkschaftsaktiven und den Rechtsextremen. Die Linke Opposition und die AnarchistInnen organisierten zudem studentische Kräfte. Linke Feministinnen bildeten Frauen-Hundertschaften. Die Linken konnten auch eine relevante Rolle bei der Organisierung der medizinischen Versorgung spielen.

Aufgrund der Schwächen der linken Kräfte gelang es den besser organisierten Rechten auf dem Maidan bei der Koordinierung der Proteste stärker den Ton angeben zu können. Den ukrainischen Rechtsextremen ist es sogar gelungen, unter russischsprachigen Jugendlichen, die vormals eher zu ihren Feinden zählten, Mitglieder zu rekrutieren.

Was passiert im Osten?

Der rasche Aufstieg des aggressiven Nationalismus löste unter den verschiedenen ethnischen Gruppen in weiten Teilen des Ostens ungute Gefühle aus. Diese Stimmung verstärkte sich, als die neue Regierung gleich ankündigte, Russisch als zweite Amtssprache zu untersagen. Der Wunsch nach mehr Autonomie wurde stärker. Trotzdem sah nur ein kleiner Teil die eigene Zukunft in einer Vereinigung mit Putins Russland.

Bis heute bleiben die bewaffneten ostukrainischen Milizen politisch und gesellschaftlich eher isoliert. Auch wenn eine Mehrheit von Donezk und Luhansk für die Föderalisierung gestimmt hat, drückte das unter anderem die Angst vor einem sozialen Kahlschlag der neuen Regierung aus. Ein Anschluss an Russland wird beim jetzigen Stand der Dinge nur von einer Minderheit der OstukrainerInnen unterstützt. Die meisten wollen einen Bürgerkrieg vermeiden. Das haben sie in großer Zahl beim Ansturm der Regierungstruppen gezeigt. Panzerkolonnen wurden mit bloßen Händen gestoppt, Soldaten entwaffnet und nach Hause geschickt.

Perspektiven

Weder die Kiewer Regierung noch die ostukrainischen Milizen haben gegenwärtig genug Kraft, um den Kampf für sich zu entscheiden. Gleichwohl, eine erneute Eskalation ist leider nicht auszuschließen. Schließlich stehen sich buntgemischte Milizen, private Oligarchentruppen, nationalistische Paramilitärs, Schlägerbanden und manchmal auch einfach kriminelle Vereinigungen gegenüber. In diesem Chaos kann ein zufälliger Schuss zum Auslöser für größeres Blutvergießen werden.

Die Oligarchen sind diese Situation leid – sie wollen ihre Profitinteressen weiterverfolgen können. Dafür nehmen sie auch ein semi-diktatorisches Regime mit einer Fassadendemokratie hin.

Die verarmten Massen im Osten genau wie im Westen haben mehrmals gezeigt, dass sie bereit sind, kompromisslos für ihre Rechte zu kämpfen. Aber eine Massenbewegung ist nicht alles. Wird keine politische Alternative aufgezeigt, können rechte Nationalisten die Energie der Massen für ihre Interessen missbrauchen. Der einzige Ausweg aus der drohenden Spirale von militärischer Eskalation, Repressalien und Sozialkürzungen besteht im Aufbau unabhängiger Organisationen der Arbeiterbewegung – mit antikapitalistischer, sozialistischer Ausrichtung. Nötig ist eine Partei, welche die ukrainischen Lohnabhängigen und die verarmten Bevölkerungsschichten unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit organisiert. Ein erster Schritt dahin könnte in der Schaffung von Antikriegskomitees bestehen. Wenn man vor Ort, in der Nachbarschaft, am Arbeitsplatz, an den Universitäten Selbstschutzorgane schaffen würde, wäre ein Anfang gemacht, ethnische Spannungen zu überwinden, gemeinsame Interessen feststellen zu können und über nötige Veränderungen zu diskutieren. Auch wenn es im Augenblick weit weg erscheint, so führt an diesen Aufgaben dennoch kein Weg vorbei.