„Den Blick nicht nach oben, sondern nach unten richten.“
Vor dem Hintergrund der sich immer weiter zuspitzenden Krise in der Ukraine stellt sich die Frage, wie der Gewalt Einhalt geboten und ein Bürgerkrieg verhindert werden kann.
Von Torsten Sting, Rostock
Diese Frage wird auf der politischen Linken im Allgemeinen diskutiert und widerspiegelt sich auch im Hinblick auf Anträge für den bevorstehenden Bundesparteitag der LINKEN. Dabei fällt immer wieder das Wort „Völkerrecht“.
„Völkerrecht“
In erster Linie sind damit jene Regeln gemeint, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs im Zusammenhang mit der Gründung der Vereinten Nationen (UN) aufgestellt wurden und bis heute gelten. In der Charta der UN, wird u.a. das Verbot von Angriffskriegen formuliert und die Integrität von Staaten betont.
Darauf Bezug nehmend, heißt es unter anderem bei Antrag G.11.: „Die Aufnahme der Krim in die Russische Föderation und damit deren Abtrennung von der Ukraine war völkerrechtswidrig.“ Oder an anderer Stelle: “Es darf keine weiteren völkerrechtswidrigen territorialen Anschlüsse geben.“
In einem Beitrag für das „neue deutschland“ vom 30.4. zitiert Stefan Liebich, Oskar Lafontaine aus dem Jahre 2007:“…wie im Inneren der Staaten nur das Recht den Frieden herstellt, so kann zwischen den Staaten nur das Völkerrecht den Frieden herstellen.“
Wir haben mehrfach deutlich gemacht, dass wir sowohl das Vorgehen Putins, wie auch des Westens, ablehnen. Beide Seiten verfolgen ihre jeweiligen Großmachtinteressen. Die Frage stellt sich, wie man der Masse der Bevölkerung in der Ukraine helfen kann, den nationalistischen Kreislauf zu durchbrechen.
Nationalismus
Für die momentane Situation tragen die westlichen Regierungen und die russische Staatsspitze die Hauptverantwortung. Die USA und EU haben den berechtigten Protest gegen das korrupte Regime von Janukowitsch finanziell und ideologisch unterstützt. Sie haben bewusst in Kauf genommen, dass rechtsnationalistische und faschistische Kräfte in der Regierung sitzen und von Nazi-Milizen die Drecksarbeit machen lassen. Ein rechter, gegen Russland gerichteter ukrainischer Nationalismus wurde entfacht und das zwischenzeitlich verhängte Verbot von Russisch als zweiter Amtssprache im Osten des Landes hatte zur Folge, dass der russische Nationalismus als Reaktion darauf befeuert wurde.
Auf der Krim gibt es einen hohen Anteil von russischsprachigen Menschen bzw. russischen Staatsangehörigen als Folge der Stationierung der Schwarzmeer-Flotte. Bedingt durch die reaktionäre Politik der neuen ukrainischen Regierung (und das Agieren von Putin) entstand bei einem Großteil der Bevölkerung die Sorge, im „neuen Staat“ an den Rand gedrängt zu werden.
„Völkerrecht“ oder auch der Verweis auf die Verfassung der Ukraine (die eine Abspaltung nicht zulässt) , heißt in diesem Fall den Menschen einer Region oder nationalen Minderheit generell das Recht abzusprechen, ihren eigenen Weg zu gehen. Dies kann dann nur zur Folge haben, dass der Nationalismus dieser Seite weiter gestärkt und es damit noch schwerer wird, die arbeitenden Menschen unabhängig ihrer Sprache oder Nationalität zusammenzubringen. Es steht auf einem anderen Blatt, dass das Referendum auf der Krim unter Umständen stattfand, die eine demokratische Diskussion nicht ermöglichten.
Basis vom „Völkerrecht“
Nationale oder internationale Normen widerspiegeln, allgemein formuliert, den Verlauf des Kampfes zwischen den gesellschaftlichen Klassen. Der letzte Weltkrieg hatte zur Folge, dass einerseits die Vereinigten Staaten der große Sieger waren und zur eindeutigen Nummer Eins der kapitalistischen Mächte aufstiegen. Großbritannien und Frankreich gehörten zwar auch zu den Gewinnern, befanden sich aber auf dem absteigenden Ast. Auf der anderen Seite konnte die Sowjetunion mit dem Sieg über Nazi-Deutschland und der Befreiung der osteuropäischen Länder, hier ihr Gesellschaftssystem etablieren. Dieses basierte auf dem Bruch mit dem kapitalistischen Eigentum an den Produktionsmitteln, einer bürokratischen Planwirtschaft und dem Ausschluss von Arbeiterdemokratie. Nachdem 1949 in China de facto dasselbe System errichtet wurde und später weitere Länder infolge von Befreiungsbewegungen gegen die Kolonialherrschaft folgten, ergab sich damit ein neues, weltweites Kräfteverhältnis. Dies zeigte sich denn auch bei der Gründung der UNO und deren Struktur. Das entscheidende Gremium, der UN-Sicherheitsrat, besteht aus den oben erwähnten fünf ständigen Mitgliedern, die über ein Vetorecht verfügen. Hinzukommen Staaten die für zwei Jahre gewählt werden. Unter dem maßgeblichen Einfluss dieser entscheidenden Mächte wurde nun das „Völkerrecht“ entworfen. Auch wenn es einen Systemgegensatz zwischen dem kapitalistischen Westen und dem stalinistischen Osten gab, waren dennoch gemeinsame Interessen vorhanden – angesichts einer weltweit starken Arbeiterklasse und von kolonialen Befreiungsbewegungen sollte der Status quo möglichst erhalten bleiben. Das drückte sich darin aus, dass man die territoriale Integrität von Staaten definierte.
Die vierzig Nachkriegsjahre waren verhältnismäßig stabil, ein weiterer großer Krieg fand nicht statt. Aber warum? Weil das „Völkerrecht“ die beteiligten Mächte davon abhielt? Zum einen erlebte der Kapitalismus bis Anfang der 1970er Jahre einen starken Aufschwung, der die innerimperialistischen Konflikte abmilderte. Die atomare Bewaffnung war ein Grund dafür, dass der Westen nicht mit einem Krieg die Restauration des Kapitalismus in der Sowjetunion, China und Osteuropa zu erreichen versuchte. Ihm war klar, dass ein atomarer Erstschlag, einen Gegenschlag zur Folge haben würde. Zig Millionen Tote und Verwüstungen unvorstellbaren Ausmaßes hätten die Existenz der betroffenen Staaten und auch das eigentliche Ziel des Kapitalismus – Profitmaximierung – in Frage gestellt . Der andere Grund war die Stärke der politischen Linken und Arbeiterbewegung. Die Aufrüstung Anfang der 1980er Jahre hatte Massendemonstrationen in vielen Ländern zur Folge. Die Vorstellung einer gesellschaftlichen Alternative zum marktwirtschaftlichen System, war viel präsenter als heute und war ein Faktor, den die Herrschenden miteinbeziehen mussten. Mehrmals gab es mitten in Europa vorrevolutionäre und revolutionäre Bewegungen die kurz davor standen, den Kapitalismus zu Fall zu bringen.
Mit dem Zusammenbruch des Stalinismus und vieler Massenparteien rund um den Globus die sich auf ihn bezogen, der Verbürgerlichung der Sozialdemokratie und der politischen Schwächung der Gewerkschaften haben sich die Kräfteverhältnisse in den letzten 25 Jahren massiv verändert. Es gibt keinen „Gegenblock“ mehr zum Kapitalismus, die Arbeiterbewegung ist in einer deutlich schlechteren Ausgangslage. Wo sich früher die Spitze der USA mit der Führung der UdSSR notfalls zusammenraufen musste um eine Eskalation zu vermeiden, sind die „Räuberbanden“ (Lenin) heute unter sich. Die Geschäftsgrundlage des alten „Völkerrechts“ nach 1945 ist abhanden gekommen. Daher verwundert es nicht, dass es danach reihenweise Verstöße gegen diese Spielregeln gab. Die Kriege gegen Jugoslawien 1999 und den Irak 2003 seien nur als Beispiele erwähnt.
Blick nach unten
Im Zusammenhang mit der Betonung des „Völkerrechts“ wird immer wieder der Diplomatie und Verhandlungen der beteiligten Seiten unter Einbeziehung der westlichen Großmächte und Russland das Wort geredet. Natürlich ist es besser miteinander zu reden als aufeinander zu schießen. Das Problem ist nur, dass in der Ukraine grundlegende Interessengegensätze aufeinanderprallen. Die westlichen Kapitalisten wollen (bei allen unterschiedlichen Meinungen, die es um das „wie“ gibt) weiter ihren wirtschaftlichen und politischen Einfluss gen Osten verschieben. Für Putin ist eine „rote Linie“ erreicht, hinter die er nicht zurückweichen kann und will. Zudem haben die Protagonisten in der Ukraine längst ein Eigenleben entwickelt und werden nicht von ihren großen Gönnern kontrolliert. Die ukrainische Regierung ist gewillt, den Osten des Landes mit Gewalt wieder unter ihre Kontrolle zu bringen. Den gegnerischen Kräften bleibt faktisch keine andere Wahl, als sich zu verteidigen.
In dieser Situation werden diplomatische Initiativen sehr wahrscheinlich nicht von Erfolg gekrönt sein. Und selbst wenn, wie sollen die imperialistischen Mächte eine friedliche und wirklich demokratische Lösung herbeiführen können? Der Blick auf all die weltweiten Konflikte der letzten Jahre beweist schon das Gegenteil. Zudem werden die „Hilfsprogramme“ der westlichen Institutionen und Staaten an massive Sozialkürzungen gebunden, die eine Verarmung á la Griechenland und damit einhergehende neue Unruhen zur Folge haben werden. Der Einfluss der ultranationalistischen und offen faschistischen Kräfte kommt noch hinzu.
Es gibt eine Alternative, aber diese ist nicht leicht zu haben und dennoch die einzig realistische. Statt den Blick nach oben zu den Herrschenden zu richten, sollten SozialistInnen den Blick nach unten, zur Masse der Bevölkerung richten. Die ArbeiterInnen in der Ukraine, egal ob es die ukrainisch sprechende Krankenschwester in Kiew oder der russisch sprechende Bergmann ist Donezk ist, sie haben die gleichen Interessen. Sie benötigen einen anständigen Lohn, bezahlbare Energiepreise und wollen ohne Diskriminierung ihre Sprache sprechen und ihre Kultur ausleben können. Auf dieser Basis ist grundlegend ein gemeinsamer Kampf möglich, auch wenn es derzeit sehr schwer ist, dies massenhaft zu erreichen. Aber damit muss jetzt ein Anfang gemacht werden. Da wo es möglich ist, sollten sich die Menschen in multiethnischen Gruppen zusammenschließen und Angriffe egal welcher Seite zurückschlagen. DIE LINKE und die Europäische Linkspartei sollten dabei helfen, internationale Solidarität zu organisieren. Eine Antikriegskonferenz in der Region könnte ein wichtiges Signal sein.
Über die aktuelle Situation hinaus, muss der Anfang mit dem Aufbau einer sozialistischen Arbeiterbewegung gemacht werden, die die abhängig Beschäftigten unterschiedlicher Nationalitäten vereinigen kann und eine Alternative zum Wahnsinn von rechtem Nationalismus, Imperialismus und Krieg aufzeigt.