Droht ein neuer Weltkrieg?

Foto: https://www.flickr.com/photos/linksfraktion/ CC BY 2.0
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Parallelen und Unterschiede zu 1914

Der hundertste Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkriegs bietet in Hülle und Fülle Gelegenheiten zu seiner rentablen Verwertung. Medien, Museen und Marketing- sowie Tourismusunternehmen stehen längst in den Startlöchern: von Fahrten nach Verdun über Fernsehserien bis hin zu Sonderausstellungen. Dabei findet sich so manche Absurdität. So stellt die Stiftung Preußischer Kulturbesitz in Berlin „Kleider im Krieg“ aus – und bewirbt das Event mit dem Hinweis, dass ohne die Jahre 1914 bis 1918 „die Befreiung der Frau vom Korsett und langen Rock nicht möglich gewesen“ wäre … Natürlich soll mit diesen Rückblicken Geld gemacht werden. Zur Intention gehört – sicher nicht bei allen, aber bei etlichen – allerdings auch, diesen Jahrestag als abgeschlossenes historisches Ereignis zu betrachten. Dabei ist genau das die brennende Frage: Wie kam es denn eigentlich zu diesem millionenfachen Abschlachten, ist heute eine Wiederholung denkbar? Welche Unterschiede gibt es, welche möglichen Parallelen existieren?

von Aron Amm, Berlin

„Die Schlafwandler“, ein 896 Seiten dicker Schinken des australischen Historikers Christopher Clark, ist für breite Schichten des bürgerlichen Lagers in Deutschland das „Buch des Jahres“ (wie zum Beispiel Andreas Kilb in der FAZ resümierte). Was ihnen gefällt, ist Clarks ausgerechnet in der sich am rechten Rand bewegenden „Jungen Freiheit“ getätigte Selbsteinschätzung, mit seinem Werk endlich nachgewiesen zu haben, dass Preußen-Deutschland unter Wilhelm II. „kein Schurkenstaat gewesen“ sei. Damit soll die 1961 von dem Historiker Fritz Fischer in seinem Buchtitel zusammengefasste These vom deutschen „Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914–1918“ vom Tisch gefegt werden.

„Urkatastrophe“?

Im Kern waren es für Clark vor hundert Jahren „unterschiedliche Wahrnehmungen, Blindheit, Missverständnisse, Misstrauen und nationalistische Überlegenheitsgefühle“, die sich „zu einer Eskalationsspirale verdichteten, die in die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts führte“, so Berthold Kohler in der FAZ vom 18. März.

In die gleiche Kerbe haut der Politikwissenschaftler Herfried Münkler in seinem 2013 erschienen Buch „Der große Krieg“. Wie Clark verliert sich Münkler in der Fokussierung auf Zufälle, persönliche Animositäten unter den Mächtigen und Schlachtplänen, um schließlich bei der These zu landen, dass der Erste Weltkrieg „bei mehr politischer Weitsicht und Urteilskraft [hätte] vermieden werden können“.

Alles also bloß ein großes Missverständnis? Ein Gemetzel, das eigentlich keiner wollte? So neu ist diese Auffassung nicht. Auch die herrschende Sprache ist die Sprache der Herrschenden. Und hier ist es seit jeher gang und gäbe, davon zu sprechen, dass Kriege einfach „ausbrechen“ – wie Naturgewalten, für die sich niemand verantwortlich zeichnet. Der einstige britische Premier David Lloyd George kam wie viele andere ebenfalls zum Schluss, dass ganz Europa in diesen Krieg völlig abrupt „hineingeschlittert“ sei.

„Warum“?

„Die Schlafwandler“, so der Autor über sein Buch, „befasst sich weniger mit der Frage, warum der Krieg ausbrach, als damit, wie es dazu kam“. Damit man den Wald vor lauter Bäumen wirklich nicht mehr sehen kann, reiht Clark – wie die RezensentInnen berichten – unzählige Detailschilderungen des Lebens der damaligen Politiker, Generäle und Adligen aneinander. Den Leser soll er haarklein wissen lassen, wie der serbische König Alexander I. und seine Gemahlin Draga das Attentat von 1903 erlebten („der französische Roman, den die Königin gelesen hatte, lag aufgeschlagen mit den Seiten nach unten“). Und wie sich das Attentat 1914 auf den Großherzog Franz Ferdinand vollzog.

Dabei ist genau das „Warum“, nicht das „Wie“ die entscheidende Frage. Warum kam es zu einem Krieg, der 40 Länder einbezog und mehr als 17 Millionen Menschen das Leben kostete? Ernst Alexander Rauter brachte es in seinem Werk „Vom Faustkeil zur Fabrik“ auf den Punkt: „Wenn man zufällige Begebenheiten nicht berücksichtigt, die als Vorwand genommen wurden, um Krieg zu machen, kann man sagen: Der Erste Weltkrieg „brach aus“, weil die Produktionsanlagen eine bestimmte Größe erreicht hatten und von Privatleuten geleitet wurden.“ Das private Eigentum an Betrieben und Banken führt unweigerlich zum stetigen Bemühen der Konzernherren, die Profite (durch einen „Krieg“ gegen die eigenen Beschäftigten) zu steigern und (durch einen Krieg gegen andere Unternehmen) die Kontrahenten auszustechen. Zwar tun sich die verschiedenen Vorstände in Arbeitgeberverbänden zusammen, um auf Politiker und Richter einzuwirken und der Arbeiterklasse das Leben schwer zu machen. Gleichzeitig stehen sie jedoch auch in einem mörderischen Wettbewerb miteinander – der darauf hinausläuft, die Konkurrenz entweder einzuverleiben oder aus dem Rennen zu werfen. Dieser Konkurrenzkampf macht an den Landesgrenzen nicht halt, sondern schlägt in eine Auseinandersetzung von Firmen verschiedener Nationen um. Wie Rauter treffend bemerkte, sind die Mittel der Konkurrenten im Inland andere als im Ausland. Weil die Mittel andere sind, sind auch die Wirkungen andere. Auf internationaler Bühne konfrontieren die Reichsten der Welt einander mit hochgerüsteten Staatsapparaten.

Der Weg in den Weltkrieg

Zwar schwelte die Kriegsgefahr Anfang des letzten Jahrhunderts schon seit Längerem. Seit 1905 hätte der Weltkrieg, wie Rosa Luxemburg 1915 meinte, bereits fünf Mal beginnen können. Aber es war auch nicht so, dass er zu jedem Zeitpunkt ganz plötzlich hätte losbrechen können. Erst Recht nicht im 19. Jahrhundert. Was waren nun die Faktoren, die maßgeblich dafür waren, dass es vor hundert Jahren zu diesem bis dahin größten Krieg auf dem Planeten kam?

Erstens das imperialistische Stadium des Kapitalismus: Noch in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts tendierten die Herrschenden Großbritanniens dazu, Truppen aus ihren Kolonien wieder abzuziehen. In dieser Phase existierten solch gewaltigen Möglichkeiten zur Kapitalverwertung in der einheimischen Produktion, dass die Streitkräfte im Ausland zum Teil als Verschwendung angesehen wurden. Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts setzte hingegen ein noch nie dagewesenes Wettrüsten ein. 1876 hatten die Großmächte Europas ein Zehntel des afrikanischen Kontinents okkupiert, 25 Jahre später waren es neun Zehntel. Auch in anderen Regionen schritt die Unterwerfung gesamter Völker rasant voran. In dieser Zeit machte der Kapitalismus eine entscheidende Veränderung durch und ging in sein imperialistisches Stadium über (von Wladimir Lenin als „höchstes“, an anderer Stelle auch als „neuestes“ Stadium bezeichnet): Monopolbildung, überragende Bedeutung des Kapitalexports, Verschmelzung vom Banken- und Industrie- zum Finanzkapital, Entstehung eines Weltmarktes und die Aufteilung des Erdballs unter den Großmächten. Damit gelangte der Kampf um Märkte, Rohstoffe und Einflusssphären auf eine neue Stufe.

Zweitens das Rennen um die Vorherrschaft: Nachdem die Niederlande in einer Zeit, als der Kapitalismus noch in seinen Kinderschuhen steckte, die größte Macht international darstellten, hatte Großbritannien im 18. und 19. Jahrhundert die global dominante Stellung inne. Andere aufstrebende Großmächte verstärkten seit Ende des 19. Jahrhunderts ihre Anstrengungen, London seine herausragende Position streitig zu machen. Darunter waren die USA, die sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts schließlich durchsetzten und Großbritannien als Weltmacht ablösten. Aber auch der – historisch gesehen zu spät gekommene – deutsche Kapitalismus hatte die gleichen Ambitionen, was er in zwei Weltkriegen auch zu erreichen suchte. In Deutschland war das Profitsystem indes nicht nur zu spät auf die Weltbühne gelangt (und beim Kampf um Kolonien und Rohstoffe ins Hintertreffen geraten), es basierte auch auf einem folgenschweren Klassenkompromiss. So hatte sich das junge Bürgertum – eingeschüchtert von den unterdrückten Massen in der Revolution 1848/49 – dazu entschieden, sich mit dem preußischen Militäradel und den Großgrundbesitzern zu arrangieren. Dieses fragile Bündnis geriet 1909 in eine extreme Zerreißprobe, als sich das Junkertum (das seit der Reichsgründung keine Steuern zahlen musste) einer Besteuerung für den Bau der für die Mehrheit der Bourgeoisie zentralen Schlachtflotte verweigern wollte und damit eine Staatskrise heraufbeschwörte.

Drittens der Rüstungswettlauf: Die sich verschärfende Rivalität zwischen Deutschland und Großbritannien mündete in ein gigantisches Flottenwettrüsten. Aber auch die meisten Verbündeten beider Seiten warfen sich mit aller Kraft in den Rüstungsstreit. Am Vorabend des Ersten Weltkrieges betrugen die absoluten Militärausgaben der Triple Entente (Großbritannien, Frankreich und Russland) das Doppelte derjenigen der sogenannten Mittelmächte (Deutschland, Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich). Andererseits verfügte das Deutsche Reich über mehr schwere Artillerie als seine ganze Gegnerschaft zusammen. Zu alledem kommt: Natürlich will die jeweilige Kapitalistenklasse ihre Widersacher in den anderen Ländern besiegen; gleichzeitig möchte der einzelne Unternehmer aber zu jedem Zeitpunkt den Rubel rollen lassen – was dazu führte, dass die Firma Krupp zum Beispiel nicht nur eifrig die Truppen des Kaiserreichs belieferte, sondern parallel dazu Granaten an das britische Militär verkaufte.

Viertens die Angst vor der Arbeiterklasse: Mehr als alles andere waren die herrschenden Klassen in Europa und international zu Beginn des 20. Jahrhunderts von der Furcht getrieben, früher oder später ihre Macht an die in Riesenschritten erstarkende Arbeiterbewegung abtreten zu müssen. Von daher sollten Aufrüstung und Krieg auch der Ablenkung vom Klassenkampf dienen. Viel wurde getan, um Nationalismus zu schüren. Lenin erkannte früh die Herausforderung, die Arbeiterklasse vor der Politik des „Burgfriedens“ zu warnen: „Man muss insbesondere die Bedeutung des Umstands erklären, dass die „Vaterlandsverteidigung“ zu einer unvermeidlichen Frage wird, die die gewaltige Mehrheit der Werktätigen unvermeidlich zugunsten ihrer Bourgeoisie entscheiden wird.“ Zumindest kurzfristig. Mittelfristig ließ sich für die Herrschenden die sozialistische Revolution nicht aufhalten, im Gegenteil – die, daran sei erinnert, in Russland und Deutschland schließlich den Krieg beendete, als die Oberbefehlshaber noch Kinder rekrutieren wollten, um diese in den letzten Kriegstagen zu verheizen.

Aufrüstung und zwischenimperialistische Spannungen heute

Nachdem Christopher Clark die LeserInnen seines knapp 900 Seiten umfassenden Werks ermüdet und der Öffentlichkeit mit seinen Thesen Sand in die Augen gestreut hat, will er mit „schlafwandlerischer“ Sicherheit zu den wahren Schuldigen führen. Diese macht er in den angeblich serbischen Terroristen fest. Schließlich war es ein bosnischer Serbe, so Clark, der den österreichischen Thronfolger in Sarajewo erschoss. Clark bleibt dabei nicht stehen, sondern zieht eine direkte Linie von Sarajewo nach Srebrenica. Doch Serbien ist für ihn nicht der einzige „Schurkenstaat“, Russland macht er für das damalige Debakel ebenso mitverantwortlich, um im gleichen Atemzug vor dem heutigen Kreml unter Wladimir Putin zu warnen.

Will man der Frage nachgehen, ob sich der Erste Weltkrieg hundert Jahre später in der einen oder anderen Form wiederholen kann, dann gilt es, entgegen Clarks Ratschlag bei dem „Warum“ zu bleiben. Heute wie damals stößt der Kapitalismus an seine Grenzen: Privateigentum und nationalstaatlicher Rahmen. Der Nachkriegsaufschwung ist längst Geschichte. (Wobei es verlogen ist, überhaupt von einer Nachkriegszeit zu reden: denkt man daran, dass auch von 1945 bis 1969 laut dem „Journal of Peace Research“ (1971, Heft 1) 93 Kriege geführt wurden, von denen 36 über drei Jahre dauerten.) Mit dem Zusammenbruch des Stalinismus sind zudem die durch den Ost-West-Gegensatz im Zaum gehaltenen zwischenimperialistischen Konflikte offen zu Tage getreten. Binnen weniger als zehn Jahren haben sich die Rüstungsausgaben auf dem Globus nahezu verdoppelt: von 900 Milliarden Euro 2006 auf 1,8 Billionen heute. Zwar erschwert die ungeheure Staatsverschuldung eine Fortsetzung dieser Ausgabenpolitik, gleichzeitig treiben die Auswirkungen der tiefsten Krise des Kapitalismus seit den dreißiger Jahren die Herrschenden dazu, nach einer militärischen „Lösung“ für die Misere zu suchen.

„Zersplitterte, multipolare Welt“

Im SPIEGEL 14/2014 betitelte Erich Follath sein Essay mit den Worten: „Wir Supermachtlosen – es wird nie mehr ein Imperium geben, keinen Herrn der Welt“. Follath konstatierte: „Die bipolare Welt des Kalten Kriegs ist nach dem Ende der Sowjetunion zwischenzeitlich zu einer unipolaren Welt geworden, mit den militärisch und kulturell alles beherrschenden USA. Und heute zu einer zersplitterten, multipolaren Welt, ohne Führungsnation.“

So wie Großbritannien vor hundert Jahren von anderen Großmächten die weltweite Dominanz streitig gemacht wurde, so sehen die USA sich heute herausgefordert. Allerdings kristallisiert sich nicht die eine Macht heraus, die heute zur alleinigen neuen Supermacht aufsteigen kann. Zwar befindet sich der US-Imperialismus im Niedergang und bekam im Irak und in Afghanistan seine Grenzen zu spüren, dennoch geben die Vereinigten Staaten mit rund 600 Milliarden US-Dollar immer noch fünf Mal so viel für Rüstung aus wie ihr größter Verfolger China (mit 112 Milliarden Dollar auf Rang zwei).

Im pazifischen Raum hat ein neues „Großes Spiel“ (so bezeichnete man den Konflikt zwischen Großbritannien und Russland um Zentralasien im 19. Jahrhundert) begonnen – während China das Sagen haben will, versuchen die USA ihr Präsenz auf den Philippinen, Thailand, Indonesien und Südkorea auszubauen. Darüber hinaus betreiben Washington und Tokio den Schulterschluss – wobei Japan gleichzeitig (analog zur Bundesrepublik) bemüht ist, als (wenn auch angeschlagener) ökonomischer Riese nicht länger ein militärisches Zwergendasein zu fristen.

Ukraine-Krise

Wie in einem Brennglas zeigen sich die aktuellen geostrategischen Konflikte in der Ukraine-Krise in verdichteter Form. Der US-Imperialismus war in der letzten Zeit vor allem mit den Entwicklungen in Asien beschäftigt – der Internationale Währungsfonds (IWF) prognostiziert, dass Asiens Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2030 die Wirtschaftsleistung der sieben führenden Industrieländer (G7) übertreffen könnte. Vor diesem Hintergrund hinkte Washington den Ereignissen in der Ukraine zunächst hinterher. Dann kam es indes doch noch zu einem „Schwenk der USA im NATO-Rat. Nach anfänglicher Zurückhaltung hätten sie sich nun „an die Spitze der Bewegung“ gesetzt, schreibt der deutsche NATO-Botschafter“ (DER SPIEGEL 14/2014). Damit bleibt sich das Weiße Haus seiner in den neunziger Jahren eingeschlagene Linie treu, Russlands Einfluss in den ehemaligen Ostblockländern zu unterminieren: angefangen mit der Aufnahme von insgesamt zehn Staaten des früheren Warschauer Pakts in die NATO, über die Pläne zu einem Raketenabwehrschirm bis hin zu den gegenwärtigen Stationierungen von sechs Kampfflugzeugen in Litauen, zwölf Kampf- und vier Transportflugzeugen in Polen und der Verlegung weiterer Schiffe und Flugzeuge nach Osteuropa.

Da Barack Obama sich seit für geraume Zeit zögerlich zeigte, wollten Deutschland und Frankreich an der Spitze der Europäischen Union (EU) die Gunst der Stunde nutzen und, wie bereits an anderer Stelle bewiesen, eine eigenständigere Rolle gegenüber den Vereinigten Staaten einnehmen – weshalb die Außenminister Frank-Walter Steinmeier und Laurent Fabius auch gemeinsam mit ihrem polnischen Kollegen Radosław Sikorski kurz vor dem Rücktritt von Viktor Janukowitsch in Kiew einflogen.

Während die EU gegenüber den USA in der Ukraine-Krise früher agierte, schlug die Obama-Administration im Zuge der Auseinandersetzung einen schärferen Ton als Angela Merkel und Co. an. Aus gutem Grund: Schließlich kommen über ein Drittel der deutschen und europäischen Gasimporte aus Russland, überhaupt besteht eine engere ökonomische Verflechtung zwischen Deutschland beziehungsweise großen Teilen der EU und Russland, als das seitens den USA der Fall ist. Damit einher gehen die Bestrebungen des Kapitals in Deutschland und Europa, trotz der in der letzten Phase wieder vollzogenen stärkeren Annäherung gegenüber dem großen Bruder in Übersee unabhängiger aufzutreten. Wobei die verschiedenen imperialistischen Kräfte in der EU auch nicht mit einer Stimme sprechen. Während Deutschland und Frankreich sich gegenüber ihrem Bündnispartner USA um mehr Eigenständigkeit bemühen, befinden sich beide zum gleichen Zeitpunkt im Wettstreit miteinander.

Unterm Strich bestätigt der Verlauf der Ukraine-Krise jedoch, dass die Mehrheit der deutschen und französischen Eliten heute, wenn es hart auf hart, kommt, an der Zusammenarbeit mit den USA festhalten. Trotz der jüngsten „Verstimmungen“ wie in der NSA-Affäre (O-Ton Merkel: „Das Ausspähen unter Freunden, das geht gar nicht“). Trotz der in bestimmten Punkten divergierenden Sichtweise in Sachen Ukraine – man denke nur an den Ausspruch der US-Diplomatin Victoria Nuland: „Fuck the EU.“

Es ist offen, ob die Turbulenzen in der Ukraine nach dem Anschluss der Krim an Russland jetzt oder zu einem späteren Zeitpunkt zu weiteren Absetzbewegungen im Osten des Landes führen beziehungsweise ein Bürgerkrieg ausbricht. Auch die Lage der Russisch sprechenden Moldau-Enklave Transnistrien bleibt explosiv. Dazu kommt die Frage nach der Zukunft der Russisch sprechenden Minderheit in den baltischen (NATO-)Staaten. In jedem Fall birgt der Konflikt zwischen NATO und Russland die Gefahr weitergehender geopolitischer Verwerfungen. So könnten die Verständigungsversuche mit den Russland-Partnern Syrien und Iran zurückgeworfen und über eine Aussetzung der G8 protektionistische Tendenzen verstärkt werden. Auch weitsichtigere Teile unter den Bürgerlichen scheinen sich dessen bewusst zu sein. So warnte der frühere US-Außenminister Henry Kissinger kürzlich: „Die Dämonisierung von Wladimir Putin ist keine Strategie; es ist ein Alibi für die Abwesenheit einer Strategie.“

Rolle des deutschen Imperialismus

Am 29. September 1995 schrieb der Bundeskanzler a.D. Helmut Schmidt (SPD) in der „Zeit“: Wenn „die Währungsunion aufgegeben würde, so (…) wäre zum dritten Mal eine Koalition fast aller anderen europäischen Staaten gegen Deutschland zu befürchten“. Genau darum geht es: Erst mit der Schaffung der Europäischen Union (angefangen mit seinen Vorläufern), dann forciert mit der Einführung des Euro sollte das gelingen, was in den beiden Weltkriegen fehlschlug – die „Einigung“ Europas unter deutscher Führung. Dieses Mal nicht mit Hilfe von Mörser und Panzerfaust, sondern mittels eines Binnenmarktes und einer Gemeinschaftswährung.

Die herrschende Klasse der Bundesrepublik drängt, ihre ökonomische Stärke durch die Erhöhung ihres politischen und militärischen Gewichts zu untermauern. Darum die Losung des damaligen SPD-Verteidigungsministers Peter Struck, Deutschland müsse seine Sicherheit auch am Hindukusch schützen. Darum die Zunahme von Auslandseinsätzen der Bundeswehr: ob auf dem Balkan, in Afghanistan oder am Horn von Afrika. Darum die Forderung des Bundespräsidenten Joachim Gauck, Deutschland müsse ein fester Sitz im UN-Sicherheitsrat zugestanden werden. Darum die Ankündigung von Steinmeier und der neuen Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen, in dieser Legislaturperiode außenpolitische Zurückhaltung abzulegen. Im Übrigen ist aus von der Leyens Äußerungen herauszuhören, dass die Bundeswehr in Schulen, Universitäten und der breiteren Öffentlichkeit gerade eine „Charme-Offensive“ vorbereitet.

Während sich die SPD im vergangenen Herbst in den Koalitionsverhandlungen mit der Union befand, beschloss sie auf ihrem Bundesparteitag gleichzeitig, künftig auch Rot-Rot-Grün nicht prinzipiell auszuschließen. Allerdings, und das spricht Bände, unter der Voraussetzung, dass die Linkspartei ihre kritische Haltung zur EU schleift und die Ablehnung von Bundeswehr-Auslandseinsätzen über Bord wirft …

Starre Blöcke?

Dass es in der Bundesrepublik eine ganze Reihe von bürgerlichen „Putin-Verstehern“ gibt (von Gerhard Schröder über Klaus von Dohnanyi bis hin zum heutigen Siemens-Chef Joe Kaeser, der bezeichnenderweise mitten im tobenden Ukraine-Streit nach Moskau reiste), hat durchaus Gründe. Sie repräsentieren Kräfte im deutschen Establishment, die sich von einer engeren Verbindung mit dem rohstoffreichen Russland eine unabhängigere Position gegenüber den USA versprechen. Allerdings hat dieser Flügel mittlerweile reichlich Federn lassen müssen.

In den Jahren und Jahrzehnten vor 1914 waren ebenfalls nicht alle Schulterschlüsse von Dauer. Zwar standen die Zeichen zwischen Deutschland und Frankreich schon lange auf Sturm (der Krieg 1870, die Annexion Elsaß-Lothringens durch deutsche Truppen et cetera), aber selbst hier versuchte das Deutsche Reich zwischenzeitlich, in der Ersten Marokko-Krise 1904 bis 1906, Frankreich aus der Entente Cordiale herauszubrechen.

Während dieser Versuch nur eine Episode blieb, gestaltete sich das Verhältnis zwischen Frankreich und Großbritannien über Jahrzehnte hinweg kompliziert. So kam es in der Faschoda-Krise 1898 (Faschoda ist das heutige Kodok im Südsudan) zu einer heftigen Konfrontation, beide befanden sich in einem Interessenkonflikt um die Kolonien Afrikas. Dass es dann zur Entente Cordiale und zum Bündnis gegen Deutschland vor und während des Ersten Weltkriegs kam, ist auch eine Folge des deutsch-britischen Flottenwettrüstens – nachdem London damit scheiterte, Berlin von seinen Ambitionen abzubringen.

In der Außenpolitik Russlands vollzog sich vor 1914 ebenfalls eine Wende: Nachdem das Zarenreich viel investiert hatte, um in Asien eine Hochburg aufzubauen, orientierte man sich nach dem Russisch-Japanischen Krieg 1905 und angesichts der Stärke Großbritanniens im Nahen Osten in den Folgejahren vermehrt auf Europa und hier vor allem auf den Südosten des „alten“ Kontinents.

Anders als in der Zeit, die dem Ersten Weltkrieg vorausging und in der die Blockbildung zwischen den Großmächten sehr viel offener war, ist die gegenwärtige Situation noch stark geprägt von dem jahrzehntelangen Ost-West-Gegensatz. Auch nach dem Zusammenbruch des Stalinismus hatte das westliche Lager (USA, Japan und EU) weiter Bestand – herausgefordert von Russland sowie dem aufstrebenden China. Allerdings – und das macht die neuen Prozesse aus – nehmen die Spannungen innerhalb der NATO zu, werden zwischen einzelnen Ländern neue Allianzen geschmiedet und zwischen anderen Konflikte forciert.

Krisen, Stellvertreterkonflikte und regionale Kriege gestern und heute

In gewisser Weise ist die gegenwärtige Lage eher mit dem Vierteljahrhundert vor dem Beginn des Ersten Weltkriegs zu vergleichen als mit dem Jahr 1914 selber. Damals wie heute findet ein erbitterter Kampf um Märkte und Rohstoffe, aber auch um Bündnisse statt, die dem jeweiligen Imperialisten einen Vorteil verschaffen beziehungsweise Kontrahenten in die Enge treiben. Damals wie heute erleben wir Krisen und Konflikte, in die mehrere Großmächte involviert sind, ohne jedoch direkt die Waffen aufeinander zu richten. Das galt in der Vor-1914-Periode für die sogenannte „Krieg-in-Sicht-Krise“ (zwischen Deutschland und Frankreich) 1875, die Spannungen auf dem Balkan oder die Marokko-Konflikte. Damals wie heute sind wir Zeuge von „Stellvertreterkriegen“: ob die sogenannten Buren-Kriege (im heutigen Südafrika), die Waffengänge in Asien oder auf dem Balkan vor 1914. In der „Bulgarien-Krise“ wurden die Soldaten Serbiens und Bulgariens gezwungen, 1885 und 1887 aufeinander einzuschlagen – obgleich hinter diesen Gemetzeln die Ansprüche Österreichs und Russlands standen. Damals wie heute erleben wir Feldzüge in die unterentwickelten Länder. Allein das wilhelminische Kaiserreich tötete im sogenannten Deutsch-Ostafrika in den Jahren 1890 bis 1894 und 1905 bis 1907 120.000 Menschen und zerstörte Hütten und Felder.

Steuern wir folglich – mit der Einschätzung, dass die heutige Periode Parallelen zur Vor-1914-Zeitspanne bedeutet – auf einen neuen Weltkrieg zu? Gern wird dies mit dem Verweis auf den enormen Grad der Globalisierung bestritten – aber dieses Phänomen existierte bei allen offenkundigen Unterschieden (allen voran einer ganz anderen Stufe der technologischen Entwicklung) auch vor einem Jahrhundert und konnte die Massaker trotzdem nicht aufhalten.

Ein wesentlicher Faktor, der tatsächlich vor hundert Jahren nicht vorhanden war, stellt das riesige Atomwaffenarsenal dar. Damit würde ein weltweiter Krieg, also eine umfassende militärische Auseinandersetzung der führenden Mächte, sofort von der Gefahr einer nuklearen Katastrophe begleitet sein – womit die Kapitalisten unmittelbar die Auslöschung jeglicher Zivilisation und der eigenen Existenz riskieren würden. Weshalb in absehbarer Zeit nicht von einem neuen Weltkrieg auszugehen ist.

Dennoch gilt: Jedes durch Profitinteressen verursachte Todesopfer ist ein weiterer Grund, sich gegen dieses menschenverachtende System aufzulehnen. Zumal Clara Zetkins Worte auf dem außerordentlichen Kongress der Sozialistischen Internationale im November 1912 in Basel nichts von ihrer Gültigkeit eingebüßt haben: „Der Krieg ist nichts als die Erweiterung und Ausdehnung des Massenmordes, dessen sich der Kapitalismus auch im sogenannten Frieden zu jeder Stunde am Proletariat schuldig macht.“