USA: Kommt eine neue Linke?

Kshama Sawant AmtseinführungSozialistischer Wahlerfolg in den USA zeigt Suche nach Alternative und radikaler Veränderung

„Ich rufe alle auf, die bereit sind gegen das Programm der großen Konzerne Widerstand zu leisten, in Seattle und US-weit: Organisiert Euch!”, appellierte Kshama Sawant, neu-gewählte Stadträtin in Seattle bei ihrer Amtseinführung vor hunderten UnterstützerInnen. Missmutig ertrugen die ‚Honoratioren‘ der Stadt in der ersten Reihe den Appell der SozialistIn an eine begeisterte Menge: “Schließt Euch mit uns zusammen, um eine Massenbewegung aufzubauen für wirtschaftliche und soziale Gerechtigkeit, für eine demokratisch-sozialistische Veränderung, bei der die Ressourcen der Gesellschaft nutzbar gemacht werden können, nicht für die Gier einer kleinen Minderheit, sondern zum Wohl aller Menschen.”

von Kai Stein, CWI

Kshama Sawant kandidierte für Socialist Alternative, der Schwesterorganisation der SAV in den USA. Mit 93,000 Stimmen kickte die aktive Gewerkschafterin in der Stichwahl am 5. November 2013 ihren Opponenten nach 16 Jahren Amtszeit aus dem Stadtrat. Sie ist damit nicht nur die erste Sozialistin seit 100 Jahren in Seattles Kommunalvertretung. Sie ist auch die erste Kandidatin seit Jahrzehnten, die in den USA offen als Sozialistin antrat und gewählt wurde. “Ich trage das Label ‚Sozialistin‘ mit Stolz”, so Kshama Sawant. US-weit verbreiteten die Medien die Nachricht ihres Erfolgs.

Dieser linke Wahlsieg ist bislang einzigartig – aber keinesfalls ein isoliertes Phänomen. Ty Moore, ebenfalls Stadtratskandidat von Socialist Alternative, scheiterte in Minneapolis in einem Wahlkreis von 10,000 Haushalten, nur knapp gegen die von den Demokraten unterstütze Kandidatin. 229 Stimmen Vorsprung retteten die sich als Aktivistin für Latino- und Frauen-Rechte präsentierende Kandidatin. Tausende von US-Dollar der US-weiten Lobby der Makler (National Realtor Association) hieften sie als erste über die Ziellinie. Doch eine beeindruckende Kampagne ließ nicht nur die Linke in Minnesota aufhorchen. Sie half zu verdeutlichen, dass Kshama Sawants Erfolg nicht einfach mit den Besonderheiten Seattles abgetan werden kann.

In Lorain County in Ohio traten 26 KandidatInnen an als “Independent Labor Party”, unabhängige Arbeiterpartei. 24 wurden gewählt. Während Kshama Sawant und Ty Moore klar für den Aufbau einer Alternative zu den beiden Parteien der Konzerne – Republikaner und Demokraten – antraten, waren die Ohio Aktivisten noch noch etwas unschlüssig: “Unabhängig anzutreten war nicht unsere erste Wahl, aber hoffentlich kann das dazu beitragen, dass sich die Führer der Demokratischen Partei besinnen”, erklärt einer der Gewählten, der aktive Gewerkschafter und Maschinenschlosser Art Thomas. “Wenn nicht, dann haben wir ihnen gezeigt, dass wir mit unseren Freunden zusammen arbeiten und uns selbst wählen können”.

 Erdrutschsieg von de Blasio in New York

 Konstant verweisen die Gewerkschaftsspitzen und einflussreiche Verbände der Umweltschutz- und Anti-Kriegsbewegung auf die Demokratische Partei von Präsident Obama: Um das schlimmere Übel, die Republikaner, zu verhindern, um Einfluss zu behalten, um linkere KandidatInnen in der Demokratischen Partei zu unterstützen – immer ist es angeblich nötig, die liberalere der beiden pro-kapitalistischen Parteien gegen die konservativere zu unterstützen. Vielerorts sind die Gewerkschaftsapparate entscheidende Bastionen der Demokratischen Partei.

Kaum verwunderlich, dass sich die Hoffnung auf Veränderung daher auch oft noch auf verzerrte Weise durch die Demokraten äußert.

Am selben Tag, an dem die Urnen für Kshama Sawants Wahl geschlossen wurden, erzielte Bill de Blasio in New York einen Erdrutsschsieg. Damit stellen dort zum ersten Mal nach zwei Jahrzehnten die Demokraten wieder den Bürgermeister. In der inner-parteilichen Vorwahl der Demokraten startete De Blasio als Außenseiter. Aber in seiner links-populitischen Wahlkampagne machte er die wachsende Ungleichheit zum Thema, sprach über Klassenfragen. Er nannte Rassismus beim Namen, zum Beispiel den der New Yorker Polizei mit ihrer willkürlichen Taktik gerade Afroamerikaner “zu stoppen und zu durchsuchen” (“stop and frisk” Taktik).

Das brachte ihm am Ende einen Vorsprung von mehr als 40 Prozent vor seinem Republikanischen Gegenkandidaten, Joe Lhota – und einige Besorgnis der Herrschenden der USA. Nicht über de Blasio selbst. Er arbeitete verlässlich für die Regierung Bill Clintons. Er diente für Hillary Clinton als Kampagneleiter für ihre Wahl in den Senat im Jahr 2000. Aber für Unruhe in den Chefetagen Manhattans sorgten die Erwartungen die von de Blasio geweckt wurden und die ihn nun während seiner Amtszeit begleiten werden. Die von ihm bemängelte “Geschichte zweier Städte”, des reichen und des armen New York, wird nun der Maßstab politischen Handelns bleiben.

 Aufschwung nur für das oberste Prozent

 Hintergrund dieser Suche nach einer grundlegenden Alternative ist die Kluft, die sich auftut zwischen arm und reich, zwischen der Masse der Bevölkerung und einer kleinen, parasitären Gruppe von Kapitalisten, die zunehmend Schwierigkeiten hat selbst nur ihre Klasseninteressen über die individuellen Profitinteressen zu stellen.

Die Wirtschaftskrise führte Millionen vor Augen: “Capitalism has failed the 99%” – Kapitalismus versagt für 99 Prozent der Gesellschaft, so ein Slogan der Occupy Bewegung. Das politische System und die beiden Parteien dieses Systems werden zunehmend als das wahrgenommen, was sie sind: Nicht nur unfähig die Interessen der arbeitenden und armen Menschen zu verteidigen, sondern selbst nicht dazu in der Lage, das kapitalistische System einer Weltmacht im Niedergang funktionsfähig zu halten.

Fast ebenso wichtig für das aktuelle Bewusstsein wie die Krise war jedoch der fragile Aufschwung danach: Preisbereinigt stieg das Einkommen des obersten einen Prozent zwischen 2009 und 2012 um 31 Prozent, während das Realeinkommen für die unteren 40 Prozent um 6 Prozent fiel. Insgesamt beziehen nun beinahe 48 Millionen US-AmerikanerInnen Lebensmittelmarken vom Staat, um irgendwie über die Runden zu kommen.

Während Millionen zunehmend beobachten konnten, dass ihre Arbeit benötigt wird, um den Karren aus dem Dreck zu ziehen, bereichert sich eine kleine Finanzelite auf dreisteste Weise. Diese Kluft zwischen der wirtschaftlichen Erholung und der Lebensituation von Massen, der Aufschwung bei gleichzeitiger Dürre für den Lebensstandard – dieser Gegensatz schafft eine viel tiefergehende Unzufriedenheit, die mit dem Selbstbewusstsein gepaart ist, das die Arbeitenden der USA gerade in den letzten Jahren von zaghafter wirtschaftlicher Erholung entwickeln konnten.

 Occupy Wall Street

 2008 zeigte sich die Sehnsucht nach einer Alternative zu den düsteren George-W-Bush-Jahren in fast ekstatischen Hoffnungen auf Barack Obama. Sein Wahlkampf enthielt mit Massenrallies und Aktivistengruppen schon Elemente von Aktivierung neuer Schichten der Bevölkerung, wenn auch noch kanalisiert und missbraucht durch den Demokratischen Präsidentschaftskandidaten.

Auf die Tragödie der hochfliegenden Hoffnungen in Obama folgte die Farce: Die Tea-Party-Bewegung 2010 versuchte – anfänglich teils erfolgreich – den Unmut und auch gerade die Enttäuschung über den Präsidenten umzuleiten und für reaktionäre Ideen zu nutzen. Finanziert von Milliärdaren spielten christliche Fundamentalisten und Neoliberale Rechte “Graswurzel-Bewegung” – zurecht verspottet als “Astro-Turf”, Kunstrasen, und keineswegs Graswurzel.

Erst “Occupy Wall Street”, “Besetzt die Finanzmeile New Yorks”, brachte im Herbst 2011 mit einer Millionbewegung das zum Ausdruck, was lange gegärt hatte: Die Aktivierung von Millionen Menschen, die noch nicht so genau wussten, was sie genau wollten, die aber grundlegend benannten: Wir hier unten – die da oben, ein Riss geht durch die Gesellschaft und ohne die aktive Einmischung der Masse der arbeitenden und armen Bevölkerung wird sich nichts in ihrem Interesse ändern. “We are the 99%” – Wir sind die 99 Prozent.

Die Occupy Bewegung endete ohne erkennbare Erfolge. Aber sie veränderte das Bewusstsein weiter und hinterließ tiefe Spuren: Millionen ist seither klar, dass sie nicht allein sind mit ihrer Wut. Occupy gab noch keine Antworten auf Programm und Organisation einer neuen Protestbewegung. Aber Occupy stellte alle Fragen.

Oft wurde in Occupy argumentiert, man brauche keine Führung. Führer würden die Bewegung nur fehl leiten oder verraten. Das führte vielerorts zu ungewählten, nicht legitimierten Sprechern und Führern und neuen Problemen. Meist übernahmen jedoch AktivistInnen auf inspirierende Weise durchaus Leitungsfunktion, sammelten Erfahrung und blieben aktiv – und bekannt. Occupy brachte so AktivistInnen wie Kshama Sawant hervor, die für neue Anläufe der Gegenwehr und Organisierung so wichtig sind.

Einige ultra-linke Gruppen – unterstützt zum Beispiel vom sich marxistisch nennenden Philosophen Slavoj Žižek – argumentierten, dass die Bewegung keine Forderungen aufstellen sollte. Damit richte sie sich gegen das ganze System. Das machte die Bewegung am Ende zahnlos und perspektivlos.

Dort wo diesem “Rat” nicht gefolgt wurde, konnte am meisten von der Dynamik von Occupy gerettet werden: Studierende entwickelten aus Occupy an einigen Universitäten direkt eine Bewegung gegen Studiengebühren. Landesweit entstanden Gruppen von “Occupy Homes”, die sich gegen Zwangsversteigerungen und Räumungen verschuldeter HausbesitzerInnen wehrten – auch ganz praktisch mit Besetzungen. Ty Moores Kandidatur in Minneapolis konnte aus dieser Bewegung, Occupy Homes Minneapolis, enorme Verankerung und Kraft schöpfen.

Die “Fight for $15” Bewegung, für eine Erhöhung des Mindestlohns von US-weit $7,25 auf $15 pro Stunde, ist inspiriert von Occupy. Und wurde zur Basis für Kshama Sawants Erfolg.

Parallel zu den Auswirkungen von Occupy stieg die Entfremdung zu den beiden Parteien des Establishment weiter an. Im Oktober 2013 sagten 60 Prozent in einer US-weiten Umfrage, dass eine “Dritte Partei”, eine Alternative zu Demokraten und Republikanern, nötig sei. Nur 26 Prozent denken, dass die beiden großen Parteien die US-AmerikanerInnen adäquat vertreten – ein neuer Tiefstand. Zu diesem Zeitpunkt trieben die Auswirkungen des “Governmental Shutdown”, der vorübergehenden Stilllegung des US-Föderal-Staates wegen des Haushaltsstreits zwischen Republikanern und Demokraten, die Zustimmung zu den Parlamenten im Kongress völlig in den Keller.

Während die Demokraten sich danach noch in engen Grenzen als Sieger fühlen konnten (den Republikanern wurde mehr Schuld an der Blockade in Washington zugeschrieben), legte das Desaster rund um die Obamacare-Einführung ihre Unfähigkeit offen und schickte Obamas Sympathiewerte in neue Tiefen. Die Website zur Einführung dieser Gesundheitsreform – gepriesen als Kernstück wie unbürokratisch und einfach diese Reform sei – war über Monate nicht funktionsfähig. Das Problem geht jedoch tiefer: Obamas “Affordable Care Act” ist der zum Scheitern verurteilte Versuch, die Hoffnungen von Millionen auf eine anständige Krankenversorgung mit den Mitteln des Marktes zu befriedigen. Arbeitende und Arme sollen zu zahlenden Zwangsmitgliedern bei privaten Versicherungskonzerne gemacht werden und deren Profite garantieren.

 Krise der Gewerkschaften

 Konträr zu allem Unmut und den Occupy-Protesten setzte sich der Niedergang gewerkschaftlicher Gegenmacht fort. Trotz all der Wut und Unzufriedenheit, der gewerkschaftliche Organisationsgrad in den USA fiel im Jahr 2012 auf 11,3 Prozent – der tiefste Stand seit 1916.

Anti-Gewerkschaftsgesetze machen den Beschäftigtenorganisationen zu schaffen. In Orwellscher Sprachverdrehung gelten nun in 23 Staaten “Right to work”-Gesetze, Gesetze die nicht das “Recht auf Arbeit” sichern, sondern die finanzielle Basis der Gewerkschaften in den USA zerschlagen sollen. Beispiel Autokonzerne: frühere Vorzeige-Betriebe der Stärke der Arbeiterbewegung schlossen Werke im gewerkschaftlich starken Norden und eröffneten neue im Süden der USA, um gewerkschafts-freie Fabriken zu garantieren. Löhne und Arbeitsbedingungen wurden damit sturmreif geschossen.

Während zahlreiche GewerkschafterInnen sich dagegen auflehnten und Gegenwehr organisierten, akzeptierte ein viel zu großer Teil gerade der Spitzengewerkschafter diesen Niedergang. Immer wieder wurden die Hoffnungen auf eine Trendwende auf die Demokraten gerichtet – und endeten in bitteren Enttäuschungen und Niederlagen.

In den Gewerkschaften selbst spiegelt sich der Graben der Gesellschaft: Die Top Ten der Gewerkschaftsbosse der USA finden sich mit ihrem Einkommen von durchschnittlich $400,000 (2011) tatsächlich unter dem Top einen Prozent der SteuerzahlerInnen. Das erklärt manche politische Entscheidung und macht manche Skepsis, Wut und Entfremdung von Beschäftigten gegenüber den Gewerkschaften verständlich.

Der Niedergang der letzten Jahrzehnte führt nun aber auch zu einem Aufbäumen, gewerkschaftlich und politisch, gegen die Hörigkeit zugunsten der Demokraten.

Fast-Food Beschäftigte begehren auf

 Einer der größten Erfolge der Occupy-Bewegung war die Ermutigung vieler AktivistInnen endlich dagegen zu halten. Ökonimisch gestärkt auch vom viel-beschworenen wirtschaftlichen Aufschwung, enttäuscht nichts davon abzubekommen, setzen sich die untersten Schichten der arbeitenden Bevölkerung in Bewegung. Es sind nicht die Schwächsten in der Gesellschaft. Es sind die trotz Arbeit Armen. Es geht um diejenigen, die realisieren, dass vom amerikanischen Traum nicht viel bleibt, wenn man bei zwei oder drei Jobs kaum zum Schlafen kommt. Es dreht sich um die jungen Beschäftigten, die klar sehen: Es soll ihnen schlechter gehen als ihren Eltern, trotz Ultra-Reichtum an der Spitze der Gesellschaft.

Viele von ihnen kommen auch aus Latino-Familien, in denen Immigration eine große Rolle spielt. Elf Millionen Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus werden genutzt, um noch die schlecht-bezahltesten Jobs zu besetzen und den Druck auf Löhne generell zu erhöhen. Wenn ArbeiterInnen ohne Papiere aufmucken, haben sie noch weniger Schutz als andere Arbeitende.

Doch auch hier gibt es wachsenden Widerstand und Hoffnungen auf einen legalen Aufenthaltsstatus, die über die zaghaften Reformvorschläge der Demokratischen Partei hinaus gehen, für die Obama und Co nicht einmal bereit sind zu kämpfen. Es sind oft die gleichen Schichten von Arbeitenden, die sich am engagiertesten für Migrantenrechte und eine deutliche Erhöhung des Mindestlohn einsetzen.

Die SEIU, Service Employees International Union, und andere, auch kleinere Gewerkschaften ergriffen Initiativen gegen die Super-Ausbeutung. Wegen der Anti-Gewerkschaftsgesetze nicht direkt, aber durch Unterstützergruppen wie “Our Walmart” oder Arbeiterzentren (losen, formal nicht-gewerkschaftlich tätigen Beratungs- und Austauschzentren), Aktivistengruppen und mit Solidaritätsaktionen wurde versucht, Supermarkt-Beschäftigte, Fast-Food-Beschäftigte, Reinigungskräfte und viele mehr zu unterstützen und mittelbar zu organisieren.

Aus diesen Protesten heraus gingen die Fast-Food-Beschäftigten in New York mit einer selbstbewussten Forderung nach $15 pro Stunde in die Offensive. Gegenüber einem US-weiten Mindestlohn von $7,25 brachte der Kampf für $15 den neuen Trotz und Stolz zum Ausdruck, der die neue Bewegung “Fight for $15” stark macht.

Vergleichbar etwa mit den Einzelhandelsstreiks in Deutschland handelte es sich durchgängig um Streiks von Minderheiten der Arbeitenden. Die ökonomischen Auswirkungen auf die Bosse blieben begrenzt. Doch die politische Unterstützung für diese Bewegung, Solidaritäts-Flashmobs und Proteste drückten die Wut viel breiter Schichten aus und gaben entscheidenden Rückenwind.

Die Wahlkampagne von Socialist Alternative in Seattle, die Kshama Sawant in den Stadtrat katapultierte, machte diese Forderung nach $15 pro Stunde zum Kern der Debatten im gesamten Wahlkampf. Ein “erschwingliches Seattle” wurde propagiert, durch Mindestlohn, Mietkontrollen und Steuern auf die Super-Reichen, um Bildung und öffentlichen Transport zu finanzieren.

Markenzeichen der Kampagne waren die roten T-Shirts mit der Forderung nach $15 pro Stunde.

Selbst die Bürgermeister-Kandidaten in Seattle, beide von der Demokratischen Partei, mussten sich halbherzig für $15 aussprechen – und der Wahlsieger kämpft nun mit seinem Versprechen, will alles über Jahre verzögern und mit Ausnahmen durchlöchern.

Für den Aufbau der Arbeiterbewegung – gewerkschaftlich und politisch – kann die Forderung nach einer drastischen Erhöhung des Mindestlohn in den USA aktuell eine ähnliche Rolle spielen, wie die Forderung nach dem 8-Stunden-Tag vor über 100 Jahren. Mit ihr werden KollegInnen gegen einzelne Arbeitgeber aktiviert, mit ihr richtet sich eine verallgemeinerte Forderung nach staatlicher Regelung gegen die Interessensvertreter des Kapitals, mit ihr wird die Notwendigkeit über die Zwänge des Profitsystems hinaus zu gehen immer wieder sichtbar.

 Beispiel Seattle

 Die Wellen, die Kshama Sawants Wahlsieg erzeugte, haben schon jetzt die Linke in den USA und AktivistInnen der Arbeiterbewegung elektrifiziert.

Als Kshama unmittelbar nach dem Wahlsieg gegen die Erpressung der Boeing-ArbeiterInnen durch ihre Bosse wetterte, war ihre Forderung nach Überführung des Werks in öffentliches Eigentum die Nachricht auf allen linken Kanälen quer über den Kontinent. Eine gewählte Aktivistin, die sich nicht dafür entschuldigt, Sozialistin zu sein – das ist bahnbrechend.

Der nächste Schlag ist das von Kshama und Socialist Alternative entworfene und verbreitete Konzept, eine Massenbewegung in Seattle aufzubauen, 15NOW.org. Mit Veranstaltungen und Protesten wird der Druck hoch gehalten und das Thema Mindestlohn befeuert. Wenn der Stadtrat beim Thema Mindestlohn nicht bis April 2014 liefert, werden bis Juni zehntausende Unterschriften gesammelt, um für den November eine Volksabstimmung für $15 pro Stunde durchzusetzen. Schon jetzt werden die Weichen auf “Neighborhood Action Groups” – Nachbarschaftsaktions-Gruppen – gestellt: AktivistInnen werden zusammen gebracht, “Neighborhood Captains” geschult, um Argumente und organisatorisches Handwerkszeug für hunderte von lokalen Gruppen vorzubereiten. Gewerkschaftsmitglieder sind begeistert und örtliche Gewerkschaftsstrukturen zum Beispiel der SEIU eng eingebunden.

Dieser Ritt wird nicht einfach: Im benachbarten SeaTac, einer Stadt mit 28.000 EinwohnerInnen rund um den Flughafen Seattles, brachten die Konzerne rund eine Million US-Dollar auf, um ein ähnliches Volksbegehren letzten November zu verhindern. Die Initiative war trotzdem erfolgreich, wenn auch äußerst knapp. Sie wird nun von der Hoteliersvereinigung und der Fluglinie Alaska Airlines vor Gericht bekämpft. Das unterstreicht, dass es auf den Aufbau der Nachbarschaftsgruppen und gewerkschaftlicher Strukturen und Kommitees ankommt, um nicht nur erfolgreich den Kampf voran zu bringen, sondern auch um jeden Schritt zur Durchsetzung erkämpfter Verbesserungen danach zu verteidigen.

Es ist noch offen, ob der Bürgermeister und die Unternehmer Seattles aus Angst vor einer solchen Bewegung zu Zugeständnissen bereit sein werden. Zahlreiche Akteure für ein schlagkräftiges Bündnis müssen zusammen gehalten werden und manche der Gewerkschaftsführer sind unsichere Kantonisten. Aber die jetzigen Vorbereitungen werden auf jeden Fall die Verhältnisse in Seattle nachhaltig verändern und für zukünftige Bewegungen als Ausgangspunkt dienen können.

Allen ist klar: Sollte dieser Kampf tatsächlich so auf den Weg gebracht werden, dann hat das nationale Bedeutung. Socialist Alternative setzt sich daher auch dafür ein, 15NOW.org US-weit aufzubauen und breite Unterstützung zu gewinnen.

All das vertieft die Wirkung des sozialistischen Wahlsiegs in Seattle. Es gibt eine gewisse Vorstellung, was möglich wäre, wenn nicht nur Kshama Sawant, sondern eine ganze Reihe von Abgeordneten vorhanden wären, die sich im Interesse von Beschäftigten, Jugendlichen und Armen gegen Kapitalismus, Rassismus und Ausbeutung koordinieren würden. Die Vorstellung, was einen breite Arbeiterpartei mit sozialistischem Programm in den USA erreichen könnte, wird plötzlich zumindest ansatzweise begreifbar.

 Sozialistische Ideen im Herzen des Kapitalismus

 Sichtbar wird auch: Sozialistische Ideen sind für viele eine neue Option. Ironischerweise tat die rechte Tea-Party-Bewegung einiges, sie interessant zu machen: Immer wieder wurde Obama als Sozialist beschimpft. Obama wehrt sich im November 2013: “Manchmal bezeichnen mich Leute als Sozialist. Aber, nein, man muss wirkliche Sozialisten treffen. Man bekommt einen Sinn dafür, was ein Sozialist ist”, und zum Beweis legte der US-Präsident nach: “Ich rede darüber die Unternehmenssteuern zu senken. Meine Gesundheitsreform basiert auf dem privaten Markt. Der Aktienmarkt sah doch recht gut aus als ich das letzte Mal nachgeschaut habe.”

Doch die konstanten Angriffe der reaktionären Rechten hatten durchaus eine Wirkung: Gesundheitsversorgung, Eingreifen des Staates für Bildung, soziale Absicherung und Renten, all das wurde immer wieder als sozialistisch bezeichnet – und klang am Ende doch recht verlockend. Damit ist noch nicht klar, was Sozialismus ist oder ausmacht. Aber während Obama nicht lieferte, was Millionen erhofften, richtete sich der Blick mehr und mehr auf grundlegend andere Lösungen. Nach Umfragen hatten Ende 2011 mehr der 18- bis 29-jährigen eine positive Sicht auf “Sozialismus” als eine negative (49 Prozent gegenüber 43 Prozent) – und das in den USA nach Jahrzehnten von anti-sozialistischer Propaganda.

 Gewerkschaften und der Aufbau einer Alternative zu den Demokraten

 Damit aus dem Potential für eine neue Arbeiterpartei ein tatsächlicher Ansatz entsteht, sind SozialistInnen, AktivistInnen aus Gewerkschaften und Bewegungen und viele neu-politisierte Menschen gefragt. Ein Schlüssel hätten die Gewerkschaften, mit ihren Ressourcen eine solche Partei voran zu bringen.

In Minneapolis unterstützte zum Beispiel die SEIU aktiv die Kampagne für Ty Moore. Hausbesuche wurden organisiert und logistische Hilfe gegeben, um massenhaft Telefonate für Ty zu ermöglichen. Politisch brach der State Council der SEIU (oberstes Gremium der SEIU in Minnesota) mit seiner Unterstützung für Ty mit dem Monopol der Demokratischen Partei auf Unterstützung. Das kann als Beispiel dienen, dem andere Gewerkschaften folgen sollten, statt Jahr für Jahr den Demokraten Millionen hinterher zu werfen.

In Seattle waren es vor allem kleinere Gewerkschaften, die Kshama Sawants Kandidatur unterstützten. Doch mittlerweile kann sich kaum eine Gewerkschaft dem Schulterschluss mit Kshama entziehen. Zukünftige Kandidaturen werden es viel leichter haben, die Unterstützung der Gewerkschaften zu gewinnen.

All das ist noch kein allgemeiner Bruch mit der Demokratischen Partei. Für viele WählerInnen, aber auch gewerkschaftliche AktivistInnen und selbst UnterstützerInnen der beiden Kampagnen in Seattle und Minneapolis, ging die Unterstützung für die beiden SozialistInnen Hand in Hand mit der Wahl, zum Teil auch mit dem Einsatz für linkere Demokraten in anderen Wahlkämpfen.

Entscheidend für Socialist Alternative war, dass die Kampagnen sich klar für den Aufbau einer Alternative zu beiden Parteien der Bosse positionierten, keinerlei Geld von Konzernen akzeptierten und politisch völlig unabhängig von den Demokraten und Republikaner agierten. Während zahlreiche linke AktivistInnen der Demokratischen Partei Sawant unterstützten (und sogar “Democrats for Sawant” gründeten), blieb Kshama und Socialist Alternative glasklar: Die Unterstützung wurde gerne angenommen, aber keinerlei Unterstützung andersherum für linke Demokraten ausgesprochen. Der Bruch mit den Demokraten war nicht Vorbedingung für die Unterstützung von Kshama oder Ty. Aber jedem der mitarbeiten wollte, jedem Beobachter allgemein, war völlig klar, dass es darum ging eine Alternative zu beiden Parteien der Wall Street aufzubauen.

Mit diesem Vorgehen gelang es, zum Beispiel in den Gewerkschaften die größtmögliche Unterstützung und Klärung der politischen Fragen voran zu treiben. Während der King County Labor Council, die für Seattle zuständige Gliederung des Gewerkschaftsdachverbands AFL-CIO, sich noch im Sommer 2013 eindeutig für Kshama Sawants Kontrahenten aussprach, stimmten im Oktober 28 gegen 21 Delegierte dafür, Kshama Sawant zu unterstützen. Das war nicht genug, für die nötige Zwei-Drittel-Mehrheit, um formal den Beschluss zu kippen. Doch es war Ausdruck des Einflusses, den die Kampagne in Labor, in der Gewerkschaftsbewegung, bis dahin aufbauen konnte.

Erneut sind dies nur lokale Beispiele, wie das blinde Nachtrotten der Gewerkschaften hinter den Demokraten aufgebrochen werden konnte. Aber es ist ein Vorgeschmack welche Schlachten sich dort in naher Zukunft entwickeln können – und welche Rolle SozialistInnen spielen, wenn sie mit der richtigen Taktik die Demokraten herausfordern und stellen.

 Links-populistische und linke Kandidaten und Formationen

 Millionen sind vom System entfremdet und von den Versprechungen des amerikanischen Traums enttäuscht. Die ausgebeutetsten Schichten der Arbeiterklasse setzen sich in Bewegung für Migrantenrechte und vor allem für einen Lohn, der zum Leben reicht. Wie kann daraus eine neue politische Kraft entstehen?

Als Socialist Alternative nach Occupy argumentierte, 100 Kandidaten von Occupy sollten bei den Wahlen antreten, um die Wut und Unzufrieden in ein alternatives Angebot umzuwandeln, wurde das leider nicht aufgegriffen. Aber Socialist Alternative trat selbst an, mit den eigenen sehr bescheidenen Möglichkeiten. Und nun steht das schlagkräftige Argument von Kshama Sawants Erfolg und wie er genutzt werden kann im Raum. Die Linke beginnt aufzuwachen, AktivistInnen sind ermutigt.

Die Stärke der Wahlkampagnen von Socialist Alternative in Seattle und Minneapolis kam von einem sozialistischen Programm, das in der Lage ist, die arbeitenden Menschen gegen Wall Street zu verteidigen. Und sie basierten auf dem richtigen Verständnis der objektiven Lage, dass die Wut und Entfremdung, die Occupy sichtbar gemacht hatte, nach wie vor vorhanden war und ist. Soziale Spannungen steigen. Trotz des fragilen Aufschwungs realisieren Millionen, dass das wirtschaftliche und politische System nicht funktioniert.

Rechtspopulistische Kräfte und “libertäre” Kräfte (Ultra-Neoliberale, anti-Staats-Verfechter) versuchen in das politische Vakuum vorzudringen, das die Entfremdung von Republikanern und Demokraten hinterlässt.

Doch alle Anzeichen deuten darauf hin, dass die Hauptentwicklungsrichtung für die kommenden Monate und Jahre eine Suche nach linken Alternativen sein wird.

Wo entschlossene und klar sozialistischer Angebote gemacht werden, wie in Seattle und Minneapolis, kann dies zum Ausgangspunkt werden, eine Interessensvertretung der ArbeiterInnen und Armen aufzubauen.

Verschiedene Faktoren verkomplizieren die Entwicklung allerdings: Die organisierte Linke ist schwach. Socialist Alternative kann rasant wachsen, aber unmittelbar nur begrenzt Beispiele setzen. Die UnterstützerInnen der Demokraten dominieren die Gewerkschaften. Viele Beschäftigte und Jugendliche machen sich auf die Suche nach neuen, linken Ideen, aber der Ausgangspunkt ist noch von viel Konfusion geprägt.

Doch das politische Vakuum entfaltet enorme Kraft, Alternativen sichtbar zu machen. Rund um die “mid-term elections”, die US-weiten Kongress-Wahlen im November 2014 in der Mitte von Obamas zweiter Präsidentschaft, sind linke, eher mehr noch linkspopulistische Versuche a la de Blasio wahrscheinlich. Dies kann sich vielerorts in einer Polarisierung in der Demokratischen Partei ausdrücken, wird aber auch zunehmend – angespornt von den eingangs erwähnten Beispielen – auch außerhalb der etablierten Parteien, von “unabhängigen” Kandidaten aber auch von linkeren Versuchen begleitet werden.

Bernie Sanders, sozialistischer Senator aus Vermot, spielte Ende 2013 mit der Idee einer eigenen Kandidatur für die kommende Präsidentschaft 2016. Das könnte nur ein Versuch von ihm sein, auf die Demokratische Partei Einfluss zu nehmen, um dort eine linkere KandidatIn zu unterstützen. Es könnte aber auch die Tür öffnen für eine spannende neue Debatte über sozialistische Alternativen. Bernie Sanders selbst kandidierte immer nur als “Unabhängiger” und arbeitete Hand in Hand mit den Demokraten. Doch sollte er tatsächlich als dritter Kandidat ins Rennen einsteigen, ginge die Bedeutung weit über das hinaus, für was er selbst programmatisch steht.

Das ist noch Zukunftsmusik. Doch aus solchen Kandidaturen, aus den Kämpfen zum Beispiel für $15, aus kommenden Bewegungen a la Occupy werden neue Formationen, mit linkspopulistischen oder linken Inhalten entwickeln.

Trotz bislang zahlenmäßig kleiner Kräfte ist Socialist Alternative extrem gut aufgestellt, um in diese Prozesse einzugreifen: Für eine klare Ausrichtung auf die Vertretung der Interessen der Arbeiterklasse, für ein sozialistisches Programm zur Beendigung der kapitalistischen Misere und für Forderungen, die den Kampf hier und heute mit der grundlegenden Umwälzung der Gesellschaft in den USA und international verbinden. Ermutigende Aussichten.

Kai Stein ist Mitglied des Internationalen Sekretariats des CWI und hat aktiv an der Wahlkampagne teilgenommen.