Welche Kräfte sind im Land am Werk?Vorbemerkung der Redaktion: Dieser Artikel wurde in der März-Ausgabe der „Solidarität“ veröffentlicht. Verfasst wurde er am 20. Februar. Nach Redaktionsschluss der Zeitung überschlugen sich in der Ukraine die Ereignisse. Von daher ist dieser Artikel im Bezug auf die aktuellen Entwicklungen überholt. Wir veröffentlichen ihn aber trotzdem, weil der Artikel sich stark mit den Hintergründen des Konflikts beschäftigt und die verschiedenen beteiligten Kräfte analysiert. Von daher ist der Artikel weiter von Bedeutung.
von Dima Yansky, Aachen
Für einen außenstehenden Betrachter erscheinen die Ereignisse in der Ukraine sehr verwirrend.
Die Massenmedien präsentieren uns ein altbekanntes Schwarz-Weiß-Schema, wonach europatreue Demokraten gegen korrupte, pro-russische Regimeanhänger kämpfen. Liest man einige linke Blätter, entsteht der Eindruck, dass die Faschisten bald in der Ukraine an die Macht kommen. Es ist nicht einfach, in diesem Chaos die Haupttendenzen herauszuarbeiten und sich politisch richtig zu positionieren. Die Situation wird dadurch erschwert, dass es im Augenblick keine politischen Kräfte in der Ukraine gibt, welche einen klaren Klassenstandpunkt einnehmen. Was also geschieht in der Ukraine? Ein faschistischer Putsch? Oder doch eine radikale Demokratisierung der Gesellschaft?
Armenhaus Europas
Wie die meisten poststalinistischen Länder ist die Ukraine von Widersprüchen und Gegensätzen zerrissen. Der größte Reichtum des Landes und alle industriellen Anlagen befinden sich in den Händen einer kleinen Oligarchenclique (die zehn reichsten Ukrainer verfügen über fast 70 Milliarden Euro). Die Arbeiterklasse und die Armen formen zusammen eine extrem heterogene Gemeinschaft: Im Osten und Süden des Landes konzentrieren sich die Beschäftigten in riesigen Industrieanlagen, die sich auf den Export nach Russland spezialisieren. Im Westen gibt es viele Saisonarbeiter, die in der Landwirtschaft tätig sind. Millionen von Westukrainern trifft man in Spanien und Portugal, in England und Italien an, wo sie meistens als niedrigqualifizierte Lohnabhängige tätig sind. Die ehemals reiche Republik ist nach 20 Jahren Kapitalismus zum Armenhaus Europas verkommen.
Russland und der Westen
Von dem Tsunami der Wirtschaftskrise ist kaum ein Land der ehemaligen Sowjetunion verschont geblieben. Die exportabhängige Ukraine, deren Wirtschaft auf die Ausfuhr von landwirtschaftlichen Produkten und Metallen basiert, wurde besonders hart getroffen. Das Land hangelt sich von einem Kredit zum nächsten.
Der aufstrebende russische Imperialismus war bereit, die ukrainischen Kapitalisten zu unterstützen. Natürlich nicht umsonst. Russische Banken und Ölkonzerne, welche intensiv nach Möglichkeiten des Kapitalexports suchen, würden die Ukraine gern in eine gemeinsame Wirtschaftszone integrieren. Was letztendlich nichts anderes bedeutet, als der Ukraine einen halbkolonialen Status zu geben.
Die Interessen des Westens sind nicht so eindeutig. Erstens: Es gibt keine klar abgestimmte, gemeinsame Linie seitens der Europäischen Union (EU) und den USA, was durch den berühmten Ausspruch „Fuck the EU“ der US-Diplomatin Victoria Nuland bestätigt wurde. Zweitens: Selbst die europäischen Bourgeoisien haben keine einheitliche Position. Die Ukraine „zu demokratisieren“, sprich für das europäische Kapital zu öffnen, wäre zwar nicht schlecht, aber wer trägt dann die Kosten? Die Herrschenden Europas und die Brüsseler Bürokraten sind nicht bereit, Milliarden und Abermilliarden Euro in die Rettung einer 45 Millionen Menschen großen Nation zu investieren.
Charakter der Massenproteste
Die Straßenschlachten sind den herrschenden Cliquen der Ukraine und den imperialistischen Blöcken außer Kontrolle geraten. Es wäre naiv zu denken, dass Vitali Klitschko, Angela Merkel, Francois Hollande, Arsenij Jazenjuk oder Wladimir Putin entscheiden können, ob es zu einer Radikalisierung der Kämpfe kommt oder nicht. Die Hunderttausenden auf dem Maidan oder auf anderen Straßen oder Plätzen orientieren sich eher an den radikalsten Gruppen, die scheinbar konsequent und zielgerichtet agieren. Leider, auf Grund des Versagens der Linken, übernehmen diese Rolle oft extrem nationalistische oder sogar offen faschistische Kräfte. Sie haben tausende Kader mobilisiert und nach Kiew entsandt, sie waren zur Konfrontation mit der Polizei bereit und letzendlich dafür, ihr Leben zu geben.
Dennoch wäre es falsch, die Energie von hunderttausenden Protestierenden mit dem politischen Programm des faschistischen Abschaums zu identifizieren. Die Menschen haben es satt, von korrupten Cliquen regiert zu werden, unter der Willkür der Polizisten und Beamten zu leiden, keine Perspektive zu haben. Hätten die radikalen Linken zwei-, dreihundert organisierte Aktivistinnen und Aktivisten, welche ihre ihre Ideen auf dem Maidan verteidigen könnten, könnten sie an Unterstützung gewinnen.
Die Situation in der Ukraine zeigt nochmal, wie wichtig eine konsolidierte, sozialistische Organisation ist. Ohne die Existenz einer solchen werden die Massen von den Nationalisten und Liberalen verwirrt und desorientiert.
Janukowitsch-Diktatur, neoliberales pro-westliches Regime …
Was würde passieren, falls Viktor Janukowitsch mit Hilfe der Armee die Proteste zerschlagen sollte? Politisch könnte es die Installierung einer bonapartistischen Diktatur bedeuten, sowie die Beseitigung demokratischer Rechte. Das Land würde sehr wahrscheinlich in eine politische und finanzielle Abhängigkeit des russischen Kapitals geraten. Die Arbeiterklasse würde dann für die „Stabilisierung“ und für die Kredite mit Blut und Tränen bezahlen. Nicht auszuschließen wären starke Autonomiebestrebungen der westukrainischen Gebiete und vielleicht sogar ein „kalter Bürgerkrieg“ im Westen des Landes.
Was aber würde passieren – auch wenn es unrealistisch erscheint -, wenn der Janukowitsch-Clan seine Macht friedlich abgeben würde? Es würde eine neoliberale, pro-westliche Regierung die Macht erlangen, die allerdings mit extrem nationalistischen Kräften paktieren müsste. Die Ukraine wäre weiterhin auf Kredite aus dem Westen oder Russland angewiesen. Die einzige Möglichkeit, diese Berge von Schulden zu begleichen, würde darin bestehen, die Preise für Gas und Strom zu erhöhen, die sozialen Ausgaben gnadenlos zu kürzen und eine galoppierende Inflation zu riskieren.
Vor zehn Jahren , nach der „orangenen Revolution“, musste Janukowitsch schon einmal abtreten. Aber es spricht Bände, dass die damalige Regierung von Viktor Jutschenko (und unter Beteiligung von Julia Timoschenko) sich nur eine Amtszeit halten konnte. Ein neuerlicher Regierungswechsel würde heute automatisch zu neuen sozialen Spannungen führen und die Nazi-Banden erneut auf den Plan rufen. Und da in der Ukraine die nationale Frage von besonderer Bedeutung ist, könnte man, genau wie heute in Ungarn, bestimmte ethnischen Gruppen zum Sündenbock machen.
… oder Bürgerkrieg?
Leider ist die Variante eines offenen Bürgerkriegs auch nicht auszuschließen. Die Soldaten und Armeegeneräle scheinen ziemlich demoralisiert zu sein. Einige Soldaten haben ihre Waffen an die Protestierenden abgegeben, einige sind offen auf die Seite des Widerstands gewechselt. Mittlerweile ist die Opposition mit Tausenden von Kleinwaffen und sogar Granatwerfern bewaffnet. Dennoch stehen die Verbände der Sonderpolizei noch auf der Seite der Regierung. Nicht zu vergessen, dass die Ukraine ein multiethnisches, buntgemischtes Land ist. Es ist noch nicht klar, wie die Bevölkerung der großen russischsprachigen Städte im Süden und Osten des Landes auf die Radikalisierung des Konflikts reagieren wird. Das Szenario des Jugoslawien-Kriegs ist leider nicht auszuschließen. Im Übrigen befindet auf der Krim der größte Stützpunkt der russischen Schwarzmeerflotte. Die „Balkan-Variante“ würde auch die aktive Teilnahme der russischen Nationalisten und Imperialisten an dem Konflikt beinhalten.
Alternative?
Ganz gleich, wie die Situation sich entwickeln wird: Ohne eigene Organisationen (unabhängige Gewerkschaften und eine politische Interessenvertetung der arbeitenden Bevölkerung) sowie eigenes Programm wird die Arbeiterklasse immer der Verlierer sein. Ein Programm, welches die Forderungen nach Abschaffung des Präsidentenpostens, Auflösung des Parlaments, Ausrufung einer verfassungsgebenden Versammlung beinhalten würde, wäre das einzige Programm, was einen Ausweg weisen könnte. Die Erfahrungen der Protestierenden in Griechenland, Spanien und Portugal zeigen, dass eine Anbindung an die EU – was im Augenblick Millionen von Ukrainern als einzige Rettung ansehen – nur eine Falle darstellen würde. Wichtig wäre es zudem, die Abschreibung der ukrainischen Schulden zu fordern sowie für die Überführung aller großen Betriebe und Banken – unter demokratischer Kontrolle und Verwaltung der arbeitenden Bevölkerung – einzutreten. Und dafür, dass endlich alle Ressourcen des Landes zum Wohle der Mehrheit genutzt werden.