Schwellenländer in der Finanzkrise

systemwechselAn der Schwelle zum Absturz?

In den letzten Wochen haben sich in einer Reihe von „Schwellenländern“ die Finanzprobleme zugespitzt. Der Begriff „Schwellenländer“ wurde vor vielen Jahrzehnten geprägt und sollte Länder bezeichnen, die sich an der Schwelle vom Entwicklungs- zum Industrieland befanden. Seitdem sind viele dieser angeblichen Industrieländer-Kandidaten wieder abgestürzt. Das kann auch den von der aktuellen Krise betroffenen Ländern passieren.

von Wolfram Klein, Plochingen bei Stuttgart

Brasilien, Südafrika, die Türkei, Indien und Indonesien wurden schon zu den „fragilen Fünf“ ernannt. Aber zahlreiche weitere Länder wurden schon von den Krisenausläufern getroffen.

Die bürgerlichen Medien schwanken, ob sie den Zusammenhang der Krisen mit der Weltwirtschaft aufzeigen sollen oder alles als hausgemachte Probleme abtun sollen. Es ist klar, dass z.B. die innenpolitische Krise der Türkei (im Frühsommer die Gezipark-Proteste, seit Herbst der Machtkampf zwischen Erdogan und der Gülen-Bewegung) auch wirtschaftliche Auswirkungen hat. Ähnliche Gründe lassen sich für betroffene Länder von Argentinien über die Ukraine bis Thailand leicht finden – aber das erklärt nicht, warum eine Reihe von Ländern auf verschiedenen Kontinenten zur gleichen Zeit ähnliche Finanzprobleme bekommt.

Weltwirtschaftliche Zusammenhänge

Tatsächlich ist der Zusammenhang mit der Weltwirtschaft unübersehbar: Verschiedene Notenbanken, allen voran die mächtigste Notenbank, die Fed in den USA, reagierten auf die Wirtschafts- und Finanzkrise ab 2007 mit einer Senkung der Zinsen praktisch bis auf Null und eine Ausweitung der Geldmenge („quantitative Lockerung“, die moderne Form des Gelddruckens). Damit sollten Banken angeregt werden, Unternehmen und VerbraucherInnen großzügig und billig Kredite zu vergeben. So sollte die Wirtschaft angekurbelt werden. Das ging aber gründlich schief. Wegen der hohen Verschuldung waren die Banken zögerlich bei der Kreditvergabe. Weil die Wirtschaft nicht in Fahrt kam, hatten Unternehmen wenig Veranlassung, ihre Produktion auszuweiten (und Banken wenig Grund, dafür Kredite zu bewilligen). Statt dessen ging ein großer Teil der zusätzlichen Geldmenge in die Spekulation.

Ein weiterer Teil ging aber in verschiedene Schwellenländer, laut IWF seit 2009 4 Billionen US-Dollar. Dort waren die Zinsen höher, so dass Investoren Geld mit niedrigen Zinsen leihen und mit höheren Zinsen anlegen konnten. Den Ländern ermöglichte der Geldzufluss ein Zahlungs- und Handelsbilanzdefizit. Sie importierten deutlich mehr als sie exportierten. Das Handelsbilanzdefizit der Türkei z.B. betrug 2013 65 Milliarden Dollar oder 8% des Bruttoinlandsprodukts. Dadurch konnten Industrieländer wie Deutschland diesen Ländern gegenüber Exportüberschüsse haben und den Rückgang der Exporte nach Südeuropa ausgleichen. Der Kapitalzufluss führte auch dazu, dass die Landeswährungen gegenüber Dollar oder Euro relativ stark waren. (Wenn Dollar oder Euro ständig in diese Währungen umgetauscht werden, ist die Nachfrage nach den Schwellenländerwährungen hoch, ihr Devisenkurs steigt.) Das machte die Länder für Investoren noch attraktiver, die nicht nur von höheren Zinsen, sondern auch von Kursgewinnen profitierten. Diese Party konnte nur so lange dauern, wie die Politik des billigen Geldes anhielt.

Die Fed fährt den Anleiheaufkauf zurück

Schon im Mai 2013 führte die Ankündigung des damaligen Fed-Chefs Bernanke, die Anleihekäufe (durch die die quantitative Lockerung ausgeführt wird) herunterzufahren, zu Turbulenzen an den Finanzmärkten, von denen in den folgenden Monaten verschiedene Schwellenländer besonders betroffen waren. Im Herbst gab es dann eine gewisse Beruhigung. Aber in den letzten Monaten begann die Fed, die monatlichen Anleihekäufe von 85 auf 75 und jetzt 65 Milliarden Dollar zu senken.

Die Folge ist, dass die langfristigen Zinsen in den USA tendenziell steigen und damit die Schwellenländer für Investoren weniger attraktiv werden (dass dabei die Länder zuerst und besonders betroffen sind, die politische oder wirtschaftliche Probleme haben und deshalb als riskant erscheinen, ist klar).

Kapitalabfluss und Wechselkursverluste

Es kam zu einem Kapitalabfluss aus immer mehr Schwellenländern. Mitte Februar war von 12 Milliarden Dollar seit Jahresbeginn die Rede. Im ganzen Jahr 2013 waren es 15 Milliarden gewesen.

Eine Folge waren Kursverluste der Währungen zahlreicher Länder. Vom argentinischen und mexikanischen Peso und brasilianischen Real über den südafrikanischen Rand, ungarischen Forint, tschechische Krone, polnischen Zloty, ukrainische Griwina, russischen Rubel, kasachischer Tengo, indische Rupie bis zum südkoreanischer Won.

Kursverluste haben mehrere negative Folgen. Die erste ist, dass sich der oben beschriebene Effekt umkehrt: Wenn ausländische Investoren Geld im Land anlegen, haben sie durch den Devisenkursrückgang Verluste. Um das zu vermeiden, werden sie ihr Geld in Sicherheit bringen, der Kapitalabfluss beschleunigt sind und damit auch der Kursrückgang: ein Teufelskreis. Eine weitere Folge ist, dass der Devisenkursrückgang die Importpreise erhöht und damit zu Inflation führt. Eine weitere Folge ist, dass Schulden, die nicht in der Landeswährung, sondern z.B. in Dollar oder Euro aufgenommen wurden, dadurch (in der jeweiligen Landeswährung gerechnet) massiv steigen. Die Folge: Bankrotte, eine Schuldenkrise.

In verschiedenen Schwellenländern haben die Notenbanken deshalb versucht, die Devisenkurse zu stützen, indem sie ihre Bestände an ausländischen Devisen (Dollar, Euro etc.) verkauften, bis diese knapp wurden und sie den Versuch abbrechen mussten. (Spekulanten, die auf eine Währungsabwertung „wetten“, können dafür sorgen, dass die Reserven schnell aufgebraucht sind.) Das passierte Argentinien. Nach der Lockerung der Koppelung an den Dollar brach der argentinische Peso um 12% ein. Die nächsten Maßnahmen waren dann oft Zinserhöhungen. Die Türkei erhöhte die Leitzinsen von 4,5 auf 10%, Indien von 7,75 auf 8%, Südafrika von 5 auf 5,5%, Brasilien seit April 2013 schrittweise von 7,25% auf 10%.

Wie erwähnt, waren die Zinssenkungen in den Industrieländern wenig erfolgreich bei der Ankurbelung der Wirtschaft. Es spricht aber alles dafür, dass diese Zinserhöhungen die Wirtschaften der betroffenen Schwellenländer schwächen werden.

Zwischen Pest und Cholera

Die Länder haben die Wahl zwischen Pest und Cholera: entweder schmiert die Währung ab, es gibt eine massive Kapitalflucht, das Wirtschaftswachstum bricht ein (bzw. es kommt zu einer Wirtschaftskrise) oder Kapital wird durch hohe Zinsen angelockt, die das Wirtschaftswachstum abwürgen.

So oder so dürften die Handels- und Zahlungsbilanzdefizite, die in den letzten Jahren Deutschland so „schöne“ Exportüberschüsse ermöglichten, der Vergangenheit angehören. Laut Citibank machen die Exporte in die Schwellenländer in Lateinamerika, Osteuropa, dem Nahen Osten und Asien 11% des deutschen Bruttoinlandsprodukts aus. Im ersten Halbjahr 2013 exportierte Deutschland für 11,4 Milliarden in die Türkei und importierte für 6 Milliarden Euro.

Aber das wird nicht die einzige negative Folge sein. Wenn Investoren ihr Kapital in Sicherheit bringen, dann können sie dabei auch einen Teil verlieren. Die Banken in der Eurozone sind teilweise schon oder noch angeschlagen und können hier neue Verluste erleiden. Laut Schätzungen macht z.B. die Commerzbank ein Drittel ihres Gewinns in (v.a. osteuropäischen) Schwellenländern. Laut Bank für Internationalem Zahlungsausgleich vom August 2013 haben europäische Banken insgesamt 3,4 Billionen Dollar in Schwellenländern angelegt (Kredite, Staatsanleihen).

Nicht nur Deutschland exportiert in Schwellenländer, sondern auch die „Krisenländer“ in Südeuropa. Dort kann eine Wachstumsabschwächung oder gar Krise in den Schwellenländern zu einer erneuten Krisenverschärfung führen. Auf dem Umweg über die Schwellenländer kann eine neue Runde der Eurokrise beginnen. Das hohe Wirtschaftswachstum der Schwellenländer in den letzten Jahren hat die Probleme der Weltwirtschaft gemildert. Dadurch ist der Anteil der Schwellenländer an der Weltwirtschaft seit 1997 von 21% auf 38% gestiegen. Wenn sie jetzt Probleme haben, sind die weltwirtschaftlichen Auswirkungen entsprechend größer.

Folgen?

Momentan ist die Wirtschaftspresse überwiegend der Ansicht, dass sich die Folgen in Grenzen halten werden. Ob das stimmt, wird stark davon abhängen, ob der Kapitalabfluss zu einer Lawine anwächst, die immer mehr Schwellenländer von Lateinamerika über Osteuropa bis Ostasien erfasst. Wenn die US-Notenbank die Geldschleusen wieder weiter aufdreht, würde das eine Krise vielleicht noch etwas aufschieben.

Eine weitere wichtige Frage wird die Entwicklung in China sein. Man kann China zwar zu den Schwellenländern rechnen, es hat aber nicht die hier beschriebenen Probleme wie z.B. ein Zahlungsbilanzdefizit. Dafür hat es andere wirtschaftliche und finanzielle Zeitbomben, z.B. Spekulationsblasen, die platzen können. Wenn ein Wachstumsrückgang in China und anderen Schwellenländern zusammenkommen, werden sie sich gegenseitig verstärken, auch wenn sie verschiedene Ursachen haben. Und nicht zuletzt: wenn diverse Länder, die in den letzten Jahren Handelsbilanzdefizite hatten, jetzt gezwungen sind, Überschüsse zu erwirtschaften, dann trifft das das Exportland China genauso wie das Exportland Deutschland.

Also: die Gefahr besteht durchaus, dass in diversen Schwellenländern nicht nur eine Wachstumsabschwächung, sondern eine ernsthafte Krise droht. Und selbst, wenn es bei einer Wachstumsabschwächung bliebe: in Ländern mit hohem Bevölkerungswachstum würde schon das bedeuten, großen Teilen der Bevölkerung die Hoffnung auf eine Steigerung des elenden Lebensstandards zu zerstören. Der Begriff „Schwellenländer“ soll suggerieren, dass im Kapitalismus nach und nach immer größere Teile der Menschheit im Wohlstand leben können. Gerade wird diese Illusion mal wieder für viele Millionen Menschen zerstört. Die einzige Schwelle, deren Überschreitung der Menschheit ein Leben ohne Not, Ausbeutung und Unterdrückung bringen kann, ist die Schwelle zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Und in diesem Sinne müssen wir alle Länder zu Schwellenländern machen.