Ist der Mindestlohn ein Niedriglohn?

Foto: http://www.flickr.com/photos/55425572@N04/ CC BY-NC-SA 2.0
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Zu Höhe und Ausnahmen beim Mindestlohn der Großen Koalition

von Michael Koschitzki, Berlin

Geringe Bezahlung ist ein Massenphänomen geworden: Knapp ein Viertel aller Beschäftigten in Deutschland arbeitet im Niedriglohnbereich. Diese rund sieben Millionen Menschen verdienen weniger als 9,54 Euro die Stunde. Damit das Geld am Monatsende reicht, arbeiten mehr als 900.000 Niedriglöhner mehr als 50 Stunden die Woche, meist in verschiedenen Jobs. Daran ändert auch das Arbeitszeitgesetz nichts, dass solche Belastung verbietet.

Um solche Zustände zu beenden, machen Gewerkschaften, LINKE und soziale Bewegungen seit Jahren Druck für einen gesetzlichen Mindestlohn. Dadurch sollen Niedriglöhne dort verboten werden, wo Tarifbindung und gewerkschaftliche Durchsetzungskraft oder -willen keine höheren Löhne ermöglichten. Dass es jetzt überhaupt zu einer gesetzlichen Regelung kommt, ist ein Erfolg jahrelangen Protests.

Regelungen im Koalitionsvertrag

Die Große Koalition beschloss in ihren Koalitionsverhandlungen einen gesetzlichen Mindestlohn einführen zu wollen. Ab 1. Januar 2015 soll für alle Bereiche, die keiner Tarifbindung unterliegen, ein Mindestlohn von 8,50 Euro brutto die Stunde gelten. Ab 1. Januar 2017 soll der Mindestlohn auch für Bereiche gelten, die bis dahin Tariflöhne unter 8,50 Euro vereinbart haben.

Der Mindestlohn soll bis Juni 2017 nicht erhöht werden. Eine Kommission aus Gewerkschaften und Unternehmern soll dann erst über eine Anpassung verhandeln. Ausnahmen sind bereits im Koalitionsvertrag angekündigt, da das Gesetz „im Dialog mit Arbeitgebern und Arbeitnehmern“ erarbeitet werden soll und „mögliche Probleme, z.B. bei der Saisonarbeit, bei der Umsetzung“ berücksichtigt werden sollen.

Höhe des Mindestlohns

Im Jahr 2012 arbeiteten laut Institut für Wirtschaftsforschung Halle 24% der Beschäftigten in Ostdeutschland und 11 % der Beschäftigten in Westdeutschland für weniger als 8,50 Euro brutto. Das sind fünf Millionen Menschen. Für den größten Teil dürfte auch jetzt noch der Mindestlohn der Großen Koalition eine Verbesserung sein. Eine Verbesserung für sie ist dringend notwendig.

Das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch 8,50 Euro pro Stunde keinen ausreichenden Lohn ergeben. 8,50 Euro sind Niedriglohn. Als Niedriglohn gilt, was unter zwei Dritteln vom Medianlohn (Mittelwert aller Löhne) liegt. Im Jahr 2010 waren das 9,54 Euro.

Durch einen niedrigen Mindestlohn ist Altersarmut vorprogrammiert. Die Hans-Böckler Stiftung hat errechnet, dass man selbst mit einem Mindestlohn von 9,47 Euro nur eine Rente von 672 Euro erarbeiten würde. Die SAV fordert deshalb die Einführung eines Mindestlohns von 12 Euro und einer Mindestrente von 750 Euro plus Warmmiete.

Außerdem kann ein zu geringer Mindestlohn auch zu Lohnabsenkungen führen. Löhne, die leicht über dem Mindestlohn liegen, könnten auf ihn abgesenkt werden, da der Mindestlohn als Vergleichsmaßstab gilt.

Deshalb forderte DIE LINKE im Wahlkampf zurecht einen Mindestlohn von zehn Euro pro Stunde und Erhöhung in dieser Legislatur auf 12 Euro. Ver.di Chef Bsirske forderte im Interview am 27. Dezember einen Mindestlohn von 10 Euro. Die NGG-Vorsitzende Michaela Rosenberger kritisierte die 8,50 als „niedriger Lohn, der es kaum ermöglicht, von seiner Hände Arbeit zu leben.“

Sie sollten zusammen mit Aktiven in der Gewerkschaften den Kampf für eine höhere Forderung im DGB führen und die Diskussion neu aufmachen. Der DGB Bundesvorstand hatte bisher den Koalitionsvertrag begrüßt.

Aufweichung des Mindestlohns

Die Tinte der Unterschriften auf dem Koalitionsvertrag war kaum trocken, als schon die ersten Forderungen nach Ausnahmen aufgestellt wurden. Die CDU Vize-Vorsitzende Julia Klöckner sagte beispielsweise: „Ein Mindestlohn für Zeitungsausträger etwa wäre nicht sinnvoll. Den Menschen geht es nicht darum, von dieser Tätigkeit ihren gesamten Lebensunterhalt zu bestreiten.” Man sollte denken, dass man nicht erst morgens zwischen 1 und 6 Uhr bei Kälte und Regen Zeitungen durch die Gegend schleppen muss, um zu verstehen, dass es dabei durchaus ums Geld verdienen geht. Weitere Ausnahmen sind im Gespräch. Zum Beispiel sollen Hartz IV EmpfängerInnen nach Aufnahme einer Tätigkeit ein Jahr unter Mindestlohn verdienen können.

Bayerns Wirtschaftsministerin Ilse Aigner sagt: “Schüler, Studenten und Rentner, die einen Zuverdienst haben, sind anders zu behandeln als Arbeitnehmer, die mit einer Vollzeittätigkeit ihren Lebensunterhalt verdienen.“ Damit wären gerade ein großer Teil von denjenigen vom Mindestlohn ausgenommen, die von ihm profitieren würden. Jede Ausnahme, die zu einem Unterlaufen des Mindestlohns durch die Unternehmer führen kann, muss zurückgewiesen werden.

Bislang sollen Auszubildende vom Mindestlohn ausgenommen werden. Von einer Ausbildung muss man selbstständig und unabhängig leben können. Deshalb fordert die SAV eine Mindestausbildungsvergütung von 1400 Euro brutto. Das würde auch verhindern, dass Auszubildende als Billigarbeitskräfte eingesetzt werden.

Wie sollten sich Gewerkschaften und LINKE verhalten?

Dass die Forderung des DGB nach 8,50 Euro zumindest auf dem Papier erfüllt wurde, ist ein Erfolg für die Gewerkschaftsbewegung. Doch darauf kann sich nicht ausgeruht werden. Die Gewerkschaften sollten gemeinsam eine Aushöhlung des Mindestlohns durch Ausnahmen bekämpfen, gegen das Einfrieren der Mindestlohnhöhe bis 2017 protestieren und eine Kampagne für mindestens die von Bsirske geforderten 10 Euro Mindestlohn machen.

Es sollte außerdem für einen automatischen Inflationsausgleich gekämpft werden. Durch die Teuerung werden 8,50 Euro schon viel weniger wert sein, ehe es zur ersten geplanten Diskussion über die Anpassung des Mindestlohns im Juni 2017 kommt. Dieser Zeitpunkt ist viel zu spät. In den USA haben beispielsweise zahlreiche Bundesstaaten einen automatischen jährlichen Inflationsausgleich vorgesehen. In den Niederlanden wird der Mindestlohn halbjährlich angepasst (allerdings nicht automatisch).

Auch DIE LINKE sollte die Verzögerungen und Ausnahmen beim gesetzlichen Mindestlohn kritisieren. Wie im Wahlprogramm vorgesehen, sollten wir uns für einen Mindestlohn von 12 Euro aussprechen und diese Forderung in die Diskussion bringen. Gleichzeitig können wir eine Kampagne von Gewerkschaften und anderen sozialen Kräften für einen Mindestlohn von 10 Euro unterstützen und uns dort einbringen.

Es muss eine Diskussion geben, wie zukünftig für eine Erhöhung des Mindestlohns effektiv gekämpft werden kann. Die Frage des politischen Streiks muss auch in Hinblick auf die Mindestlohnhöhe wieder in die Debatte gebracht werden. In Israel gab es 2012 beispielsweise einen Generalstreik zur Anhebung des Mindestlohns für LeiharbeiterInnen.

Der Kampf für vernünftige Mindestlöhne wird auch international geführt und kann sich gegenseitig unterstützen und inspirieren. In der Schweiz wird dieses Jahr über einen Mindestlohn von 22 Franken (17,77 Euro) abgestimmt. In den USA gibt es eine große Kampagne (15now.org) für einen landesweiten Mindestlohn von 15 $ pro Stunde (11,04 Euro).