Zum Koalitionsvertrag von Union und SPD
Noch nie nach 1945 hat die Regierungsbildung so lange gedauert wie nach dieser Bundestagswahl. Die SPD hat diesmal sogar ihre Mitglieder abstimmen lassen. Aber niemand sollte glauben, dass dadurch der Koalitionsvertrag aus Sicht der Masse der Bevölkerung besser geworden sei.
von Wolfram Klein, Plochingen bei Stuttgart
Das fängt mit der Verständlichkeit an. Ein Team an der Uni Hohenheim hat ihn (nach Kriterien wie Bandwurmsätze, Schachtelsätze, Fremdwörter etc.) analysiert und kam auf einen Wert von 3,48 auf einer Skala von 0 bis 20 (völlig unverständlich bis sehr verständlich). Zum Vergleich: politikwissenschaftliche Doktorarbeiten sind auf dieser Skala bei 4,7. Das Kapitel zu Europa ist auf dieser Skala bei 1,96, also fast völlig unverständlich.
Mindestlohn?
Aber immerhin haben wir jetzt einen Mindestlohn. Jetzt? 2015 mit Einschränkungen, die erst 2017 wegfallen. Wegfallen? Die Koalition will „das Gesetz im Dialog mit Arbeitgebern und Arbeitnehmern aller Branchen, in denen der Mindestlohn wirksam wird, erarbeiten und mögliche Probleme, z. B. bei der Saisonarbeit, bei der Umsetzung berücksichtigen“. Da sind der Verwässerung Tür und Tor geöffnet. Und wie viel sind 8,50 Euro 2017 wert? Und von da an soll der Mindestlohn „von einer Kommission der Tarifpartner überprüft, gegebenenfalls angepasst“ werden. Natürlich kann sich kaum jemand vorstellen, dass damit eine Anpassung nach unten gemeint ist. Aber konnten wir uns den Sozialkahlschlag in Griechenland der letzten Jahre vor vier Jahren vorstellen? Einen echten Mindestlohn wird uns diese Regierung nicht schenken, für den müssen wir selber kämpfen. Das Beste wäre eine Kampagne der Gewerkschaften dafür (oder zunächst der LINKEN, da die Gewerkschaftsführungen das ohne Druck nicht organisieren werden). Die SAV fordert einen Mindestlohn von 12,- Euro.
Rente
Eine weitere soziale Verbesserung soll die abschlagsfreie Rente mit 63 ab 45 Beitragsjahren sein. Die gilt schon ab dem 1. 7. 2014. Dafür stimmt das 2015 schon nicht mehr. Denn nachdem die SPD jahrelang die Rente mit 67 wieder abschaffen wollte, nachdem Gewerkschaftsführungen jahrelang versucht haben, ihre Mitglieder mit diesem Thema auf die Wahl der SPD zu orientieren, schreibt der Koalitionsvertrag jetzt die Rente mit 67 fest. Das heißt, dass 2015 aus den 63 Jahren 63 Jahre und ein Monat werden und so weiter, bis wir wieder bei 65 Jahren sind. Und das alles gilt nur für RentnerInnen mit 45 Beitragsjahren (nicht: Versicherungsjahren). Da Kindererziehungszeiten nur unzulänglich auf die Beitragszeiten angerechnet werden, werden Frauen davon kaum etwas haben – gerade Frauen, die jetzt schon am meisten von Altersarmut betroffen sind. Und wie viel ist „abschlagsfrei“ wert, wenn die Senkung der abschlagsfreien Rente auf 42% nicht revidiert wird. Die SAV fordert eine Mindestrente von 750 Euro plus Warmmiete und eine Erhöhung des Rentenniveaus auf 57% der durchschnittlichen Einkommen (als ersten Schritt zu 75%) und eine Senkung des Rentenalters auf 60.
Absichtserklärungen
Es macht wenig Sinn, die vielen Absichtserklärungen im Koalitionsvertrag aufzuführen. Die meisten Maßnahmen stehen unter Finanzierungsvorbehalt, d.h. sie werden gemacht, wenn Geld übrig ist. Jemand hat durchgezählt, dass der Vertrag der 130 Prüfaufträge, 484 mal das Wort „wollen“, 109 mal das Wort „sollen“ und 15 mal „sollte“ enthält. (Warum nennt man so etwas überhaupt „Vertrag“? Wenn ich einen Vertrag unterschreibe, steht da auch nicht drin: „Herr Klein will den Kaufpreis bezahlen“ oder „Herr Klein prüft, ob er den Kaufpreis bezahlen kann“ oder so etwas.)
Auf Seite 88/89 stehen die wenigen Maßnahmen, die nicht unter Finanzierungsvorbehalt stehen.
Und was passiert, wenn die Steuereinnahmen nicht mehr so sprudeln wie zur Zeit? Da Merkel Steuererhöhungen ausgeschlossen hat, bleiben dann nur noch Kürzungen. Dann holt die brutale Sozialkahlschlagspolitik, die Merkel die letzten Jahre gegenüber Südeuropa getrieben hat und die im Koalitionsvertrag ausdrücklich bestätigt worden ist, auch die Masse der Bevölkerung in der BRD ein.
Freihandelsabkommen EU-USA
Aber die Möglichkeit (und für einen Zeitraum von vier Jahren kann man fast von Gewissheit sprechen) einer Verschlechterung der Wirtschaftslage ist nicht der einzige Hebel, der die Absichtserklärungen im Koalitionsvertrag zur Makulatur machen kann. Hinter verschlossenen Türen finden gerade die Verhandlungen zum Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA statt. In der NSA-Affäre haben SPD-Politiker wie Gabriel den USA gelegentlich gedroht, die Verhandlungen auszusetzen. Jetzt bekennt sich der Koalitionsvertrag zu diesem Abkommen. Im Koalitionsvertrag gibt es zwar ein Bekenntnis zur Wahrung der „hohen europäischen Standards“, aber das Schleifen derartiger Standards ist ja gerade der Sinn der Übung. Und was in Koalitionsverträgen steht zählt leider nichts gegenüber dem, was in solche internationalen Verträge geschrieben wird.
Rückschritte
In einzelnen Bereichen werden aber bereits im Koalitionsvertrag Rückschritte festgeschrieben. Zum Beispiel bei der Energiewende mit dem Verwässern von Klimazielen und dem Bekenntnis zur Braunkohle. Oder beim Streikrecht: Die Koalition will die „Tarifeinheit nach dem betriebsbezogenen Mehrheitsprinzip“ gesetzlich festschreiben. Das bedeutet, dass nur noch die Gewerkschaft, die im Betrieb die meisten Mitglieder hat, Arbeitskämpfe führen kann. Wenn sie einen Tarifvertrag unterschreibt, gilt auch für andere Gewerkschaften Friedenspflicht. Das würde eine weitere Einschränkung des ohnehin beschränkten deutschen Streikrechts bedeuten. Dass die DGB-Führung für den Koalitionsvertrag wirbt, statt dagegen Sturm zu laufen, ist ein Skandal. Selbst wenn in allen Betrieben DGB-Gewerkschaften am stärksten wären, wenn sie die kämpferischsten Gewerkschaften wären und es nie Konkurrenz zwischen DGB-Gewerkschaften in einem Betrieb gäbe – was leider alles drei nicht immer der Fall ist – wie sollen die Gewerkschaften beweisen, dass sie in einem Betrieb die stärkste Gewerkschaft sind? Sollen sie dem Arbeitgeber ihre Mitgliederlisten vorlegen?
Neoliberale Handschrift
Oft wird die Frage gestellt, wie viel CDU-, CSU- oder SPD-Handschrift der Koalitionsvertrag trägt. Die Frage ist falsch gestellt. Der Vertrag hat von vorne bis hinten eine neoliberale Handschrift und da alle drei Parteien neoliberale Parteien sind, ist es zweitrangig, wer in welcher Detailfrage welches Steckenpferd durchgesetzt hat. Viele haben gejubelt, als die FDP aus dem Bundestag geflogen ist. Aber obwohl die FDP nicht mehr im Parlament, geschweige in der Regierung ist, trägt der Vertrag auch FDP-Handschrift. Die von der FDP vor vier Jahren durchgesetzte steuerliche Entlastung für Hoteliers wird beibehalten.
Das entschuldigt aber keineswegs, dass die SPD mit diesem Koalitionsvertrag zahlreiche Wahlversprechen bricht, nicht nur das Versprechen, keine große Koalition mit Merkel zu machen, sondern auch jede Menge inhaltliche Wahlversprechen, von der Forderung nach einer stärkeren Besteuerung der Reichen bis hin zur Ablehnung von CSU-Steckenpferden wie Betreuungsgeld (Herdprämie) oder Autobahnmaut für Ausländer. Wir sollten uns trotzdem keine Illusionen machen: Als neoliberale Partei hätte die SPD auch bei anderen Regierungsmehrheiten im Wahlkampf links geblinkt, um nach den Wahlen rechts abzubiegen.
Ein schwacher Trost ist, dass der Koalitionsvertrag auch seine humoristischen Einsprengsel hat, z.B.: „Der Bund bekennt sich zum Bau des Flughafens Berlin-Brandenburg BER.“