1923 führte die Besetzung des Ruhrgebiets durch französische und belgische Truppen zu einer tiefen wirtschaftlichen und politischen Krise in Deutschland, die den revolutionären Sturz des Kapitalismus in greifbare Nähe rückte.
von Wolfram Klein
Auch viele Linke meinen, Deutschland und Revolution würden nicht zusammenpassen. Die Revolution von 1848 ist schon lange her und war wenig erfolgreich. Die Revolution im Jahr 1918 gilt oft als durch den Ersten Weltkrieg verursachter Betriebsunfall. Tatsächlich hatten schon vor Kriegsbeginn MarxistInnen wie Rosa Luxemburg analysiert, dass sich in Deutschland die politischen und wirtschaftlichen Widersprüche verschärften und eine vorrevolutionäre Situation heranreifte. Der Krieg war auch eine Flucht der Herrschenden vor den innenpolitischen Widersprüchen. Die Revolution endete auch keineswegs mit der Wahl der Nationalversammlung im Januar 1919. Bis 1920 gab es immer wieder revolutionäre Kämpfe, zum Beispiel im März 1920 den Generalstreik gegen den Kapp-Putsch (in dessen Rahmen auch. eine Rote Ruhr-Armee mit über 50.000 bewaffneten ArbeiterInnen entstand). Auf diese revolutionäre Welle folgte noch nicht das Ende der Revolution, sondern nur ein Wellental. 1923 löste die Ruhrbesetzung eine zweite revolutionäre Welle aus.
Die Ruhrbesetzung
Am 11. Januar 1923 marschierten französische (und belgische) Truppen im Ruhrgebiet ein. Die Begründung war, dass Deutschland die Reparationen (Kriegsentschädigungen), zu denen es nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg verpflichtet war, nur teilweise geliefert hatte. Der eigentliche Grund war, dass der französische Imperialismus unter Ministerpräsident Poincaré seine Vorherrschaft in Europa, die er durch den Versailler Friedensvertrag 1919 erlangt hatte, festigen wollte.
Die deutsche Regierung unter Wilhelm Cuno, als ehemaliger Direktor der Schifffahrtsgesellschaft HAPAG ein knallharter Vertreter von Kapitalinteressen, verkündete den „passiven Widerstand“: Jede Zusammenarbeit mit den französischen Besatzern wurde untersagt, die Reparationszahlungen eingestellt, Produktion und Transport standen zunächst weitgehend still. Es gab Terrorakte von Rechtsextremisten, teils mit behördlicher Unterstützung. Die Franzosen reagierten mit Ausweisungen, Verhaftungen, Hinrichtungen.
Alle Parteien im deutschen Reichstag unterstützten die Regierung – mit Ausnahme der Kommunistischen Partei (KPD). Diese lehnte ebenfalls die Ruhrbesetzung ab, ebenso wie die gesamte Politik des französischen Imperialismus, der nach dem Ersten Weltkrieg eine Art Kontinentalpolizist in Europa war. Trotzdem blieb für sie der deutsche Kapitalismus der Hauptgegner, und die französischen KommunistInnen die Hauptverbündeten. „Schlagt Poincaré an der Ruhr und Cuno an der Spree!“ war eine Parole. Unmittelbar vor dem Einmarsch organisierten sie am 6./7. Januar in Essen eine Konferenz mit GastrednerInnen aus anderen Parteien der 1919 gegründeten Kommunistischen Internationale (Komintern). Französische Kommunisten klebten im Ruhrgebiet Plakate, die sich an die Besatzungstruppen richteten, und bildeten unter den Besatzungssoldaten Zellen. Es gab eigene Publikationen für die Soldaten und Flugblätter auf französisch und „marokkanisch“ (d.h. wohl arabisch – ein beträchtlicher Teil der Besatzungssoldaten stammte aus den afrikanischen Kolonien Frankreichs). Die französische und deutsche kommunistische Presse berichtete über die miserable Verpflegung und Unterbringung der Soldaten, die Schikanen durch Offiziere. Die französische Justiz klagte die französischen Teilnehmer der Essener Konferenz wegen Hochverrats an.
Schon bald entpuppte sich der passive Widerstand als Farce. Kapitalisten sind gerne bereit, aus Patriotismus ArbeiterInnen Opfer abzuverlangen, aber nicht dazu, ihre Profite zu opfern. In der Praxis sah es bald so aus, dass die Bergwerke des Ruhrgebiets Kohle auf Halde förderten, dann die Franzosen die Kohle beschlagnahmten und abtransportierten und dann die Bergwerksbesitzer sich vom Staat eine Entschädigung für die beschlagnahmte Kohle zahlen ließen. Der kommunistische Vorschlag, die Kohle statt dessen verbilligt an die Bevölkerung zu verkaufen, wurde abgelehnt.
Angesichts der ungeheuren Last für die Arbeiterklasse und der fortgesetzten Profitmacherei der Bosse, nimmt der Widerstand der Massen gegen die Besetzung schnell wieder ab und die Wut richtet sich gegen die Kapitalisten und die Cuno-Regierung, die den Zehn-Stunden-Tag wieder einführen will.
Streikwelle im Ruhrgebiet
Die Inflation, die im Ersten Weltkrieg begonnen hatte und nach dem Krieg weiter gegangen war, war im Januar 1923 explodiert (für ein britisches Pfund musste man bald statt 50.000 Mark 250.000 Mark zahlen), um dann durch Stützungsaktionen der Mark (Verkauf von Gold und Devisen, um den Wechselkurs zum US-Dollar bei etwa 21.000:1 zu halten) vorübergehend gestoppt worden. Aber die staatliche Finanzierung des „Ruhrkampfs“ durch Hilfszahlungen an Unternehmen und Lohnzahlungen an streikende oder unbeschäftigte ArbeiterInnen und Beamte ließ die Staatsausgaben explodieren und die Inflation ab dem 18.April 1923 zurückkehren. Im Juni fiel die Mark auf 500.000 zu einem Pfund, im August musst man schon fünf Millionen Mark für das Pfund zahlen. Der französische marxistische Historiker Pierre Broué schreibt dazu: „Der privilegierte Arbeiter, das heißt derjenige, der Arbeit hat, braucht zwei Tage vom durchschnittlichen Lohn eines qualifizierten Arbeiters für ein Pfund Butter und den Lohn von ganzen fünf Monaten für einen Anzug. Die Inflation bedeutete jedoch nicht Elend für jeden. Die Besitzer von Gold oder von Devisen erzielen fantastische Gewinne. Industrielle und Unternehmer, deren Ausgaben an Löhnen und Sozialleistungen praktisch auf ein Nichts gesunken sind, können ihre Preise senken und gegen Devisen im Ausland ihre Waren absetzen.“ (in: Pierre Broué, Die Deutsche Revolution 1918-1923, Berlin, 1973)
Im Ruhrgebiet war der Anstieg der Lebensmittelpreise besonders schlimm. Am 16.Mai begann auf einer Zeche in Dortmund eine spontane Streikwelle für Lohnerhöhungen, die nach wenigen Tagen mindestens 300.000 Berg- und MetallarbeiterInnen umfasste. Da die französischen Behörden die deutsche (preußische) Polizei aus dem Ruhrgebiet ausgewiesen hatten, stellten jetzt in vielen Orten „proletarische Hundertschaften“ (in denen oft kommunistische, sozialdemokratische und parteilose ArbeiterInnen zusammenarbeiteten) die Ordnung sicher. Französische Soldaten begrüßten die Streikenden zum Beispiel in Bochum mit Rufen „A bas Poincaré! A bas Stinnes!“ („Nieder mit Poincaré! Nieder mit Stinnes!“ – Hugo Stinnes war Chef eines riesigen Firmenimperiums und galt als heimlicher Herrscher Deutschlands) und händigten ihnen Maschinengewehre aus (ihren Vorgesetzten wollten sie erzählen, sie seien ihnen abgenommen worden). Die patriotische deutsche Regierung bat den französischen „Erbfeind“ um die Erlaubnis, die Streikbewegung im Ruhrgebiet militärisch zu unterdrücken. Schließlich habe Deutschland auch 1871 Frankreich bei der Niederschlagung der Pariser Kommune geholfen. Die KPD, die die Führung der Bewegung übernommen hatte, fürchtete eine gemeinsame Unterdrückung durch Deutschland und Frankreich, und trat für eine Beendigung der Streiks ein, nachdem Lohnerhöhungen erreicht waren.
Kleinbürgertum und Nationalismus
Die russische Revolution 1917 hatte gesiegt durch das Bündnis zwischen Arbeiterklasse und Kleinbürgertum (v.a. die Bauernschaft). In Deutschland spielte der Gegensatz zwischen Bauernschaft und Großgrundbesitz keine so zentrale Rolle wie in Russland. Die SPD hatte sich zwar vor dem Ersten Weltkrieg bemüht, die Interessen der Arbeiterklasse im Rahmen des Kapitalismus zu vertreten, aber das Kleinbürgertum weitgehend den Nationalisten und Militaristen überlassen, die es in Kriegervereinen, Flottenvereinen etc. organisierten.
Die nationalistische Verhetzung des Kleinbürgertums erlitt durch die Niederlage im Ersten Weltkrieg eine kalte Dusche und viele KleinbürgerInnen unterstützten 1918/19 die Revolution. Aber auf die Hoffnungen folgte bittere Enttäuschung. Die Inflation fraß die Ersparnisse der Mittelschichten weg, die Gehälter der „neuen Mittelschichten“, der Angestellten, die sich damals noch kaum als Teil der Arbeiterklasse sahen, sanken auf Hungerniveau. Teile des Kleinbürgertums steigerten sich in einen wahnwitzigen Hass gegen Franzosen (die Sieger im Weltkrieg, denen die Schuld an den Friedensbedingungen von Versailles gegeben wurde), die Arbeiterbewegung und „die Juden“ (beide wurden in der nationalistischen „Dolchstoßlegende“ beschuldigt, durch die Novemberrevolution 1918 der „im Felde ungeschlagenen“ Armee in den Rücken gefallen zu sein und sie wurden mit der immer verhassteren Weimarer Republik identifiziert).
Wenn die 1918 begonnene Revolution in Deutschland zum erfolgreichen Ende, also zum Sturz des Kapitalismus, geführt werden wollte, musste die KPD nicht nur die Mehrheit der Arbeiterklasse, sondern auch Teile des Kleinbürgertums gewinnen oder zumindest neutralisieren. Die KPD erkannte richtig, dass der Franzosenhass die soziale Verelendung des Kleinbürgertums durch Krieg und Nachkriegszeit in einer nationalen Sprache formulierte. Sie versuchte, diesen Hass umzulenken, indem sie alle Belege für den Klassengegensatz zwischen den französischen ArbeiterInnen und BäuerInnen einerseits und den französischen Kapitalisten andererseits ebenso publizierten wie die Belege für die Zusammenarbeit zwischen deutschen und französischen Kapitalisten.
Fehler der KPD
Falsch war es aber, wenn die KPD manchmal nicht zwischen vom Imperialismus unterdrückten Ländern (z.B. Kolonien) und dem vorübergehend besiegten deutschen Imperialismus unterschied. Ebenso falsch war, wenn sie den deutschen Herrschenden eine Kapitulation vor Frankreich vorwarf. Im Rückblick ist offenkundig, dass diese (aus ihrer Sicht) geschickt manövriert haben: Sie nutzten die Weimarer Verfassung und ließen die SPD bis 1930 ab und zu mitregieren, bis 1930 die im Versailler Vertrag festgelegte Besetzung des Rheinlands beendet wurde. 1933 hievten sie Hitler ins Amt, der für sie die Zerschlagung der Arbeiterbewegung, die Aufrüstung und die Vorbereitung eines neuen Weltkriegs organisierte. Sie gingen erst auf Distanz zu Hitler, als sie merkten, dass dieser den Krieg verlieren würde.
Die KPD konnte nationalistischen KleinbürgerInnen keinen Revanchekrieg gegen Frankreich versprechen. Tatsächlich erklärte sie völlig richtig, dass eine revolutionäre deutsche Arbeiterregierung die Verpflichtungen des Versailler Vertrags erfüllen werde (aber das Geld für die Reparationen von den Reichen statt den ArbeiterInnen holen würde). Tatsächlich gab es in Deutschland nicht nur kriegsgeile Nationalisten, sondern viele Millionen ArbeiterInnen und KleinbürgerInnen, die sich an die Schrecken des Ersten Weltkriegs erinnerten und Angst vor einem neuen Krieg hatten. 1917 war die Forderung nach Frieden einer der größten Trümpfe der russischen Revolution gewesen. 1923 wusste die deutsche Bevölkerung, dass nach der russischen Revolution eine imperialistische Militärintervention und drei Jahre blutiger Bürgerkrieg folgten. Die Angst vor Intervention und neuem Krieg schreckte vor der Revolution ab. (Tatsächlich wäre eine siegreiche deutsche Revolution der einzige Weg gewesen, den Zweiten Weltkrieg mit seinen 60 Millionen Toten zu verhindern.)
Wahrscheinlich hätte der französische Imperialismus eine deutsche Arbeiterrevolution tatsächlich militärisch bekämpft. Der Sturz des Kapitalismus in Deutschland hätte das Kräfteverhältnis zwischen Kapitalismus und Sozialismus in Europa so verschoben, dass die Kapitalisten der Nachbarländer alle Register im Kampf dagegen gezogen hätten. Aber die Streikwelle im Ruhrgebiet im Mai hatte schon die Sympathien vieler französischer Soldaten für die deutschen ArbeiterInnen gezeigt. Für die Kampfmoral der französischen Truppen und die Stimmung in der französischen Bevölkerung hätte zwischen einer Militärintervention gegen eine deutsche Arbeiterrevolution und einem „Verteidigungskrieg“ gegen deutsche Revanchisten ein himmelweiter Unterschied bestanden. 1918 hatten die aus der Ukraine heimkehrenden deutschen Besatzungssoldaten zu den glühendsten Kämpfern der deutschen Novemberrevolution gehört. Eine französische Militärintervention gegen eine deutsche Arbeiterrevolution hätte nicht die Revolution in Deutschland verhindert, sondern die französische Revolution ein großes Stück näher gebracht – und damit auch ein Ende von allem was am Versailler Vertrag berechtigte Empörung erzeugte.
Eine positive Antwort zeigte der russische Revolutionär Trotzki in einem Artikel vom 30. Juni 1923, in dem er vorschlug, die kommunistische Forderung nach einer Arbeiterregierung (oder Arbeiter- und Bauernregierung, s. u.) mit der nach den Vereinigten Staaten von Europa zu verbinden. Der deutsche Imperialismus hatte im Ersten Weltkrieg versucht, die Kohle des Ruhrgebiets mit dem lothringischen Eisenerz zu verbinden, der französische Imperialismus versuchte es jetzt mit der Ruhrbesetzung – beide Male mit katastrophalen Folgen. Die Parole der Vereinigten Staaten von Europa zeigte die revolutionäre Lösung für das Problem, das der Imperialismus nicht lösen konnte (ebenso wie für das Problem der Reparationen). Leider hat die Führung der Kommunistischen Internationale diese Parole erst im Oktober übernommen. In der Agitation der KPD spielte sie nie eine Rolle.
Die Versuche, nationalistische KleinbürgerInnen zu gewinnen, waren wenig erfolgreich. Bei deren Hass gegen die Arbeiterbewegung und „die Juden“ wurde die Arbeiterpartei KPD mit einer Reihe jüdischer Spitzenfunktionäre auch dann kein Bündnispartner, wenn sie der Regierung Kapitulation vor dem französischen Imperialismus vorwarf. Wahrscheinlich hat sie für jeden so gewonnenen „national empfindenden“ Kleinbürger zehn sozialdemokratische Arbeiter abgestoßen.
Trotz solcher Fehler waren aber sozialdemokratische Vorwürfe, die KPD würde mit den Faschisten eine Einheitsfront bilden, billige Demagogie. Bei allen Versuchen, an die nationale Empörung über die Ruhrbesetzung anzuknüpfen, war die unabdingbare Voraussetzung, dass mögliche Verbündete sich gegen die Faschisten stellten. Dabei auch ehemaligen Faschisten die Hand auszustrecken, wenn sie mit dem Faschismus brachen, war richtig. Es ging nicht um ein Bündnis mit den Faschisten, sondern darum, den physischen Kampf durch den ideologischen Kampf gegen sie zu ergänzen. Wie es KPD und SPD tatsächlich mit dem Faschismus hielten, wurde im Juli 1923 deutlich: die KPD mobilisierte für einen antifaschistischen Aktionstag am 29. Juli. Der preußische Innenminister Severing (SPD!) verbot für diesen Termin alle Straßendemonstrationen, so dass sich die KPD weitgehend auf Saalveranstaltungen beschränkte. Wie stark die KPD mobilisierte und wie aufgeheizt die Stimmung war, zeigte aber die Beteiligung an diesem Antifaschismustag: laut KPD eine Viertelmillion (nach bürgerlichen Schätzungen 160.000 bis 180.000) allein in Berlin, über 100.000 in Sachsen, über 100.000 in Württemberg usw.
Die Cuno-Streiks
Ab Juni 1923 kam es auch außerhalb des Ruhrgebiets zu immer mehr Streiks, um die Löhne an die astronomisch steigenden Preise anzupassen. Dabei streikten auch Arbeitergruppen, die bisher eher nicht in der vordersten Reihe gestanden hatten, zum Beispiel über 100.000 LandarbeiterInnen in Schlesien. Insgesamt wurden für 1923 über 1,8 Millionen Streikende und über 14 Millionen durch Streiks verlorene Arbeitstage verzeichnet. Das ist zwar ein Rückgang gegenüber 1922 (dem Jahr mit den meisten Streiks in der deutschen Geschichte: fast zwei Millionen Streikende und fast 29 Millionen verlorene Arbeitstage). Aber erstens gab es in den ersten Monaten 1923 kaum Lohnstreiks (wegen der vorübergehenden Stabilisierung der Mark und dem nach der Ruhrbesetzung von sozialdemokratischen GewerkschafterInnen praktizierten „Burgfrieden“) – und die statistische Erfassung der Streiks war verbessert worden, so dass es weniger Doppelzählungen gab. Außerdem ist offenbar der Generalstreik gegen die Cuno-Regierung nicht mitgezählt, an dem allein 3,5 Millionen ArbeiterInnen teilnahmen.
Denn als Anfang August der Reichstag aus der Sommerpause zurückkehrte, strömte eine Flut von Berliner Betriebsdelegationen ins Reichstagsgebäude und forderte den Rücktritt der Regierung. Am Sonnabend (11. August) tagten morgens die Berliner Betriebsräte. Da 15.000 Betriebsräte kamen, mussten sie sich auf vier Versammlungssäle verteilen. Sie forderten u.a. den sofortigen Rücktritt der Cuno-Regierung und einen Mindestlohn. Dafür sollte ab Mittag der Generalstreik beginnen (bis Dienstag Abend). Eine Streikleitung wurde gebildet. Am folgenden Morgen beschloss der Reichsausschuss der Betriebsräte den Generalstreik für ganz Deutschland. Noch am selben Abend trat Cuno zurück und es wurde am folgenden Tag eine neue Regierung unter Stresemann gebildet, an der sich auch die SPD beteiligte.
Außerhalb Berlins erfuhren die ArbeiterInnen erst Montag vom Streikaufruf, so dass sie erst Montag Abend oder Dienstag in den Streik traten, als seine Hauptforderung bereits erfüllt war (unter anderem wurde den ArbeiterInnen eine gleitende Lohnskala zugestanden, die die Löhne an die Inflation koppelte). In Berlin wurden StraßenbahnerInnen und DruckerInnen mit hohen Lohnerhöhungen zum Ausscheren aus dem Streik gebracht, so dass Straßenbahnen wieder fuhren, Zeitungen erschienen und – nicht zuletzt – Banknoten gedruckt wurden. Um ein langsames Abbröckeln der Bewegung zu verhindern beschlossen die Berliner Betriebsräte ab Dienstag, den Streik nicht zu verlängern. Die KPD stand zwar an der Spitze der Bewegung, aber sie verstand es nicht, die spontane Bewegung von unten vom Sturz der Regierung zum Sturz des Kapitalismus weiter zu steigern.
Die Einheitsfrontpolitik
Der Cuno-Streik hatte gezeigt, wie groß der Einfluss der KPD in der Arbeiterbewegung geworden war. Sie hat im Sommer 1923 wohl die SPD überholt und hatte mehrheitliche Unterstützung in der Arbeiterklasse. Selbst im ländlichen Mecklenburg-Strelitz (das einzige Land, in dem damals Wahlen abgehalten wurden) zog sie fast mit der SPD gleich. Der gestiegene Einfluss war im Wesentlichen der seit 1921 betriebenen Einheitsfrontpolitik zu verdanken. Gleichzeitig hatte sich in der SPD erstmals seit der Novemberrevolution ein linker Flügel heraus gebildet, der in Widerspruch zur Parteiführung geriet.
Im Dezember 1920 war die KPD durch die Vereinigung mit dem linken Flügel der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei (USPD) zu einer Massenpartei mit Hunderttausenden Mitgliedern geworden. Die Mitglieder sprühten vor Tatendrang, aber leider war die revolutionäre Welle nach dem Ersten Weltkrieg bereits vorbei. Die KPD erkannte das nicht und ließ sich auf revolutionäre Abenteuer ein („Märzaktion“ 1921). Dafür wurde ihr von Lenin, Trotzki und der Führung der Kommunistischen Internationale gründlich der Kopf gewaschen, die der KPD (und den anderen Parteien der Komintern) erklärten, dass sie erst die Mehrheit der Arbeiterklasse erobern müssen, bevor sie die Macht erobern können.
Dazu diente die Einheitsfrontpolitik. Ihr Grundgedanke war, dass revolutionäre und reformistische ArbeiterInnen zwar bezüglich der Notwendigkeit einer Revolution verschiedener Meinung sind, dies aber kein Hinderungsgrund für gemeinsame Abwehrkämpfe gegen Lohnsenkungen, schlechtere Arbeitsbedingungen und faschistischen Terror ist. Richtig gehandhabt stellte die Einheitsfrontmethode für RevolutionärInnen eine Win-Win-Situation dar: Wenn die reformistischen Partei- und Gewerkschaftsführer Angebote für einen gemeinsamen Kampf für Ziele ablehnten, deren Berechtigung ihrer Basis einleuchtete, diskreditierten sie sich und die ArbeiterInnen wurden ihnen gegenüber kritischer und offener für die Ideen der KommunistInnen. Wenn sie dagegen entsprechende Angebote annahmen, bot das günstige Voraussetzungen, die ArbeiterInnen vor Verschlechterungen zu bewahren und Verbesserungen zu erreichen und gleichzeitig im Kampf das Selbstbewusstsein und die Kampferfahrung der ArbeiterInnen zu heben. Nicht zuletzt konnten die ArbeiterInnen bei jedem Schritt des Kampfes die kommunistische und die reformistische Organisation in der Praxis erproben und erkennen, dass RevolutionärInnen auch die besten KämpferInnen für Reformen sind – auch in diesem Fall können reformistische ArbeiterInnen näher an die kommunistische Partei herangeführt werden. Die Einheitsfrontpolitik war entscheidend dafür, dass die KPD sich von der Niederlage der Märzaktion 1921 erholte und in der Arbeiterklasse verankerte.
Ein großes Problem war aber, dass die KPD tief gespalten war. Es gab eine „linke“ Opposition (deren führende Köpfe Ruth Fischer, Ernst Thälmann und Arkadi Maslow waren) , die vor allem in Berlin, Hamburg und dem Ruhrgebiet stark war. Sie bekannte sich zwar auch in Worten zur Einheitsfront, verdächtigte die Parteiführung (der wichtigste KPD-Führer war Heinrich Brandler) aber ständig, dass es ihr in Wirklichkeit darum gehe, die KPD mit der SPD wieder zu vereinigen. Ein paar Zahlen können erklären, woher dieses tiefe Misstrauen kam: Bei den Reichstagswahlen 1920 bekam die KPD zwei und die USPD 81 Sitze. Beim USPD-Parteitag in Halle im Oktober 1920 beschlossen die Delegierten mit deutlicher Mehrheit die Vereinigung mit der KPD – aber nur 22 Abgeordnete folgten dem Parteibeschluss, so dass die Vereinigte Kommunistische Partei nur 24 statt 83 Abgeordnete hatte. Die restlichen 59 blieben zunächst als USPD-Fraktion. In den Monaten nach der Märzaktion trat die Mehrheit der KPD-Fraktion zu einer rechten Abspaltung (Kommunistische Arbeitsgemeinschaft) über, bis nur noch elf Abgeordnete in der KPD-Fraktion waren (danach wuchs sie durch Übertritte wieder auf 15). Die meisten KAG- und USPD-Abgeordneten traten bis Ende 1922 der SPD-Fraktion bei, die so von 113 auf 178 anwuchs (so groß war die SPD-Fraktion sonst nie in der Weimarer Republik). Beim Parteivorstand, USPD-Landtagsfraktionen, den Redaktionen der USPD-Parteizeitungen gab es ähnliche Entwicklungen. Es ist verständlich, dass nach solchen Erfahrungen mit ihren gewählten VertreterInnen Teile der Parteibasis empfänglich für Anschuldigungen waren, die jetzige Führung sei ebenfalls auf dem Weg zur SPD.
Außerdem machte die Parteiführung in der Tat politische Fehler, die Wasser auf die Mühlen der Opposition waren. So gab es nach der Ermordung von Außenminister Rathenau im Juni 1922 Massenproteste. Die KPD beteiligte sich zu Recht, versäumte es aber teilweise, ihre eigenen Forderungen offensiv zu vertreten. Auf dem Leipziger Parteitag im Januar 1923 war die Parteiführung ganz verliebt in die Formulierung, dass man an die Illusionen und Vorurteile der ArbeiterInnen anknüpfen müsse. Die Komintern erklärte, dass diese Formulierung „zweifelsohne falsch“ sei. Die KPD müsse vielmehr an die Bedürfnisse und Interessen der ArbeiterInnen anknüpfen, um die Illusionen im gemeinsamen Kampf zu überwinden.
Auf der anderen Seite bestand die Opposition darauf, dass die SPD nicht für Arbeiterinteressen kämpfen könne und die Einheitsfrontangebote deshalb nur ihrer Entlarvung dienten. Mit solchen Aussagen lieferte sie der SPD-Führung die beste Entschuldigung, Einheitsfrontangebote der KPD als billigen Trick abzutun. Sachlich richtiger und damit überzeugender wäre es gewesen, zu erklären, dass die SPD-Führung selbst dann, wenn sie kämpft, die Ziele und Methoden des Kampfs in einer Weise beschränkt, die den Kampf schwächen.
Einheitsfront-Organisationen
Einheitsfront bedeutete nicht nur Absprachen zwischen den Parteigremien auf verschiedenen Ebenen, zum Beispiel für gemeinsame Demonstrationen. Vor allem bedeutete es die Mitarbeit der KommunistInnen in sozialdemokratisch dominierten Gewerkschaften, Betriebsratsgremien oder Genossenschaften und den Kampf um Mehrheiten dort. Hier zeigten sich die Erfolge der Einheitsfrontpolitik besonders. Bei den Delegiertenwahlen im Deutschen Metallarbeiterverband (dem Vorläufer der IG Metall) im Juli 1923 hatte die KPD in den meisten Großstädten die Mehrheit (und teils deutliche Mehrheiten, z.B. in Berlin 54.000 zu 22.000 für die SPD). Den dominierenden Einfluss der KPD in der Berliner Betriebsräte-Bewegung hatte der Cuno-Streik im August gezeigt.
Gleichzeitig waren die Gewerkschaften jedoch durch die Inflation geschwächt, denn angesichts der Preissteigerungen verloren Tarifverträge an Bedeutung. Streikkassen waren wertlos, Hauptamtlichenlöhne ebenfalls. Zwischen den Sommern 1922 und 1923 verloren die Gewerkschaften zwei Millionen Mitglieder. Die Kontrolle der zentralen Gewerkschaftsapparate über die örtlichen und betrieblichen Gremien ging zurück. Diese Entwicklung vertiefte auch die Krise der SPD. Die KPD hingegen konnte ihren Einfluss in den Gewerkschaften und Betriebsräten ausbauen, überbetriebliche Betriebsratsausschüsse bilden und neue Massenorganisationen ausbauen, in denen KommunistInnen, SozialdemokratInnen und Parteilose zusammenarbeiteten, vor allem die Kontrollausschüsse und Proletarischen Abwehrorganisationen (PAO, oft Proletarische Hundertschaften genannt). Die Kontrollausschüsse sollten Händler unter Druck setzen, die Preise in nicht nachvollziehbarer Weise erhöhten oder Waren horteten, um die Preise hoch zu treiben.
Nachdem die Komintern erkannt hatte, dass ein revolutionärer Aufstand in Deutschland auf der Tagesordnung stand, bekamen die Proletarischen Hundertschaften besonderes Gewicht, weshalb zu ihnen auch mehr Zahlen vorliegen. Danach wurden alleine zwischen Mitte Mai und Mitte Juli 900 Hundertschaften gebildet, 192 rein kommunistische und 712 gemischte. Dabei waren in diesen Hundertschaften die Hälfte KommunistInnen, 30 bis 35 Prozent parteilos, 15 bis 20 Prozent SozialdemokratInnen. Die SozialdemokratInnen waren in einer Organisation aktiv, die ihr eigener Parteigenosse, der preußische Innenminister Severing, am 12. Mai 1923 verboten hatte! Die Mitglieder waren meist ehemalige Weltkriegsteilnehmer im Alter zwischen 25 und 30 Jahren. Das zentrale Problem der Hundertschaften war ihre mangelnde Bewaffnung. Es gibt zahlreiche historische Beispiele von Revolutionen, die fast mit bloßen Händen begonnen und in denen die Waffen erst im Kampf erobert wurden. Aber in Deutschland 1923 hatten die revolutionären ArbeiterInnen mehrere Jahre von opferreichen bewaffneten Kämpfen mit Polizei, Armee, Freikorps und anderen konterrevolutionären Banden hinter sich. Von ihnen waren die wenigsten noch bereit, sich ohne Waffen in den Kampf zu stürzen.
Arbeiterregierung
1922 hatte die Komintern die Parole der „Arbeiterregierung“ als Krönung der Einheitsfrontpolitik aufgestellt, als Angebot an die sozialdemokratischen ArbeiterInnen, nicht nur gemeinsam im Betrieb und auf der Straße zu kämpfen, sondern auch gemeinsam die Regierung zu übernehmen – vorausgesetzt, die Sozialdemokraten (oder Teile von ihnen) wären bereit, mit dem Kapitalismus zu brechen (die Kapitalisten zu enteignen, den kapitalistischen Staatsapparat zu entwaffnen, die ArbeiterInnen zu bewaffnen etc.)
Auch in Bezug auf diese Parole gab es Kontroversen in der KPD. Die Opposition warf der Parteiführung vor, dass sie damit eine Koalitionsregierung im Rahmen des bürgerlichen Staats bilden und auf dem Boden der Weimarer Verfassung handeln würde. Dass der Leipziger Parteitag im Januar beschlossen hatte, eine Arbeiterregierung würde „gestützt auf die vorhandenen Machtmittel des bürgerlichen Staates den Kampf führen“, bestärkte diese Befürchtungen. Die Komintern wies zu Recht auch diese Formulierung zurück und erklärte, dass eine Arbeiterregierung zwar von den bestehenden bürgerlichen Institutionen ausgehen könne, aber sobald sie mit der Umsetzung ihres Programms beginnt, die Machtmittel des bürgerlichen Staats zerbrechen und sich eigene Machtmittel schaffen müsse.
Auf der anderen Seite wollte die Opposition die Arbeiterregierung nur als Pseudonym für die Diktatur des Proletariats gelten lassen. (Heute werden die meisten LeserInnen bei dem Begriff „Diktatur des Proletariats“ an die stalinistischen Diktaturen denken. Aber damals verstand man darunter eine Rätedemokratie oder Arbeiterdemokratie, die zwar mit Mitteln staatlicher Gewalt eine Restauration des Kapitalismus verhindert, in der aber die Arbeiterklasse durch demokratische Strukturen die Staatsmacht ausüben kann.) Die Pseudonym-Interpretation hatte auch der Komintern-Vorsitzende Sinowjew vertreten, der 4. Weltkongress der Komintern 1922, der die Parole der Arbeiterregierung beschloss, war ihm darin aber nicht gefolgt, sondern hatte die Arbeiterregierung als mögliche Zwischenstufe zur Revolution aufgefasst.
Die KPD rüstet zum Entscheidungskampf
Die Führung der Komintern verstand erst nach dem Generalstreik gegen Cuno, dass in Deutschland eine objektiv revolutionäre Situation bereits herangereift war. Führende Mitglieder der KPD und der Komintern diskutierten in Moskau die Lage und das weitere Vorgehen. Der zögernde Heinrich Brandler wurde überzeugt, dass eine revolutionäre Lage herangereift war. Trotzki forderte eine sorgfältige Vorbereitung und warnte vor einer „Fehlgeburt im achten Monat“. Andere steigerten sich in eine Euphorie hinein und glaubten, den Sieg schon in der Tasche zu haben. Dabei ging die Führung der KPD von einer falschen Grundannahme aus, nämlich dass sich die Krise in den nächsten Monaten immer weiter verschärfen und die objektiven Bedingungen für eine Revolution immer besser werden würden. Tatsächlich waren sie im August am besten gewesen. Am 26. September beendete die Stresemann-Regierung den passiven Widerstand im Ruhrgebiet und nahm die Stabilisierung der Währung in Angriff. Das bedeutete nicht, dass die Leiden der ArbeiterInnen enden würden, sie nahmen aber andere Formen an. Während der Inflation boomte die deutsche Wirtschaft, die ihre mit Hungerlöhnen produzierten Waren auf dem Weltmarkt absetzen konnte. Jetzt führte die Währungsstabilisierung zu einer schweren Wirtschaftskrise. Es gab Massenentlassungen, in den wenigen Monaten von Juli bis Dezember 1923 stieg die Arbeitslosigkeit von 3,5 Prozent auf 28,2 Prozent an. In den Betrieben mischte sich die Angst vor Entlassung (von der natürlich politisch Missliebige besonders betroffen waren) mit der Hoffnung, dass das nur Umstellungsprobleme seien und es doch einen Ausweg auf kapitalistischer Grundlage geben würde. So gab es tatsächlich nur ein kurzes Zeitfenster, in dem eine Revolution in Deutschland möglich gewesen wäre. In dieser kurzen Zeit hätte die KPD eine grundlegende Umstellung ihrer Arbeitsweise durchführen müssen.
In Sachsen, wo innerhalb der SPD der linke Parteiflügel die Mehrheit hatte, gab es schon einige Monate eine von der KPD gestützte SPD-Minderheitsregierung. Dort war allerdings diskutiert worden, die Tolerierung zu beenden, weil auch in Sachsen die Polizei auf demonstrierende ArbeiterInnen schoss. Jetzt einigten sich KPD- und Kominternvertreter, dass stattdessen die KPD der SPD die Bildung einer gemeinsamen Arbeiterregierung anbieten sollte.
Bayern war damals ein Aufmarschgebiet des Faschismus. Darunter verstand man damals allerdings nicht nur die Nazis, sondern alle möglichen Monarchisten, Militaristen, rechten Paramilitärs (Freikorps), die die Weimarer Republik durch eine reaktionäre Diktatur ersetzen wollten. Die Nazis im engeren Sinne wurden damals meist „Völkische“ genannt. Die KPD erwartete, dass die Faschisten nach dem Vorbild von Mussolinis „Marsch auf Rom“ im Vorjahr demnächst nach Berlin marschieren würden, um eine rechte Diktatur zu errichten.
Arbeiterregierungen in Sachsen und Thüringen
Deshalb sollte die KPD in Sachsen und Thüringen in die Regierung eintreten, um diese Länder zu roten Bollwerken gegen den faschistischen Vormarsch zu machen. Von der Verteidigung gegen den Faschismus wollte man dann zum Angriff gegen den Kapitalismus übergehen. Auf Drängen Trotzkis wurde ein Aufstandstermin als Orientierungspunkt festgelegt: Am 9. November sollte ein Betriebsrätekongress zusammentreten und die entsprechenden Beschlüsse fassen.
Dieser Plan ging völlig schief. Zwar wurde in Sachsen eine Koalitionsregierung gebildet, deren Koalitionsvertrag die Bewaffnung von 50.000 bis 60.000 Arbeitern vorsah. Tatsächlich aber folgte der Regierungsbildung keine Mobilisierung und Bewaffnung der Massen. Teile der Arbeiterklasse waren wahrscheinlich sogar erstaunt darüber, dass die KPD nun eine Regierung mit der Sozialdemokratie bildete und sahen dies nicht, als Auftakt für eine revolutionäre Offensive. Statt dessen ging die Konterrevolution in die Offensive.
Schon davor, am 26.9., hatte die Regierung offiziell den passiven Widerstand im Ruhrgebiet abgebrochen und den Ausnahmezustand verhängt. Damit ging die vollziehende Gewalt an den Reichswehrminister Geßler und die Wehrkreiskommandeure der Reichswehr über. General Müller übernahm als zuständiger Wehrkreiskommandeur in Sachsen den Oberbefehl und verkündete am 29. September den „verschärften Belagerungszustand“. Am 5.10. verbot er alle kommunistischen Publikationen in Sachsen. Als am 10.10. die KPD in die sächsische Regierung eintrat, hatte die kaum noch Befugnisse. Am 13.10. verbot Müller die Proletarischen Hundertschaften und unterstellte die sächsische Polizei seinem Befehl. Am 16. Oktober wurde auch in Thüringen eine Arbeiterregierung gebildet. Wenige Tage später beschloss die Reichsregierung die „Reichsexekution“ gegen Sachsen. Die SPD machte ihrer Mitgliedschaft weis, dass der Einmarsch der Reichswehr in Sachsen dem Schutz vor der bayrischen Konterrevolution diene. Tatsächlich stürzten der SPD-Reichspräsident Ebert und die Reichsregierung unter SPD-Beteiligung die demokratisch gewählte SPD-geführte sächsische Regierung.
Chemnitz und Hamburg
Angesichts dieser Eskalation wollte die KPD den Aufstandstermin vorverlegen. Ein zufällig am 21.10. geplanter wirtschafts- und sozialpolitischer Kongress von Arbeiterorganisationen in Chemnitz sollte einen Generalstreik beschließen, der das Startsignal zum Aufstand werden sollte. Als die SPD-Delegierten mit Auszug aus dem Kongress drohten, verzichtete die KPD. Sie erwartete zu diesem Zeitpunkt noch, dass sich die objektiven Bedingungen für eine Revolution in den kommenden Wochen weiter verbessern würden und in ein paar Wochen oder Monaten eine Revolution mit geringeren Opfern möglich sein würde.
Nur in Hamburg begann am 22.Oktober ein Aufstand, der nach zwei Tagen abgebrochen werde. Es gibt verschiedene Theorien, wie es dazu kam – meist wird davon ausgegangen, dass die Hamburger KPD einfach nicht rechtzeitig informiert wurde. Interessanter sind seine Erfahrungen: Von etwa 14.000 KPD-Mitgliedern in Hamburg beteiligten sich nur wenige Hundert an den bewaffneten Kämpfen. Dazu kamen noch rund 1.000 Männer und Frauen, die Barrikaden errichteten, die Kämpfer mit Verpflegung versorgten und über das Vorgehen der Polizei informierten – was oft noch gefährlicher war. Es gibt aber viele Belege für die großen Sympathien für die Aufständischen bis in die Mittelschichten hinein. Das zeigt, dass der Grund für die geringe Beteiligung am Aufstand der Mangel an Waffen war und die fehlende Bereitschaft, sich ohne Waffen und lokal isoliert in einen Kampf auf Leben und Tod zu stürzen – und nicht Ablehnung einer Revolution.
Trotzdem war es ein Fehler, im Herbst 1923 neben der technischen Vorbereitung des Kampfes die politischen zu vernachlässigen. Die KPD wollte die ganze Kraft für den Entscheidungskampf aufsparen und ließ dabei zu, dass die Reaktion in die Offensive ging, ohne dass die ArbeiterInnen auch nur nennenswerten Protest gegen die Einschränkung ihrer demokratischen Rechte organisiert hätten.
Die – außerhalb Hamburgs kampflose – Niederlage demoralisierte. Dazu kam die anschwellende Arbeitslosigkeit, die die Kampfkraft lähmte. Statt für die Revolution zu kämpfen, schluckten die Massen die Verlängerung der Arbeitszeit von acht auf zehn Stunden fast kampflos.
Historischer Wendepunkt
Die deutsche Niederlage hatte gravierende Auswirkungen auf die Sowjetunion. Dort hatte die revolutionäre Entwicklung in Deutschland die Hoffnung auf Überwindung der eigenen Isolation erzeugt. Die sowjetischen Rohstoffe und Agrarprodukte und die deutsche Industrie hätten sich ausgezeichnet ergänzt. Die Entwicklung zum Sozialismus wäre international kaum noch zu stoppen gewesen. Die Enttäuschung der ArbeiterInnen über das Ausbleiben der deutschen Revolution bedeutete einen großen Schritt zur Herrschaft der Bürokratie unter Stalin. Wenn im Oktober 1923 der Kapitalismus in Deutschland gestürzt worden wäre, wäre nicht nur die Entwicklung des deutschen Faschismus im Keime erstickt worden, sondern auch die des Stalinismus. Mit anderen Worten: Der Menschheit wäre der Zweite Weltkrieg erspart geblieben, wir würden schon lange im Sozialismus leben, sowohl der Name Hitler als auch der Name Stalin wäre nur wenigen FachhistorikerInnen bekannt. Man kann sagen, dass es wenige Ereignisse in der Geschichte gab, die so tiefgreifende Folgen hatten wie das Ausbleiben dieses Ereignisses.