Aufstieg und Fall der Piratenpartei Deutschlands
Von Inci Arslan, Berlin
Zwischen September 2011 und Mai 2012 ist Erstaunliches passiert. Die Piratenpartei Deutschland – eine bis dahin kleine und bedeutungslose Partei zog mit 8,9% in das Berliner Abgeordnetenhaus und daraufhin in drei weitere Landtage (im März 2012 bei Landtagswahlen im Saarland mit 7,4 %, im Mai 2012 bei Landtagswahlen in Schleswig Holstein mit 8,2 % und im Mai 2012 bei den Landtagswahlen NRW mit 7,8 %) ein. DIE LINKE wiederum verlor ihre Landtagsfraktion in NRW und Schleswig-Holstein, in beiden Fällen blieb sie deutlich unter den erforderlichen 5% der Stimmen.
Heute verfügt die Piratenpartei über 45 Landtagsabgeordnete und 193 kommunale Mandate.
Darüber hinaus wuchs die Mitgliedschaft der Piratenpartei von 12 000 im Juni 2011 auf 34 000 Mitglieder im September 2012 an. Im Juni 2013 hat die Piratenpartei 32 000 Mitglieder, wobei 10 600 von ihnen einen Mitgliedbeitrag zahlen und damit stimmberechtigt sind.
2006 war die Partei mit nur 53 TeilnehmerInnen in Berlin gegründet worden und spielte zunächst keine größere Rolle, weder auf der Straße noch bei Wahlen. 2% bei den Bundestagswahlen 2009 brachten ihr erstmals geringe Aufmerksamkeit ein, dennoch rangierte die Partei an der Grenze zur Bedeutungslosigkeit. Dies änderte sich schlagartig in den Wochen vor der Abgeordnetenhauswahl in Berlin im Herbst 2011.
Sowohl die deutschsprachigen, als auch die internationalen Medien stürzten sich förmlich auf das Phänomen, kaum ein Tag verging ohne neue Reportagen über diese „völlig neue“ Partei und die Forsa-Sonntagsfrage zeigte die Partei im Frühjahr 2012 mit Prozentzahlen im zweistelligen Bereich an.
Europäische Dimension
Die Piratenpartei ist kein deutsches Phänomen. In vielen europäischen Ländern fanden in den letzten Jahren Gründungen von Piratenparteien statt, abheben konnten diese nicht. Bis auf den Einzug von Kandidaten der schwedischen Piratpartiet ins Europaparlament 2009 (ein Erfolg, der auch dort bei anderen Wahlen nicht wiederholt werden konnte) blieben diese Piratenparteien ohne nennenswerte Erfolge.
Betrachtet man den kurzfristigen Erfolg der Piratenpartei jedoch vor allem als den einer Anti-Partei und ihre Wahl als Protestwahl gegen Politik und Auftreten der etablierten Parteien, dann gibt es durchaus Phänomene, die dem rasanten und plötzlichen Aufstieg der deutschen Piratenpartei sehr ähnlich sind. Dazu gehören Jón Gnarr und seine Besti flokkurinn (die »Beste Partei« machte Wahlkampf mit Forderungen wie der nach einem Eisbär für den städtischen Zoo, kostenlose Badetücher an allen Thermalquellen und ein drogenfreies Parlament bis zum Jahr 2020; seit April 2012 ist die Partei Beobachter bei Pirate Parties International), die bei den Kommunalwahlen 2010 in Reykjavík/Island mit 34,7 Prozent stärkste Partei wurde und seitdem in einer Koalition mit den Sozialdemokraten regiert.
Und auch 25% für die Fünf-Sterne-Bewegung Beppe Grillos in Italien zeigen, dass es einen Nährboden für Entstehung und Aufstieg solcher Anti-Parteien – vor dem Hintergrund von Krise und Versagen der etablierten Parteien – gibt.
Auch in Deutschland ist dieses Phänomen letztlich nicht wirklich neu, das Austesten der Piraten ist nicht das erste Symptom; seit Jahren ist eine sinkende Bindung an Parteien und eine damit verbundene zunehmende Instabilität zu beobachten. So wurden in den letzten Jahren die unterschiedlichsten Kräfte getestet: DIE LINKE konnte nach ihrer Gründung zunächst über 11% bei der Bundestagswahl 2009 erreichen, bevor sie in Umfragen später auf mickrige 6% abstürzte. Die FDP legte einen Höhenflug bei den letzten Bundestagswahlen 2009 hin und erzielte knapp 15% – nur um dann im Umfragen-Nirwana vor einem Jahr bei 2% zu landen, bevor eine Medienkampagne der Herrschenden und der CDU sie zurück über die 5-%-Hürde hiefte. Die Grünen explodierten rund um Fukushima und erzielten bis zu 25% (2011 in Baden-Württenberg), um nun wieder bei 15% zu landen.
Anti-Parteien-Image
In Italien wie auch in Island waren beziehungsweise sind viele Menschen enttäuscht von Parteien und PolitikerInnen. Die Wirtschaftskrise und ihre Folgen, Politik im Interesse von Wirtschaft und Banken, Filz, Korruption und Abgehobenheit haben eine im Laufe der 1990er Jahre gewachsene Parteienskepsis noch verschärft, so dass heute offenbar viele – gerade junge – Menschen lieber gar nicht wählen gehen oder aber eben eine vorgebliche Anti-Partei wählen. Die Nichtexistenz von linken Massenparteien beziehungsweise ihr Versagen, wie das der Rifondazione Communista in Italien, die durch ihre Regierungsbeteiligung Mitte der 00er-Jahre letztlich auch nur eine Politik „wie alle anderen“ verfolgte und ihre Rechnung dafür mit unter 3% bei den letzten Wahlen serviert bekam, macht es möglich, dass Anti-Parteien wie die 5-Sterne oder die Piratenpartei in Deutschland die Möglichkeit haben, ein bestehendes Vakuum – wenn auch nur kurzfristig – auszufüllen.
Viele Menschen, die der Piratenpartei ihre Stimme gegeben haben, haben in Umfragen als Hauptgrund für ihre Wahl angegeben, dass diese „anders als alle anderen Parteien“ sei. „Sachkompetenz“, also ein Vertrauen darin, dass die Partei die Probleme ihrer WählerInnen zu vertreten oder gar zu lösen in der Lage ist, haben wenige als entscheidend für die Wahl genannt – im Gegenteil, viele trauten den Piraten gar nicht zu eine kompetente Haltung zu wichtigen Fragen einzunehmen, Netzthemen spielten tatsächlich für die wenigsten eine ausschlaggebende Rolle.
Der Wahlkampf der Piraten in Berlin war vor allem einer, der durch massive Plakatwerbung zum Ausdruck brachte: Hier kandidieren ganz normale Leute, keine abgehobenen Politikprofis, wir sind neu, anders, „wir haben die Fragen, ihr die Antworten“ (Spruch eines Wahlplakates).
Mit Fug und Recht lässt sich sagen, dass die Piraten zu einem großen Teil von einer Antiestablishment-Stimmung und einem tiefen Misstrauen gegenüber dem Politikbetrieb, den Parlamenten und allen anderen Parteien – viele der WählerInnen waren Erst- oder ehemalige NichtwählerInnen – profitieren konnten.
Die Arbeiterklasse und die Piraten
Die Piraten haben mit der Arbeiterklasse nicht viel am Hut, sie vertreten keinen Klassenstandpunkt, verstehen sich ausdrücklich nicht als Partei der Arbeiterklasse und behaupten sogar, weder rechts noch links zu sein, sondern propagieren die sogenannte Postideologie.
Diese Postideologie ist jedoch auch nichts weiter als eine neue Form der Ideologie: Zu behaupten, Klassengegensätze gäbe es nicht mehr und damit auch keine Notwendigkeit, einen Standpunkt zur sozialen Frage einzunehmen, ist erstens nicht neu und zweitens eine Ideologie mit der man letztlich doch wieder nur diejenigen, die Macht und Einfluss haben, stützt.
Es ist schwer, die Piraten politisch genau zu „verorten“, zu vielen Themen machen sie schlicht keine Aussagen, zu anderen Fragen gehen die Positionen, die ihre RepräsentantInnen (die solche zu sein abstreiten, als diese wahrgenommen werden sie dennoch) vertreten recht weit auseinander. Der aktuelle Parteivorsitzende Bernd Schlömer – Regierungsdirektor im Verteidigungsministerium – hat sich offen zu den Auslandseinsätzen der Bundeswehr bekannt (auch wenn er ankündigte, sich in dieser Frage an die Beschlüsse seiner Partei zu halten).
Rein programmatisch betrachtet sind die Piraten wohl am ehesten als linksliberal-soziallibertäre Partei zu bezeichnen, auch wenn merkbare regionale Unterschiede – zumindest bei den Programmen – bestehen.
Das Verhältnis von Piraten und der LINKEn
Die Zuwendung zu den Piraten, vor allem durch junge WählerInnen, viele von ihnen Nicht- bzw. ErstwählerInnen, zeigt wohl weniger die Notwendigkeit einer Piratenpartei als vielmehr die Enttäuschung über die etablierten Parteien und die Schwäche der linken Parteien.
Der Aufstieg der Piraten – auch wenn er von kurzer Dauer war – ist also eine deutliche Warnung an DIE LINKE und sollte auch als solche diskutiert werden. Nicht nur, dass DIE LINKE viele Stimme direkt an die Piraten verloren hat – dass so viele Erst- und NichtwählerInnen sich von der LINKEn überhaupt nicht angesprochen fühlen und stattdessen die Piraten gewählt haben, sollte zu denken geben.
Lehren ziehen…
Doch was heißt das?
Die SAV als marxistische Kraft innerhalb der LINKEn streitet für eine kämpferische, aktive, sozialistische und konsequent im Sinne der Arbeiterklasse agierende Partei. Den Aufstieg der Piraten – gerade auch die europäischen Lehren verarbeitend – als ernsten Arbeitsauftrag an DIE LINKE zu sehen, diese nach außen zu wenden und zu einer offenen, kämpferischen und nicht-etablierten Partei zu machen, ist sicherlich die richtige Antwort auf die Frage, wie man mit dem Phänomen Piraten umgehen soll.
Man kann die Piraten einer umfangreichen Kritik von links unterziehen: ihr Programm ist in jeder Hinsicht – selbst im Bereich ihrer sogenannten Kernthemen: Transparenz, Netzpolitik und Datenschutz – unzureichend, zu den entscheidenden Problemstellungen der Arbeiterklasse haben sie nichts anzubieten. Ihre basisdemokratischen Vorstellungen von Demokratie entpuppen sich bei genauerem Hinsehen als eher undemokratisch und unsozial (bei den Parteitagen, zu denen nicht delegiert wurde konnten beispielsweise theoretisch alle hinfahren, praktisch scheitert so ein Unterfangen häufig an den finanziellen Möglichkeiten; die sagenumwobene Software Liquid Feedback nutzen wenige, lange Debatten im Netz können nur diejenigen führen, die nicht Arbeit und Familie haben…), vor allem aber als völlig ungeeignet, um aktiv in die gesellschaftlichen Ereignissen eingreifen zu können.
Und trotzdem: die Aufgabe von Linken und SozialistInnen kann es nicht sein, die Piraten öffentlich und/oder frontal anzugreifen; es geht vielmehr darum, zu verstehen, weshalb sie überhaupt so erfolgreich sein konnten und die Lehren für die eigene Politik zu ziehen.
Perspektiven
Die Entwicklung der Piraten seit dem Einzug in vier Landesparlamente ist die einer Partei, die sich in Siebenmeilenstiefeln an den herrschenden Politikbetrieb anpasst. Nicht nur ihre MandatsträgerInnen unterliegen keiner Art von Abgabenpflicht (wie es beispielweise das CWI praktiziert), sie waren auch nicht in der Lage zu entscheidenden gesellschaftlichen Themen Stellung zu beziehen geschweige denn ihre parlamentarischen Positionen zu nutzen um außerparlamentarische Bewegungen und Proteste zu unterstützen.
Auf dieser Grundlage fand eine gewisse Desillusionierung statt und die Piraten konnten bei den Landtagswahlen in Niedersachen im Januar 2013 erstmals seit ihrem Aufstieg nicht in ein Landesparlament einziehen (DIE LINKE übrigens auch nicht), in Umfragewerten liegt die Piratenpartei bundesweit seit langem wieder bei 2 %, damit sind sie auf einen Kern von WählerInnen zurückgefallen, der auch schon bei den Bundestagswahlen 2009 bereit war, Piraten zu wählen und für den die netzpolitische Ausrichtung der Partei relevant ist.
Das Flair einer Alternative, einer anderen Partei scheint verflogen und ein Einzug in den nächsten deutschen Bundestag im September 2013 ist damit sehr unwahrscheinlich geworden.