„Eine neue Generation ist in Bewegung gekommen“

lsrInterview mit Markus Kolbrunner aus Brasilien

 

Markus Kolbrunner lebt in Sao Paulo und ist Mitglied der Organisation Liberdade Socialismo e Revolucao (LSR). LSR ist die Schwesterorganisation der SAV in Brasilien und arbeitet in der breiten sozialistischen Partei P-SoL mit. LSR-AktivistInnen beteiligten sich an den Massenprotesten in diesem Sommer. Mit ihm sprach Alexandra Arnsburg am Rande der diesjährigen Sommerschulung des Komitees für eine Arbeiterinternationale (CWI).

 

Wir haben die Bilder und Berichte über die brutale Polizeigewalt gegen friedliche DemonstrantInnen gesehen und die beeindruckende Bewegung, die die Regierung zwang am 20. Juni die Fahrpreiserhöhung zurückzunehmen (siehe Artikel auf sozialismus.info). Konnte diese Bewegung ihre Dynamik beibehalten und die Proteste fortsetzen?

 Ja und nein. Die Bewegung entwickelte sich sehr spontan, aber sie hat sich gegenüber weiteren Forderungen geöffnet, weil die Menschen für ein besseres Leben kämpfen, z.B. für bessere Bildung, ein besser ausgestattetes Gesundheitssystem, bessere Wohnungen. Aber die Bewegung war nicht gut organisiert. Kleine Gruppen, die ausschließlich gegen die Fahrpreiserhöhung mobilisierten, riefen dazu auf. Es gab keine SprecherInnen und kein Programm. So war es schwierig auf diesem Level weiterzumachen. Aber die Bewegung hat viele inspiriert, weil sie gewonnen hat. Eine neue Generation, die gegenüber Protesten und Demonstrationen sehr skeptisch eingestellt war, weil sie es für Zeitverschwendung und sinnlos erachtete, konnte nun sehen, dass ein Massenkampf etwas erreichen kann. Es fanden einige Demonstrationen hinterher statt, vor allem gegen die Polizeigewalt. Kürzlich wurden zehn Menschen in den Favelas von Rio durch Polizisten getötet. Dagegen haben mehrere tausend Menschen demonstriert. Es gab wöchentliche Demos gegen den Gouverneur von Rio de Janeiro, der die Proteste verurteilte. Jedoch kam heraus, dass Politiker die öffentlichen Strukturen für ihre privaten Zwecke verwenden. Dieser Gouverneur nutzte einen der sieben zur Verfügung stehenden Helikopter, um seine Familie zu kutschieren, während sich Millionen Menschen in Brasilien den öffentlichen Nahverkehr nicht leisten können!

 Letztes Jahr gab es einen großen Anstieg von Streiks im öffentlichen Dienst und in Teilen der Privatwirtschaft. Welche Rolle spielt die CUT und alternative gewerkschaftliche Organisationen heute in der Bewegung und welche Forderungen werden erhoben?

 Letztes Jahr gab es einen großen Streik von etwa 30.000 Beschäftigten des öffentlichen Dienstes, ungefähr genauso viele haben im Privatsektor gestreikt. In den letzten Jahren hatte es keine Lohnerhöhungen im öffentlichen Dienst gegeben. Ein wichtiger Schritt dieses Jahr war der landesweite Aktionstag, zu dem Gewerkschaftsorganisationen am 11. Juli 2013 aufgerufen haben. Das hat viele verschiedene wichtige Dinge auf die Agenda gerufen, z.B. dass mehr Geld nötig ist für Bildung, Verkehr und Gesundheit und auch die Forderung nach Rücknahme einiger Kürzungsmaßnahmen wie die Rentenkürzung. Auch die Frage nach einer kürzeren Arbeitszeit wurde aufgeworfen. Die Menschen arbeiten 44 Stunden in der Woche, Samstag eingeschlossen. Die Hauptgewerkschaft die CUT, deren Führung stark mit der PT (Arbeiterpartei) verbunden ist, will nicht gegen die Regierung vorgehen. Das ist ein großes Problem. Im Juli waren zehntausende Arbeiter der Metallindustrie, der Bauindustrie und Beschäftigte im Transportwesen auf den Straßen. Auch wenn das kein Generalstreik war, war es sehr wichtig. 66 Bundesstraßen wurden blockiert und bei einigen Demonstrationen im Norden waren mehr als 20.000. Die Gewerkschaften sollten nun für einen 24-stündigen Generalstreik aufrufen, um die Bewegung zu vereinen. Wir arbeiten in dem linken Gewerkschaftsverband CSP-Conlutas, der viel kleiner als die CUT ist und der hauptsächlich ehemalige Mitglieder der CUT organisiert. Es gibt noch keine wirkliche Einheit, da es noch drei andere kleinere Initiativen gibt.

 Wofür tritt die LSR in der Bewegung ein?

 Markus: Die Proteste müssen demokratischer organisiert werden, z.B. durch die Wahl von Komitees und ähnlichen Maßnahmen. Wir rufen dazu auf, eine landesweite Konferenz durchzuführen, wo ein Programm und ein Aktionsplan auch für den nächsten Aktionstag Ende August ausgearbeitet werden soll. Der letzte Aktionstag wurde von oben ausgerufen. Es sollten alle, auch die sozialen Bewegungen und linke Parteien mit einbezogen werden, um eine wirkliche Breite zu erreichen. Momentan gibt es auch Proteste gegen den Papstbesuch am Rande eines christlichen Jugendmarschs. Die DemonstrantInnen fordern Abtreibungsrechte. Die PT hat nun verstanden, dass die Proteste nicht enden werden, sondern bis zur Fußballweltmeisterschaft nächstes Jahr weitergehen werden und dass sie etwas tun muss.

 Wie geht die PT mit der Bewegung um? Einerseits kommt sie ja aus der Tradition der Arbeiterbewegung und versucht sich ein linkes Image zu bewahren, andererseits ist sie Regierungspartei.

Die PT hat immer noch starke Verbindungen zu AktivistInnen und zu den Gewerkschaften. Sie versucht Einfluss auf die Bewegung zu nehmen indem sie sich als Teil von ihr präsentiert, auch um zu verhindern, dass die Bewegung sich nicht stärker gegen die Regierung richtet. Offiziell sagt die Regierung, es sei gut, dass Menschen protestieren. Aber in den letzten zehn Jahren gab es eine enorme Kriminalisierung von Protesten und Polizeigewalt. Sie veränderten die Rechtsprechung zu Ungunsten von DemonstrantInnen und setzen die Polizei gegen Demos ein. Die PT hat eine Basis in den sozialen Bewegungen, aber es wird nun viel schwieriger für sie sein, die Proteste zurückzuhalten. Für viele Menschen ist es nun klarer geworden, dass die Regierung nicht auf ihrer Seite steht. Die Regierung hat ein Gesetz erlassen, wodurch große Landbesitzer Land abgeben müssen, welches den Landlosen gegeben wurde. Die Bewegung der Landlosen (MST) hat nun damit zu kämpfen, dass es diese kleine Reform gab, aber dennoch Proteste nötig sind, um die Lebenssituation tatsächlich zu verbessern. Sie besetzen weiterhin Land und es werden Anführer der Bewegung durch Großgrundbesitzer getötet. 77 Prozent der Lebensmittelversorgung kommt von kleinen Farmen. Die großen Betriebe arbeiten für den Export. Auch in dieser Frage wird es schwieriger für die Regierung, sie befindet sich im Widerspruch. Das wird noch mehr verkompliziert durch die ökonomische Situation in Brasilien, wo das Wachstum deutlich nachgelassen hat und es eine hohe Arbeitslosigkeit gibt. Bisher konnten die Leute noch alles bezahlen, auch wenn es teuer war, nun verlieren immer mehr ihre Jobs. Deshalb gab es letztes Jahr die größte Streikbewegung seit 16 Jahren.

Haben wir große Proteste zur WM zu erwarten?

 Es gibt bereits Proteste gegen die Politik der FIFA. Die Menschen verstehen, dass Fußball nicht alles ist. Die bisherige Polizeigewalt konnte die Proteste nicht stoppen, also hat die Regierung spezielle Gesetze für die Zeit der WM erlassen, um die „Sicherheit“ zu gewährleisten. Aber auch um die Interessen der Konzerne durchzusetzen: In einem Radius von zwei Kilometern sollten zum Beispiel nur große Firmen wie McDonalds Essen verkaufen dürfen. Das musste zurückgenommen werden. Die Menschen sehen, dass Milliarden verschlungen werden. Anfangs hieß es, die Kosten würden sich auf 700 Millionen Euro belaufen, doch am Ende werden es mindestens 3,2 Milliarden sein. Man kann gar nicht genau sagen, wie viel es sein wird. Der Umbau der Fußballstadien hat schon eine Milliarde gekostet. Viele Infrastrukturprojekte haben Verzug, d.h. es könnte auch ein riesiges Chaos eintreten. Dazu kommt erschwerend die schlechte wirtschaftliche Situation Brasiliens. Was auch wichtig sein wird, ist dass Brasiliens Mannschaft gewinnt, ansonsten kommt die Regierung auch in Erklärungsnot. (lacht)

 Zusätzlich zu den Notstandsgesetzen, wie bereitet sich die Regierung auf die Proteste vor?

 Während der Proteste hat sie aufgerüstet und Wasserwerfer gegen die DemonstrantInnen eingesetzt. In den Favelas nutzt sie die gleichen Aufstandsbekämpfungswagen, die sie von der Diktatur in Südafrika gekauft hat. Die Regierung und der Staat bereiten sich auf einen harten Klassenkampf vor. Darauf ist die Linke nicht ausreichend vorbereitet. Die Bewegung dieses Jahr war ein Erwachen und ein Warnsignal dafür, die sektiererischen Kämpfe aufzugeben und eine breite linke Einheit zu bilden. In der Bewegung gab es eine breite Stimmung gegen Parteien und wenn die Linke hier kein klaren Ausweg aufzeigt, wird die Energie dieser gerade erwachten Bewegung verloren gehen.