Rücknahme von Fahrpreiserhöhungen in São Paulo, Rio de Janeiro und vielen anderen Städten
Die Absenkung der Fahrpreise im Nahverkehr um 20 Centavos in São Paulo und anderen Städten stellt einen wichtigen Sieg für die Protestbewegung dar – nachdem die große Mehrheit der Bevölkerung fast 20 Jahre unter der neoliberalen Offensive leiden musste.
von Andre Ferrari, Liberdade Socialismo e Revolução (LSR, Schwesterorganisation der SAV in Brasilien)
Am 17. Juni waren landesweit über 300.000 Menschen auf der Straße gewesen, fast 200.000 demonstrierten allein in São Paulo und Rio de Janeiro. In Brasilia wurde das Kongressgebäude besetzt, ebenso das Rathaus von São Paulo.
Radikale Kampfformen
In São Paulo blockierten die DemonstrantInnen die wichtigsten Schnellstraßen und marschierten zur Ponte Estaiada, einem Denkmal reicher Immobilienspekulanten. In Rio de Janeiro kam es zu zahllosen Verhaftungen. In Belo Horizonte, wo ein Fußballspiel des Konföderationen-Pokals stattfand, waren draußen, vor dem neuen Stadion mehr Menschen, um zu protestieren, als im Stadion selber.
Nachdem am 19. Juni Autobahnen lahmgelegt wurden, die MTST (Bewegung der obdachlosen ArbeiterInnen) mit der aktiven Unterstützung von LSR-Mitgliedern große Demonstrationszüge in den Außenbezirken von São Paulo organisierte und auch in den Armenvierteln am Stadtrand Proteste aufflammten, entschieden sich die Regierungsbehörden am 20. Juni, die Fahrpreiserhöhungen wieder einzukassieren.
Risse in der Regierungspartei
Der ehemalige Präsident Brasiliens, Lula, seine Nachfolgerin Dilma Rousseff und der Präfekt von São Paulo, Fernando Haddad, (alles Mitglieder der Arbeiterpartei PT) kamen zu einem Krisentreffen zusammen. Am nächsten Morgen bezeichnete Haddad eine Fahrpreissenkung als Populismus. Doch schon kurz darauf knickte er ein.
Die Wandlung der PT zu einer kapitalistischen Partei – verbunden mit der Politik des Gewerkschaftsdachverbandes CUT, der als eine Art Transmissionsriemen der Regierung fungiert – hat zu einer weit verbreiteten Anti-Parteien-Stimmung geführt. Dies versuchten rechte Kräfte sowie Polizeispitzel bei den Protesten auszunutzen, die Linke mit Transparenten und Fahnen sogar körperlich attackierten. Es war wichtig, dass die linke Partei P-SOL, Kräfte in der sozialen Bewegung, verschiedene gewerkschaftliche Organisationen und andere, darunter auch anarchistische Gruppen, ihr Recht verteidigten, eigene Transparente bei den Protesten zu tragen. Alles andere hätte nur dazu geführt, dass die Rechte in der Bewegung an Einfluss gewinnt.
Wie weiter?
Die LSR tritt jetzt für die Organisierung von Versammlungen ein, um ein Programm auszuarbeiten – womit sich auf dem Erfolg bei den Nahverkehrstickets aufbauen ließe. Die Regierungen, die eine Absenkung ankündigten, signalisierten im gleichen Atemzug Kürzungen bei den Sozialprogrammen. Stattdessen sollte das Geld von den Konten der privaten Verkehrsunternehmen geholt werden.
Die Losung nach Nulltarif im öffentlichen Nahverkehr ist eine alte Forderung der PT, die von der Partei im Zuge ihres Rechtsschwenks fallen gelassen wurde. Diese Forderung sollte wieder aufgegriffen und mit der Forderung nach einer Überführung der großen privaten Verkehrsbetriebe in öffentliches Eigentum verknüpft werden. Die nötigen Mittel für Betrieb und Erneuerung könnten über eine Einstellung der Schuldenzahlungen der Bundesstaaten und Kommunen an die Rouseff-Regierung locker gemacht werden. Schließlich sind es die Banken und Spekulanten, die damit Reibach machen.
Bewegung mit anderen Kämpfen verbinden
Es wäre sinnvoll, den Brückenschlag zur Kampagne gegen die kriminellen Machenschaften bei der Vorbereitung auf die Fußball-WM im nächsten Jahr zu suchen. Hier droht die Vertreibung tausender Familien. Millionen werden für den Bau neuer Stadien ausgegeben, während es zu wenige Schulen und Krankenhäuser gibt. Es ist auch notwendig, die Forderung nach der Verteidigung demokratischer Rechte aufzustellen. Denn mit der Durchführung der WM droht ein Ausnahmezustand.
Eine zentrale Aufgabe für die Bewegung besteht darin, die Arbeiterklasse einzubeziehen und ihre Kampfmethoden aufzugreifen. Die Frage nach einem 24-stündigen Generalstreik wird früher oder später auf der Tagesordnung stehen, wenn die Bewegung anhalten und stärker werden sollte.