Was nicht passt, wird passend gemacht …
Die „Welt am Sonntag“ widmete sich Anfang Februar ausgiebig der „neuen Volkskrankheit ADHS“. Laut Barmer GEK hat sich die Anzahl der betroffenen jungen Menschen zwischen 2006 und 2011 um 42 Prozent erhöht.
von Max Höhe, Köln
Das Thema „schwierige Kinder“ kommt immer wieder von Neuem auf. Nach Möglichkeiten, das Lernumfeld (und damit gleichzeitig die Arbeitsbedingungen des pädagogischen Personals) zu verbessern, wird hingegen kaum noch gefragt. Im Gegenteil soll nun die Integration lernbehinderter Kinder aus den Förderschulen in die Regelschulen, die sogenannte Inklusion, mit verminderten Ressourcen vonstatten gehen.
Zum Umgang mit der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) gibt es sehr unterschiedliche Auffassungen. Die einen meinen, die Diagnose und entsprechende Medikation helfe Kindern mit neurologischer Beeinträchtigung beim Filtern der wahrgenommenen Reize. Andere stellen hingegen fest, dass es sich bei „Ritalin“, dem am häufigsten verabreichten ADHS-Medikament, im Prinzip um nichts anderes als Kokain in geringerer Dosis handelt. Das ist auch der Grund, weshalb das Medikament seit 1971 dem Betäubungsmittelgesetz unterliegt.
Claudia Becker stellt in ihrem Artikel „Gestresster Nachwuchs“ (DIE WELT vom 1. Februar) die Frage, „ob es tatsächlich immer mehr Kinder gibt, die derart verhaltensauffällig sind, dass auf sie gleich die Diagnose ADHS zutrifft“. Sie ergänzt: „Sind es wirklich die Kinder, die Grenzen überschreiten? Oder setzen Lehrer, die ihr Pensum durchziehen müssen, und Eltern, die von ihren Kindern erwarten, dass sie funktionieren, die Reizschwelle zu niedrig an?“
Menschen an Bedingungen anpassen, oder …
Im Kern geht es eigentlich darum, welchen Erwartungen ein (junger) Mensch heute gerecht werden muss. Sollte sich ein (junger) Mensch überhaupt den ihm gegebenen Bedingungen anpassen müssen oder müssten die Bedingungen nicht umgekehrt an den Menschen angepasst werden?
In NRW lautete die Antwort des Schulministeriums darauf, dass angesichts begrenzter (auch finanzieller) Ressourcen zum Beispiel ein besserer Betreuungsschlüssel in Kitas nicht möglich sei. Am Ende wird die „Erkenntnis“ stehen, dass der Einsatz von Medikamenten es den betroffenen Kindern erleichtert, sich ihrer vermeintlich unveränderlichen Umgebung anzupassen
Das Geschäft mit dem Stress
2011 galten 750.000 Deutsche als ADHS-krank (davon 620.000 Kinder und Jugendliche). Der auch in „Ritalin“ enthaltene Wirkstoff Methylphenidat wurde in Deutschland im Jahr 2000 52 Mal öfter verschrieben als noch Anfang der Neunziger. Sechs Konzerne, die das Medikament unter diversen Namen anbieten, teilen sich den Markt auf.
Wenn man weiß, dass der Pharmariese Novartis allein mit „Ritalin“ im Jahr 2010 weltweit auf einen Umsatz von 464 Millionen Dollar kam, wirft dies die Frage auf, inwieweit zur Freude der Pharmafirmen „Doping“ betrieben und in welchem Maße tatsächlich eine Krankheit zu heilen versucht wird?
Gerald Hüther, Professor für Neurobiologie an der Psychiatrischen Uni-Klinik Göttingen, antwortet auf die Frage nach den körperlichen Risiken von „Ritalin“: „Sie betrachten das Problem falsch, nämlich rein medizinisch. Ich frage Sie: Was kann man sich selbst Schlimmeres antun, als sich so zu funktionalisieren? Als sich zum Sklaven dieses Bildungssystems zu machen?“ (DIE ZEIT, „Ich bin ein Zombie, und ich lerne wie eine Maschine“, 2. April 2009). Und dieses Bildungssystem hat als nächstes die Integration der Förderschüler-Innen, die Etiketten wie „gestörte Lern- und emotionale Entwicklung“ tragen, auf die Tagesordnung gesetzt. „Hilfe“ wird’s dabei mit Sicherheit von Einrichtungen wie der Bertelsmann-Stiftung geben …