Interview mit Kshama Sawant, „Socialist Alternative“ (US-amerikanische UnterstützerInnen des „Committee for a Workers´ International“, dessen Sektion in Deutschland die SAV ist)
Vorbemerkung: Im November 2012 kandidierte Kshama Sawant, Mitglied der „Socialist Alternative“, in Seattle bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus des Bundesstaates Washington. Sie trat dabei auch gegen Frank Chopp, den Sprecher dieser Kammer und Fraktionsvorsitzenden der „Demokraten“ an. Nach einem lebhaften Wahlkampf, den die ArbeiterInnen und jungen Leute Seattles sehr aufmerksam verfolgten, kam sie auf großartige 29 Prozent und damit auf mehr als 20.000 Stimmen. Eine Zeitung kommentierte: „Sawant hat fast mehr Stimmen in einem einzigen Wahlbezirk bekommen, als alle sozialistischen Kandidaten im ganzen Land zusammen! […] Noch einmal: Sawant und die >Socialist Alternative< haben in Seattle Geschichte geschrieben.“
Vor kurzem sprach Kshama mit Paula Mitchell vom britischen „The Socialist“, der Wochenzeitung der „Socialist Party“ (Schwesterorganisation der SAV und Sektion des CWI in England & Wales).
Kannst du kurz die Höhepunkte des Wahlkampfs beschreiben?
Es war die ganze Art und Weise, wie die Leute auf unser Wahlprogramm reagiert haben. Wir sind ganz offen als SozialistInnen angetreten und hatten im Vergleich zu den KandidatInnen von der „Democratic Party“ ein ziemlich kleines Budget. In unserem Wahlkampf prangerten wir die massiven Kürzungen an, die in den Bereichen Bildung und Gesundheitsversorgung hier im Bundesstaat Washington genauso durchgeführt werden, wie im Rest des Landes auch.
Wir sind dafür eingetreten, dass soziale Dienste wie Gesundheit und Bildung komplett aus öffentlichen Mitteln finanziert werden müssen. Und dabei sagten wir, dass dies möglich ist, wenn man zunächst einmal damit beginnt, die Großkonzerne und die Superreichen zu besteuern.
Selbst die Leute, die meinten, dass sie uns nicht wählen würden, unterstützten unser Programm. Das war die Bestätigung dafür, dass wir genau zur rechten Zeit angetreten sind. Durch diesen Wahlkampf sind unsere Möglichkeiten um ein Vielfaches größer geworden. Das zeigt, dass sich auch für die Linke insgesamt enorme Möglichkeiten ergeben.
Am Wahlabend kam es dann zu einer spontanen Kundgebung. In erster Linie handelte es sich dabei um eine Feier anlässlich des tollen Erfolgs der Initiative für die Gleichstellung der Homosexuellen-Ehe. Dabei waren hauptsächlich WählerInnen der „Democratic Party“ anwesend, und sie spielten die Rede Obamas ab, die dieser nach seinem Wahlerfolg im Radio gehalten hatte. Die Stimmung war geradezu euphorisch. „USA! USA!“-Sprechchöre brachen los. Aber als wir bei dieser Kundgebung ans Mikrofon traten, kam es nicht zu feindseligen Äußerungen gegen uns. Jedes Mal, wenn wir den Begriff „sozialistisch“ benutzten, fing die Menge an zu jubeln.
Das war die Bestätigung unserer Analyse, dass die Dinge nicht immer so einfach sind, wie sie scheinen. Die Leute mögen zwar für Obama stimmen, sie sind aber gleichzeitig für den Wandel.
Was bedeutet dein Wahlergebnis?
Dass wir uns momentan in einer Phase befinden, die durch und durch von einer Art Transformation gekennzeichnet ist. Die Menschen in den USA sind vielleicht noch nicht so weit, für eineN sozialistischeN KandidatIn zu stimmen. Sie wollen aber ganz offensichtlich den Wandel. Dies gilt vor allem für die Zeit seit den arabischen Revolutionen, nach dem Aufstand von Wisconsin und nach der „Occupy“-Bewegung.
Ich kann mich nicht daran erinnern, dass selbst vor einem Jahr noch Leute über eine gesellschaftliche Klasse oder über Armut oder Ungleichheit gesprochen hätten. Jedenfalls nicht in dem Maße, wie sie es heute tun. Der Begriff „Kapitalismus“ ist überhaupt nicht in den Mund genommen worden. Wenn nun erstmals die Leute offen das System benennen, in dem wir leben, dann eröffnet das auch die Möglichkeit zu sagen, dass wir ein anderes System brauchen.
Die Menschen sind auf der Suche nach Alternativen von links. Sie haben keine Lust mehr darauf, dass ihre Lebensbedingungen ständig sowohl von „Demokraten“ als auch „Republikanern“ angegriffen werden. Sie sind extrem wütend darüber, dass die politische Landschaft in den USA vollkommen von den Großkonzernen und dem viel zitierten „einen Prozent“ dominiert wird. Der Ansatz, dass eine Bewegung von unten schon Erfolg haben würde, finden die Leute auf jeden Fall sehr interessant und eine Überlegung wert.
Was denkst du über die Zukunft?
Ich glaube, dass Obama und die „Demokraten“ zunächst den Anschein machen werden, als würden sie für die Interessen ihrer WählerInnen eintreten. Anstatt die sozialen Sicherungssysteme wie z.B. „Medicare“ und „Medicaid“ direkt und umfassend unter Beschuss zu nehmen, um darüber das Problem mit der sogenannten „Fiskal-Klippe“ in den Griff zu bekommen, wird Obama wahrscheinlich zunächst einen harmloseren Ansatz versuchen. Dabei wird er aber nicht in der Lage sein, besonders weit gehen zu können. Der Grund dafür ist, dass es am Ende um die Politikvorstellungen der Konzerne geht, denen er entsprechen soll.
Wenn man sich die Prognosen für die Weltwirtschaft ansieht, so wird der zeitweilige Aufschwung der US-Wirtschaft nicht von langer Dauer sein zu können. Die Prognosen für die Wachstumsraten sind ernüchternd. Die Last von alledem wird den Menschen aus der Arbeiterklasse übergestülpt – das ist doch wohl klar. Und jetzt, da Obama die Wahlen gewonnen hat, wird dies den Leuten gewissermaßen noch klarer vor Augen geführt, als wenn Romney das Rennen gemacht hätte. Wäre Romney Präsident geworden, dann hätte die Möglichkeit bestanden, dass die Leute sagen, es läge allein an der Politik der „Republikaner“.
Obama hat nun vier weitere Jahre. Viele Leute sagen, dass er mehr Zeit braucht und dass er sich nun um eine Wiederwahl keine Sorgen mehr machen muss und deswegen auch Flagge zeigen kann. Schließlich sei er ja in Wirklichkeit ein echter Radikaler. Dazu wird es aber nicht kommen. Und alles in allem werden die Angriffe auf die Lebensbedingungen nicht aufhören. Dies wird die Proteste weiter anheizen. Ich glaube, dass es gerade auch auf Landesebene zu Protesten gegen Haushaltskürzungen kommen wird.
Die Beschäftigten von Fast-Food-Ketten sind in New York City schon in den Ausstand getreten. Sie fordern 15 US-Dollar Mindestlohn pro Stunde und das Recht sich gewerkschaftlich organisieren zu können, ohne Repressalien fürchten zu müssen.
Diese Forderungen sind heute noch so radikal, dass sich keine Gewerkschaftsführung trauen würde, so etwas überhaupt zu denken. Das Beispiel zeigt, dass die Arbeiterklasse ihre Geschicke in die eigenen Hände nimmt. Und wir werden noch mehr solcher Beispiele erleben.
Wie bist du selbst eigentlich dazu gekommen, aktiv zu werden?
Ich war irgendwie immer auf der Suche. In Indien aufgewachsen habe ich immer nur Armut und Elend um mich herum erlebt. Doch dann habe ich begriffen, dass es genügend Ressourcen auf der Welt gibt, um allen Menschen ein angemessenes Auskommen zu ermöglichen. Und zur gleichen Zeit gibt es extrem reiche Menschen auf der Welt. Diese ganzen Widersprüche haben mich immer umgetrieben. Häufig gerätst du an liberale Organisationen oder an Ein-Punkt-Bewegungen, die dir nicht wirklich eine Erklärung dafür anbieten, weshalb diese Armut überhaupt existiert.
Dann, als ich 2008 nach Seattle kam, liefen gerade die Präsidentschaftswahlen, und es herrschte dieser Enthusiasmus wegen Obamas Kandidatur, die „Obamamania“. Das hat mich unheimlich aufgewühlt. Wenn man sich das Ergebnis der „Demokraten“ ansieht, dann sieht man, wer ihre Verbündeten sind: Großkonzerne und die Millionäre und die Milliardäre.
Ich habe Ralph Nader gewählt, der damals als Einzelkandidat antrat und seinen Wahlkampf allein führte, weil ich dachte, dass das Sinn machen würde. Ich besuchte eine Reihe von Kundgebungen und erlebte dabei auch, mit welcher Dynamik die RednerInnen dieser Organisation namens „Socialist Alternative“ auftraten. Dabei wurde mir klar, dass jedes einzelne Wort, das sie sagten, vollkommen Sinn machte. Deshalb bin ich zu ihren Treffen gegangen und schon war´s passiert.
Welche Ziele verfolgt die „Socialist Alternative“ zur Zeit?
Als landesweit agierende Struktur würden wir das Wahlergebnis und seine Auswirkungen gerne über den Bundesstaat Washington hinaustregen. In Seattle selbst planen wir derzeit, mit einer/m oder vielleicht sogar zwei KandidatInnen bei den Stadtratswahlen anzutreten. Wir haben die linken Gruppen und Organisationen, die es in Seattle gibt, bereits eingeladen, sich an einem gemeinsamen Wahlbündnis zu beteiligen. Wir werden mit Leuten zusammenarbeiten, die gegen die „Demokraten“ antreten möchten und dabei für jede Verbesserung für ArbeitnehmerInnen und gegen jede Kürzung sind.
In Minneapolis waren wir sehr erfolgreich mit einer Initiative, die sich „Occupy Homes“ (dt.: Besetzt die Wohnhäuser“) nennt. Diese Initiative kämpft gegen Zwangsräumungen [Wiederinbesitznahmen durch die Banken] von Wohnhäusern der Leute dort. Obwohl diese Ini noch relativ klein ist, konnten schon einige Erfolge verbucht werden. Deshalb werden wir wahrscheinlich auch dort mit einem unserer Mitglieder, das sich an „Occupy Homes“ beteiligt hat, kandidieren. Aber auch in anderen Städten werden wir voraussichtlich bei den Wahlen antreten.
2013 wird es wahrscheinlich zu einer Veränderung kommen was die Kämpfe hier angeht. Mit ziemlicher Sicherheit werden wir erleben, wie soziale Bewegungen entstehen. Diese werden aber auch ein starkes Gewicht darauf legen, dass es um Klassen-Interessen geht. Welche Art von Wahlkampf wir im Endeffekt auch führen werden: Wir werden uns dabei auf jeden Fall auf diese Kämpfe orientieren.
Welche Unterschiede gibt es zwischen den USA und Großbritannien?
In den Vereinigten Staaten gibt es ein anderes politisches Bewusstsein als in Europa. EuropäerInnen werden feststellen, dass das Denken hier irgendwie konservativer ist, und man weniger offen umgeht mit der Idee, sozialstaatliche Programme haben zu müssen.
Aber wenn man sich die Meinungsumfrageergebnisse anguckt, die sich mit Fragen beschäftigen wie etwa der Gesundheitsversorgung, öffentlich finanzierter Kinderbetreuung oder qualitativ hochwertiger Bildung für alle, dann wird man feststellen, dass die US-amerikanische Arbeiterklasse sich links befindet von den „Demokraten“ und den „Republikanern“. Das gilt übrigens auch, wenn danach gefragt wird, ob die Gesellschaft mehr von Gleichheit gekennzeichnet sein soll.
Die Ansichten der „einfachen“ Leute werden genauso wenig wie ihre Bedürfnisse von den politischen Parteien repräsentiert, die die Macht inne haben.
Ich denke, dass die Menschen überall auf der Welt – also auch eure Leserschaft – verstehen sollten, dass dieses phänomenale Wahlergebnis von Seattle im Zentrum der Weltmacht des Kapitalismus erzielt wurde. Was sollte also dagegen sprechen, dass dies auch anderswo möglich ist? Eigentlich müsste dies in noch klarerer Form überall sonst auf der Welt auch möglich sein.
Das ist das tolle daran, wenn man über Landesgrenzen hinweg international miteinander verbunden ist. Das ist das Signal, das von der Idee des Sozialismus ausgeht: Dieser ist internationalistisch.
Die Interessen und Bedürfnisse der Arbeiterklasse in Großbritannien sind eng verknüpft mit denen der US-amerikanischen Arbeiterklasse. Wenn wir hier zu Ergebnissen wie diesem kommen können, dann könnt ihr das auch – und vielleicht sogar noch zu viel besseren!