von Nora Brandes
Ein 35-jähriger gelähmter Mann, der sich nichts sehnlicher wünscht, als endlich seine sexuellen Lüste befriedigen zu können. Und ein gesellschaftliches Umfeld, das Behinderte als asexuelle Wesen behandelt und ihre sexuellen Wünsche ignoriert. Ein derartig tabuisiertes Thema wie Sexualität und Behinderung anhand der wahren Geschichte des Schriftstellers und Poeten Marc O’Brien auf die Leinwand zu bringen, war sicherlich kein leichtes Unterfangen. Dass daraus kein langatmiges melodramatisches oder kitschiges Stück, sondern ein erfrischender und mitunter sehr humorvoller Spielfilm geworden ist, der die Geschichte von Marc O’Brien dennoch auf berührende Weise erzählt, macht den Film zu einem empfehlenswerten Kinoerlebnis.
Marc O’Brien (1949-1999) war ein amerikanischer Dichter, der aufgrund einer Polio-Erkrankung in jungen Jahren gelähmt war und auf eine „eiserne Lunge“ – ein klinisches Gerät zur Beatmung von Menschen mit Muskelschwäche – angewiesen war. Dabei liegt der Körper in einer Art Röhre, die einen Unterdruck erzeugt, wodurch Luft in Lunge gesogen wird. Das Ausatmen geschieht dann durch einen Überdruck in der Röhre. Nur stundenweise konnte Marc O’Brien außerhalb der „eisernen Lunge“ verbringen – etwa um Vorlesungen an der Universität zu besuchen.
Im Zuge von Recherchen für einen Artikel über Behinderung und Sexualität beginnt er sich, auch mehr mit seiner eigenen Sexualität zu befassen. Zum Beispiel damit, dass er schon alleine beim Baden durch die Berührung mit dem Wasser eine Erektion bekommt. Dass er noch nie mit einer Frau sexuell verkehrt hat und auch große Hemmungen davor hat, die eigenen sexuellen Bedürfnisse zu artikulieren. Auf Anraten seines recht unorthodoxen Pfarrers – O’Brien ist nämlich streng katholisch – nimmt er schließlich die Hilfe einer Sexualtherapeutin in Anspruch. Die Sexualtherapeutin Cheryl ist eine geduldige Frau mit Erfahrung, die O’Brien dabei hilft, sich und seinen Körper kennenzulernen und seine sexuellen Wünsche auszuleben. Und sie entspricht so gar nicht den klischeebehafteten Vorstellungen, die so manch eine/r von einer Sexualtherapeutin hat.
„The Sessions“ thematisiert eine Problematik, über die oft verschämt geschwiegen wird. Denn auch behinderte Menschen haben sexuelle Bedürfnisse und daran ist nichts Falsches oder moralisch Verwerfliches. Für alle möglichen Bereiche gibt es Therapien: Physiotherapien für körperliche Beeinträchtigungen, Psychotherapien für psychische Probleme, aber sexuelle Bedürfnisse und Defizite werden einfach ignoriert und es wird so getan, als ob behinderte Menschen keine Sexualität hätten. Während PsychotherapeutIn als Beruf durchaus anerkannt ist, werden SexualtherapeutInnen mit schiefen Blicken bedacht. Und das, obwohl es in diesem Beruf – wie auch in anderen Berufen in der Pflege, der Sozialarbeit oder der Psychotherapie – darum geht, Menschen dabei zu helfen, ihr Leben nach ihren Bedürfnissen zu gestalten.
Der Vorwurf gegenüber der Sexualtherapeutin Cheryl, lediglich eine Prostituierte zu sein, passt so gar nicht zusammen mit ihrem Berufsbild, handelt es sich doch um ein therapeutisches Verhältnis, das sie zu O’Brien aufbaut. Die Problematik der emotionalen Involviertheit der Sexualtherapeutin Cheryl gegenüber O’Brien wird im Film ebenfalls behandelt. Doch auch hier handelt es sich ja um Nichts, was für Cheryls Beruf spezifisch ist, denn in jedem Beruf, in dem man mit Menschen mehr zu tun hat, besteht die Gefahr der emotionalen Involviertheit, so etwa in der Psychotherapie. An einer psychotherapeutischen Behandlung findet allerdings niemand etwas Anrüchiges…
Die Doppelmoral der Gesellschaft im Umgang mit Sexualität und Behinderung wird im Film immer wieder behandelt und gezeigt, wie ein Aufbrechen der Tabus für die Betroffenen auch eine Konfrontation mit bestehenden gesellschaftlichen Moralvorstellungen bedeutet. Wenn Cheryl über ihren Beruf lügt und lieber „Hausfrau“ als Beruf angibt, zeigt dies, wie schwierig es in unserer heutigen Gesellschaft ist, zwanglos und offen mit Sexualität umzugehen.
Der Film überzeugt durch seine positive Einstellung gegenüber Sex und ein gesellschaftlich stark unterbelichtetes Thema. Was dabei allerdings ausblendet wird, ist Marc O’Briens ökonomischer Hintergrund. Denn immerhin kann er es sich leisten, zur Erledigung aller anfallenden Arbeiten und zu seiner Begleitung zur Universität AssistentInnen zu beschäftigen. Und auch die Sexualtherapie bezahlt er privat. Inwiefern ein Mensch auch mit Behinderung ein würdiges und erfülltes Leben führen kann, ist wohl zuallererst von seiner finanziellen Situation und dem Gesundheitssystem im betreffenden Land abhängig. Darüber erfährt man in diesem Film leider zu wenig. Insgesamt ist „The Sessions“ jedoch sehr empfehlenswert: eine gut erzählte Geschichte, authentische DarstellerInnen und ein wichtiges Thema.