Ein Diskussionsbeitrag aus Großbritannien
Wir veröffentlichen hier eine Buchbesprechung von „Exceptional People“ („Außergewöhnliche Menschen“). In dieser Studie beschäftigen sich die AutorInnen Iain Goldin, Geoffrey Cameron und Meera Balarajan mit Geschichte und sozio-ökonomischer Bedeutung der Migration. Die britische Sozialistin Hannah Sell geht in ihrer Besprechung auf diese Fragen ein und entwirft eine sozialistische Herangehensweise an das Thema Migration unter den bestehenden Bedingungen und kommentiert auch die Frage, wie ein Arbeiterstaat damit umgehen würde. Der Text ist zwangsläufig aus einer britischen Perspektive geschrieben, wo in den letzten Jahren nahezu eine Politik der offenen Grenzen praktiziert wurde und eine große Zahl von ArbeitsmigrantInnen ins Land gekommen sind. In Deutschland stellen sich die konkreten Verhältnisse anders dar, aber die Herangehensweis, die Sell in ihrem Artikel darlegt, ist auch für Diskussionen in der deutschen Linken zu diesem Thema von Interesse.
Welche Rolle spielte Migration bei der Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft? Welche Wirkung hat sie heute in Zeiten grausamer Sparpolitik?
Angesichts der Tatsache, dass etliche Politiker dieses Thema für sich ausschlachten, und die extreme Rechte dabei nur das Ziel verfolgt, die Menschen aus der Arbeiterklasse zu spalten, stellt sich die Frage, wie SozialistInnen die oben aufgeführten Fragen aufgreifen sollten.
von Hannah Sell
Während beide führenden Parteien, die konservativen Tories und nun auch der Vorsitzende der sozialdemokratischen „Labour Party“, Ed Miliband, MigrantInnen diffamieren, gewährt dieses Buch einen Blick auf die andere Seite der ambivalenten Beziehung zwischen Kapitalismus und dem Themenkomplex Migration. Historisch betrachtet hat sich der kapitalistische Weltmarkt auf widersprüchliche Art und Weise aus dem Nationalstaat heraus entwickelt. In bestimmten Phasen stand für den Kapitalismus dabei die „Handelsfreiheit“ im Vordergrund. In anderen die Bedeutung der Nationalen Grenzen. Heute können die Produktivkräfte auf ausgewachsene Nationalstaaten zurückgreifen, und werden von diesen umgekehrt auch immer wieder – zumindest teilweise – beschränkt. Die Haltung des Kapitalismus zur Migration widerspiegelt diesen Widerspruch.
Das vorliegende Buch „Exceptional People“ wurde von drei WissenschaftlerInnen der Universitäten Oxford und Cambridge geschrieben, die sich dem Thema vom Standpunkt der „Freiheit“ aus nähern; in erster Linie mit der „Idee der größeren Bewegungsfreiheit“. Ihren Ansatz fassen sie folgendermaßen zusammen: „Selbst geringe Zunahmen bei der Migration hätten signifikante Wertzuwächse für die Weltwirtschaft zur Folge. Reiche wie auch arme Länder würden aus zunehmender Migration ihren Nutzen ziehen, wobei die Entwicklungsländer dabei am meisten profitierten. Da steigende Migration auf der Einnahmenseite der armen Länder einen bei weitem größeren Effekt hat, läuft sie insgesamt auf den Abbau von Ungleichheiten zwischen den Staaten hinaus“.
In einer kühlen und abgeklärten Verurteilung der durch den Kapitalismus hervorgerufenen Ungleichheit führen die AutorInnen aus, dass vor 250 Jahren „die Einkommenslücke zwischen den reichsten und den ärmsten Ländern bei fünf zu eins lag, während sie heute bei rund 400 zu eins“ anzusiedeln ist. Jedoch stützen die von ihnen gelieferten Daten nicht ihre These, wonach zunehmende Migration diese Kluft verkleinern würde. Sie beschreiben die vergangenen dreißig Jahre als „ein dynamisches Zeitalter globaler Integration“, das auch durch wachsende Migrationsbewegungen charakterisiert ist, mit 33 Millionen zusätzlicher Menschen allein in den Jahren zwischen 1990 und 2005, die von den „Entwicklungs-“ in die „entwickelten“ Länder gezogen sind. Auch wird aufgezeigt, dass die „Ungleichheit zwischen den Ländern seit 1978 um rund 20 Prozent angestiegen ist“, während „sie zwischen 1960 und Mitte der 1970er Jahre relativ stabil geblieben war“.
Positiv bemerkt wird vom Autorenteam, dass die kapitalistische Globalisierung die Produktivkräfte in den zurückliegenden Jahrzehnten weiterentwickelt hat. Dies ist allerdings in einer extrem widersprüchlichen Art und Weise geschehen. Auch wenn sie von neuen Technologien erleichtert wurde, so ist jene Fortentwicklung in erster Linie eine Folge des relativen Rückgangs der Industrieproduktion in den wirtschaftlich entwickelteren kapitalistischen Ländern. Auf der Suche nach neuen, profitableren Investitionsfeldern wendete sich der Kapitalismus dem Glücksspiel auf den Weltfinanzmärkten zu und erzeugte riesige Spekulationsblasen, die von jeglicher wirtschaftlicher Realität vollkommen losgelöst wurden.
Gleichzeitig siedelten multinationale Konzerne Industriebetriebe in Ländern mit niedrigeren Löhnen an. Die Wirtschaftskrise, die 2008 ihren Anfang nahm, brachte all die Widersprüche des vorangegangenen Booms an die Oberfläche. Jetzt befinden wir uns mitten in einer sich lang hinziehenden Krise des Kapitalismus. Doch „Exceptional People“ nimmt diesen Umstand nicht wahr. Obwohl das Buch 2011 veröffentlicht wurde, nimmt es lediglich Bezug auf die „globale Rezession von 2008/09“. Als hätte es sich dabei nur um eine Kleinigkeit gehandelt und als ob die Phase der Globalisierung vor 2008 zurückkehren und daran anknüpfend diese dann auf unbestimmte Zeit anhalten würde.
Auswirkungen in der neo-kolonialen Welt …
Die größere Freizügigkeit der Arbeitskräfte ist ein Aspekt der Globalisierung. Es ist die Freiheit des Kapitalismus, durch den Wettlauf um niedrigste Standards die Ausbeutung aufs Äußerste zu treiben und die Profite durch Lohndumping zu maximieren. Andere Akteure, die sich für die Freizügigkeit des Arbeitsmarktes einsetzen, gehen ehrlicher – und gröber – vor, als unsere AutorInnen von „Exceptional People“ es diesem Thema gegenüber tun. So propagiert beispielsweise das britische Wirtschaftsmagazin „The Economist“ offene Grenzen und argumentiert ganz offen, dass mehr Zuwanderung zu niedrigeren Löhnen führen würde. Im Jahr 2002 brachte eine dementsprechende Erhebung folgendes zu Tage: „Die Kluft zwischen den Löhnen in den armen und den reichen Ländern, selbst wenn es um so niedere Tätigkeiten wie Küchendienste geht, stellt die Kluft zwischen den Preisen für Handelswaren aus den verschiedenen Teilen dieser Welt in den Schatten. Die potentiellen Erträge [Profite] aus einer Liberalisierung der Migration würden daher jene in den Schatten stellen, die aus einer Aufhebung der Welthandelsbarrieren resultierten“.
Keine kapitalistische Regierung hat ihre Grenzen bisher vorbehaltlos geöffnet, weil dies auf politischer Ebene eine zu destabilisierende Wirkung für sie hätte. Dennoch haben viele Staaten die Grenzkontrollen bewusst (und in den meisten Fällen verdeckt) gelockert – auch wenn schwerwiegende Repression gegen Asylsuchende und EinwanderInnen ohne gültige Papiere aus Afrika, Asien und Lateinamerika weiterhin zum Normalzustand in jedem entwickelten kapitalistischen Land gehört.
Für ArbeitsmigrantInnen handelt es sich dabei um eine reichlich begrenzte Form von Freiheit, irgendwie in der Lage zu sein, enorme Strecken rund um den Globus zurücklegen zu können, damit die Familie ernährt werden kann. Was für eine Freiheit soll das sein, wenn die gesamten Familien-Ersparnisse an Schleuser übergeben werden, um dann – wenn man Glück hat – nach einer oft gefährlichen Reise ohne gültige Papiere und für weniger als den Mindestlohn arbeiten zu dürfen?
Die AutorInnen von „Exceptional People“ akzeptieren, dass Migration kein schmerzloser Akt ist. Sie vergleichen das mit der Beschreibung des Ökonomen Joseph Schumpeter, der von der „schöpferischen Zerstörung“ des Kapitalismus sprach. Aber sämtliche Probleme, so wird behauptet, hätten größtenteils kurzfristigen oder nachrangigen Charakter. Demnach seien die langfristigen Folgen für die MigrantInnen und für die Länder, die sie verlassen bzw. in die sie übersiedeln, überwältigend positiv.
Und dennoch: die statistischen Angaben, die das Buch liefert, sind eher ein Beleg für das „Zerstörerische“ denn das „Schöpferische“. Das Argument, wonach gesteigerte Migration positive Auswirkungen auf die Länder der AuswanderInnen hat, wird mehrfach untergraben. Die Abwanderung lässt einige der ärmsten Länder vollkommen ohne ausgebildete Arbeitskräfte dastehen: „Mehr als 70 Prozent der Hochschulabsolventen in Guayana und Jamaika wandern in entwickelte Staaten aus, und andere Länder stehen vor ähnlichen Problemen mit ähnlich hohen Zahlen auswandernder Akademiker“. Malawi, das diesbezüglich ein krasses Beispiel abgibt, „hat allein in den letzten vier Jahre mehr als die Hälfte seines Pflegepersonals an die Emigration verloren, was dazu geführt hat, dass nur 336 Krankenschwestern für die Versorgung einer Bevölkerung von 12 Millionen Menschen übrig sind. Unterdessen liegt der Anteil der leerstehenden chirurgischen Abteilungen bei 85 Prozent und der Leerstand bei den Kinderarzt-Praxen beträgt 92 Prozent.“
Die AutorInnen schaffen es ebenfalls nicht zu belegen, dass „Überweisungen“ (Geld, das an Familie und FreundInnen in der Heimat geschickt wird) dabei helfen, die Volkswirtschaften der Ursprungsländer zu entwickeln. Der Umfang dieser Überweisungen hat „von rund 31,1 Milliarden US-Dollar im Jahr 1990 auf bis zu geschätzte 316 Milliarden US-Dollar im Jahr 2009“ enorm zugenommen. Zwar können die überwiesenen Gelder einen großen Effekt für Einzelne und einzelne Gemeinden haben, in „Exceptional People“ wird allerdings eingeräumt, dass „es dennoch nur eine geringe Zahl an Ländern gibt, für die die überwiesenen Summen in substantiellem Verhältnis zum BIP (Bruttoinlandsprodukt) stehen. Und nur in sieben dieser Staaten übertreffen die Gelder aus den Überweisungen den Ertrag aus den eigenen Exporten“.
… und für die entwickelten kapitalistischen Länder
Innerhalb der wirtschaftlich entwickelteren Länder hat die Phase der Globalisierung zu einem dramatischen Anstieg der Ungleichheit geführt. So sinkt beispielsweise der Anteil der Löhne am BIP in Großbritannien in den letzten dreißig Jahren kontinuierlich. Wäre dieser Anteil heute so hoch wie im Jahr 1978, würden die ArbeiterInnen sechzig Milliarden britische Pfund mehr in der Lohntüte haben (in Relation zum heutigen Geldwert). Ähnliches gilt für die USA, wo die Löhne im Juli 2011 einen so niedrigen Anteil am BIP ausmachten wie zuletzt 1955: 54,9 Prozent. Unterdessen liegt der Anteil der Unternehmensgewinne mit 12,6 Prozent auf dem höchsten Stand seit 1950.
Ein Grund für diese Entwicklung liegt in der Tendenz des Kapitalismus, die Produktion in Volkswirtschaften mit niedrigeren Löhnen zu verlegen. Ein weiterer Faktor, der in den jeweiligen Ländern unterschiedlich stark zur Geltung kommt, ist, dass neben jungen ArbeitnehmerInnen und solchen, die von Arbeitsagenturen vermittelt werden, extrem ausgebeutete ArbeitsmigrantInnen zum Einsatz kommen, um die Löhne in bestimmten Branchen (vor allem im Versorgungssektor), die man nicht ins Ausland verlagern kann, niedrig zu halten. Das soll allerdings nicht heißen, dass es einen zwangsläufigen Zusammenhang zwischen zunehmender Migration und niedrigeren Löhnen gibt. Wäre die Arbeiterbewegung ideologisch und organisatorisch stark genug, einen zielgerichteten Kampf für Mindestlöhne für alle zu führen, dann hätte die zunehmende Migration auch keinen derart schwerwiegenden Effekt, was den Ausbau des Niedriglohnsektors angeht.
In „Exceptional People“ wird behauptet, dass die Migration im Wesentlichen folgenlos für die Lohnentwicklung geblieben sei. Erneut belegt der eigene Nachweis im Buch das genaue Gegenteil, wenn die Rede davon ist, dass „im Ausland geborene Arbeitnehmer unabhängig von ihrer Ausbildung in der Woche weniger verdienen als ihre einheimischen Kollegen. Im Jahr 2007 verdienten MigranteInnen in den USA rund 23 Prozent weniger als einheimische ArbeiterInnen.“
Das einzige gegenwärtige Beispiel für die sogenannte Politik der „offenen Grenzen“ ist die Entscheidung Großbritanniens, ArbeiterInnen aus den acht neuen EU-Mitgliedsstaaten, die 2004 beitraten, nicht mit Restriktionen zu belegen. So kamen zwischen 2004 und 2008 eine Million ArbeiterInnen ins Land. Vergleichbar ist diese Zahl nur mit der Zeit von 1870 bis 1920, als vor allem jüdische ArbeiterInnen vor den Pogromen in Russland und Osteuropa nach Großbritannien flohen. In jener Zeitspanne kam es unter dem Strich zu einer Abwanderung von 2,6 Million Menschen vor allem aus der Mittelschicht (aber auch einige ArbeiterInnen), die Großbritannien mit dem Ziel Kanada, Australien und Südafrika verließen. Heute stellen diese Länder kein Ziel mehr dar, weshalb eine zunehmende Einwanderung zum größten Faktor für den Bevölkerungszuwachs in Großbritannien geworden ist. In den vergangenen zehn Jahren sind drei Millionen Menschen eingewandert, was es so vorher noch nie gegeben hat.
Der Ansatz der sozialdemokratischen „New Labour“-Partei hinsichtlich der neuen EU-Mitgliedsstaaten wurde von den Konzernen in Gänze mitgetragen, die, wie „Exceptional People“ anmerkt, „schon lange eine Gruppe darstellen, die sich für weniger Restriktionen bei Grenzübertritten eingesetzt hat.“ Zu den Auswirkungen, die sich daraus ergeben, wird in „Exceptional People“ festgestellt, dass „die Erfahrungen mit offenen Grenzen in Großbritannien gegenüber den neuen EU-Mitgliedsstaaten den Nachweis für die positiven wirtschaftlichen Folgen liefern, die die Theoretiker immer versprochen hatten: der Druck der Inflation verringert sich, Arbeitslosigkeit geht zurück und die Wirtschaft wird gestärkt“.
Zwar ist die Arbeitslosigkeit in der Boom-Phase tatsächlich zurückgegangen, aber selbst im April 2007, am Ende des Aufschwungs, waren 1,69 Millionen Menschen in Großbritannien erwerbslos. Gleichzeitig befanden sich die Reallohnzuwächse auf historischem Tiefststand und rangierten bei einem Prozent, wobei der Preisanstieg bei vier Prozent lag und die Inflation mit drei Prozent beziffert wurde. Alles in allem führt Großbritannien die Welt an, was die Dominanz des Finanzsektors, des Dienstleistungssektors und die zunehmende Ungleichheit angeht. Nur in den USA war die Kluft zwischen arm und reich noch größer.
„Exceptional People“ versucht, die wahren Gründe, weshalb Arbeitgeber oft bevorzugt auf ArbeitsmigrantInnen zurückgreifen, auszublenden: „Obwohl der Ausländeranteil bei zehn bis 15 Prozent der gesamten Arbeitnehmerschaft in Großbritannien liegt, wird die Hälfte aller neu geschaffenen Arbeitsplätze mit Ausländern besetzt; entweder, weil es dabei um Branchen geht, in denen besondere Fertigkeiten verlangt werden (z.B. Installationsbetriebe oder das Bankwesen), oder weil Einheimische in diesen Bereichen nicht arbeiten wollen (z.B. Erntehelfer oder Seniorenpflege)“.
Für den britischen Kapitalismus ist es ein absolutes Armutszeugnis, dass zusätzlich zum Niedergang des produzierenden Gewerbes, wo jede Woche 3.400 Arbeitsplätze verloren gehen, junge Menschen noch nicht einmal ausgebildet werden, um die nötigen Fertigkeiten etwa für das Installationshandwerk zu erhalten. Und „Exceptional People“ versäumt es anzufügen, dass „Einheimische“ bestimmte Jobs nicht wollen, weil Arbeitgeber nicht bereit sind, für Knochenarbeit das Existenzminimum zu gewährleisten. Bei der Pflege von alten Menschen handelt es sich zum Beispiel um eine anspruchsvolle und wichtige Arbeit. Dabei liegt die durchschnittliche Bezahlung für eineN AltenpflegerIn bei sechs britischen Pfund pro Stunde. Das ist weniger als einE KassiererIn erhält.
Erst im Nachhinein hat Miliband in seiner oben angesprochenen Rede anerkannt, dass die zunehmende Einwanderung, zu der es in der Regierungszeit von „New Labour“ gekommen ist, sich auf die Löhne ausgewirkt hat. Er hat dafür keine Lösung. Obwohl er sich gegen den Slogan des ehemaligen „New Labour“-Premierminsters Gordon Brown „Britische Arbeitsplätze zuerst für Briten“ stellt, ist sein Problem nicht das Nationalistische an dieser Parole, sondern dass es utopisch sei, ArbeiterInnen in Großbritannien Arbeitsplätze zu versprechen! So unternimmt Miliband in Wirklichkeit erneut den Versuch seines Vorgängers als Parteichef, Brown, auf nationalistischer Grundlage auf Stimmenfang zu gehen. Seine Drohung, die extrem niedrigen staatlichen Zuwendungen zu kürzen, die einigen EinwandererInnen zustehen, offenbaren dies ganz eindeutig. Die Tatsache, dass viele ArbeitsmigrantInnen kein Recht auf derlei Zuwendungen zugestanden wird, zwingt sie, für Sklavenlöhne zu arbeiten.
Ein sozialistischer Ansatz
In einer sozialistischen Welt gäbe es keine Pässe und Grenzen; ganz zu schweigen von Abschiebegefängnissen und Abschiebungen. In einer sozialistischen Welt gäbe es auch nicht das, was in „Exceptional People“ als „Push-Faktoren“ beschrieben wird, die die Menschen dazu zwingen, in andere Länder auszuwandern: Krieg, Umweltzerstörung und Armut. Eine demokratisch und sozialistisch geplante Weltwirtschaft wäre in der Lage, die überwältigenden Errungenschaften in Wissenschaft und Technik, die der Kapitalismus hervorgebracht hat, und die Ressourcen, die diese Welt uns zu bieten hat, zu nutzen, um den Bedürfnissen der Bevölkerung in allen Weltteilen gerecht zu werden. All jene, die sich dann noch entscheiden, in andere Gegenden dieser Welt überzusiedeln, würden dies nur dann noch tun, weil sie frei wählen können.
Im Kapitalismus wird Immigration für die Kapitalisten immer ein Mittel der Profitmaximierung sein. Dabei geschah dies nicht immer dergestalt, dass für größere Freizügigkeit eingetreten wurde. Manchmal bedeutete es auch das genaue Gegenteil. So wies Karl Marx in seinem Werk „Das Kapital“ beispielsweise auf die Baumwollproduzenten in Lancashire hin, die es erfolgreich vermochten, die hungernden ArbeiterInnen von der Auswanderung in die Kolonien abzuhalten. Der Grund dafür war, dass man sie als „industrielle Reservearmee“ brauchte und damit die Löhne niedrig gehalten wurden. (Vgl.: „Das Kapital“, Band 1, Kapitel 13)
Wie bereits angemerkt hängt das Ausmaß, in dem die Kapitalisten die Einwanderungspolitik erfolgreich nutzen können, um die Löhne zu drücken, davon ab, wie stark die Organisationen der Arbeiterklasse sind. Im Falle der Londoner U-Bahn war es der Kampfgeist der Transportarbeitergewerkschaft RMT, der dafür sorgte, dass nun auch die Reinigungskräfte, die vor allem einen migrantischen Hintergrund haben, den für London geltenden Mindeststundenlohn von 8,30 britischen Pfund bekommen. Unter bestimmten Umständen könnte eine schlagkräftige Arbeiterbewegung mit Erfolg das Recht einfordern, dass demokratisch gewählte Komitees die Vorgehensweisen der Regierung hinsichtlich der Einwanderung einer Überprüfung unterziehen, um so den Versuch zu unternehmen, die Ausbeutung durch die ganzen Gangster, die rassistischen Praktiken etc. einzudämmen oder wenigstens zu entlarven. Allerdings werden – so lange die Kapitalisten an der Macht sind – die Gesetzgebung zur Einwanderung und andere staatliche Regelungen definitiv ein Werkzeug bleiben, das den Kapitalisten dient, ihre Interessen durchzusetzen.
Aus diesem Grund ist der Kampf gegen den „Wettkampf um niedrigste Standards“ verknüpft mit dem Kampf für den Sozialismus. Dies bedingt die Vereinigung der bis dato vereinzelten Teile der Arbeiterklasse: der Ausgebildeten mit denen ohne Ausbildung, der jungen mit den älteren KollegInnen, der Schwarzen mit den Weißen. Dies muss auf Grundlage eines gemeinsamen sozialistischen Programms geschehen. Doch was sollte ein solches Programm bezüglich des Themenkomplexes Migration beinhalten? – Es müsste für die Verteidigung der am meisten unterdrückten Teile der Arbeiterklasse eintreten, zu denen die ArbeitsmigrantInnen und andere EinwandererInnen gehören. Zudem muss es in überzeugender Art und Weise gegen den Rassismus gerichtet sein. Das Recht auf Asyl muss ebenso dazu gehören, wie das Eintreten für die Beendigung aller repressiver Maßnahmen, wie etwa der Auflösung der Abschiebeknäste. Von größter Bedeutung ist, dass darin Aussagen über die Löhne getroffen werden, die ungeachtet der Herkunft des jeweiligen Menschen für alle ArbeiterInnen gelten müssen.
Gleichzeitig ist es aufgrund des Bewusstseins in der Arbeiterklasse nicht möglich, einfach eine simple Parole „für offene Grenzen“ oder „für Abschaffung der Kontrollen bei der Einwanderung“ aufzustellen. Das würde es nur erschweren, ArbeiterInnen für ein sozialistisches Programm zu gewinnen – sowohl was die Frage der Einwanderung als auch andere Punkte angeht. Eine solche Forderung würde die große Mehrheit der Arbeiterklasse zunächst abschrecken. Das gilt auch für viele bereits seit Jahren im Land lebende EinwandererInnen, die das als Bedrohung für ihre Arbeitsplätze, Löhne und Lebensbedingungen verstehen würden.
Wir dürfen auch nicht den Fehler machen, ArbeiterInnen, die zunächst einmal Bedenken gegenüber der Einwanderung von Menschen äußern, als Rassisten abzutun. Wenn es sich beim Rassismus und Nationalismus ganz eindeutig um Elemente eines gegen EinwandererInnen gerichteten Gefühls handelt, so gibt es doch auch etliche ArbeiterInnen mit antirassistischem Bewusstsein, die zur Frage, wie viele Menschen einwandern können, Bedenken haben. Auch frühere Generationen von MarxistInnen mussten sich mit diesem Problem beschäftigen. 1870 beschrieb Marx wie irische ArbeiterInnen vom britischen Kapitalismus eingesetzt wurden: „[…] die englische Bourgeoisie [hat] das irische Elend nicht nur ausgenutzt, um durch die erzwungene Einwanderung der armen Iren die Lage der Arbeiterklasse in England zu verschlechtern, sondern sie hat überdies das Proletariat in zwei feindliche Lager gespalten. […] Der gewöhnliche englische Arbeiter hasst den irischen als einen Konkurrenten, der die Löhne und den standard of life |Lebensstandard| herabdrückt.“ (Karl Marx: „Konfidentielle Mitteilung“, 28. März 1870; vgl.: http://www.mlwerke.de/me/me16/me16_409.htm)
Einbeziehung in die Arbeiterbewegung
Die scheinbar festgefügten Spaltungen, die Marx beschrieb, begannen überwunden zu werden, als irische ArbeiterInnen in der Arbeiterbewegung eine Rolle spielten. Zuerst war dies in größerem Maße in der Chartisten-Bewegung (Reformbewegung Anfang des 19. Jahrhunderts, die für die Zulassung der Gewerkschaften, Arbeitszeitverkürzung, Abschaffung der Kornzölle etc. eintrat; Anm. d. Übers.) der Fall und später dann mit der Entwicklung der Massengewerkschaften für ArbeiterInnen ohne Ausbildung am Ende des 19. Jahrhunderts. Derselbe Prozess war in den 1950er und 1960er Jahren festzustellen. In den 1950ern war es zum Beispiel die Bahnarbeitergewerkschaft, die die führende Rolle dabei einnahm, die „Rassentrennung“ abzuschaffen, die in vielen Londoner Pubs herrschte. Das basierte auf der Erkenntnis, dass es nur einen Weg geben würde, um die Kapitalisten daran zu hindern, weiterhin die ArbeiterInnen von den karibischen Inseln als BilliglöhnerInnen einzusetzen: Man musste alle gemeinsam gewerkschaftlich organisieren und einen gemeinsamen Kampf für angemessene Löhne führen.
Auch wenn die Mehrzahl von ihnen noch nicht einmal aus dem urbanen Milieu ihrer Ursprungsländer kam, so waren es diese Traditionen, die die schwarzen und asiatischen ArbeiterInnen dazu brachten, enge Verbindungen zur Arbeiterbewegung zu knüpfen. In den 1970er Jahren spielten schwarze und asiatische ArbeiterInnen bei vielen betrieblichen Auseinandersetzungen eine Schlüsselrolle. Und auch heute noch, nachdem es bei den Gewerkschaften in den 1990er Jahren zu einem allgemeinen Rückgang der Mitgliederzahlen gekommen war, ist der Organisationsgrad unter den KollegInnen mit afro-karibischem Hintergrund höher (32,4 Prozent) als bei der Arbeitnehmerschaft insgesamt (26,6 Prozent).
Eine vergleichbare Kampagne muss auch heute von der Arbeiterbewegung geführt werden, um die KollegInnen mit Migrationshintergrund zu gewinnen. Dabei ist dies heute ungleich schwerer, als es noch in der Nachkriegsperiode der Fall war. Das liegt teilweise auch daran, dass die heutigen EinwandererInnen aus einer viel größeren Anzahl von Ländern kommen. Anfangs sind sie mehr an den Dingen interessiert, die in ihren Heimatländern passieren, als daran, was in Großbritannien vor sich geht.
Dabei war dies auch ein Problem, mit dem man schon in der Vergangenheit zu tun hatte. Friedrich Engels schrieb 1893 in einem Brief an einen US-amerikanischen Sozialisten, dass die damals bestehenden Schwierigkeiten beim Aufbau einer Arbeiterpartei in den USA, mit der Immigration zu tun haben, die „die Arbeiter in zwei Gruppen unterteilt: die einheimischen und die ausländischen, und letztere erstens in Iren, zweitens in Deutsche, drittens in die vielen kleinen Gruppen, die sich nur untereinander verständigen können: Tschechen, Polen, Italiener, Skandinavier etc. Und dann die Neger [sic!]. Um aus ihnen allen eine Partei zu bilden, bedarf es reichlich ungewöhnlicher Anreize. Häufig kommt es zu plötzlichen heftigen Schwüngen, doch der Bourgeois muss nur passiv abwarten, und die unterschiedlichen Elemente der Arbeiterklasse fallen erneut auseinander“. („Science and Society“, Volume II, Number 3, 1893, Marxists Internet Archive, rückübersetztes Zitat aus dem Englischen)
Trotz dieser Schwierigkeiten bestand die wichtigste Aussage in Engels’ Brief darin hervorzuheben, dass die USA „wirklich reif für eine sozialistische Arbeiterpartei“ waren. Und für die Arbeiterbewegung gibt es einen weiteren positiven Effekt, den die Globalisierung mit sich gebracht hat. „Exceptional People“ zieht den Vergleich zwischen heute und der Phase der zunehmenden Integration der Weltwirtschaft, zu der es vor dem Ersten Weltkrieg gekommen war. Wladimir Lenin, Führer der Russischen Revolution, äußerte sich im Jahr 1913 zum Thema Migration. Viele der Punkte, die er anbrachte, treffen auch heute zu: „Der Kapitalismus hat eine besondere Art der Völkerwanderung entwickelt. Die sich industriell rasch entwickelnden Ländern, die mehr Maschinen anwenden und die zurückgebliebenen Länder vom Weltmarkt verdrängen, erhöhen die Arbeitslöhne über den Durchschnitt und locken die Lohnarbeiter aus den zurückgebliebenen Ländern an. Hunderttausende von Arbeitern werden auf diese Weise Hunderte und Tausende Werst weit verschlagen“. („Kapitalismus und Arbeitsimmigration“ in Prawda vom 29. Oktober 1913, in: Lenin Gesammelte Werke, Band 19)
Weiter schreibt er: „Es kann keinen Zweifel darüber geben, dass entsetzliche Armut allein die Menschen dazu nötigt, ihre Heimatländer zu verlassen, und dass die Kapitalisten die eingewanderten Arbeiter in höchst schamloser Manier ausbeuten. Doch nur Reaktionäre können ihre Augen vor der fortschrittlichen Bedeutung dieser modernen Migration der Völker verschließen. Die Befreiung vom Joch des Kapitals ist unmöglich ohne die weitere Entwicklung des Kapitalismus, und ohne den Klassenkampf, der darauf gründet. Und es ist aufgrund dieses Kampfes, dass der Kapitalismus die Massen der arbeitenden Menschen auf der ganzen Welt anzieht, um die modrigen, verstaubten Gewohnheiten der alten Lebensumstände niederzureißen, um die nationalen Schranken und Vorurteile niederzureißen und die Arbeiter aller Länder in den großen Fabriken und Bergwerken in Amerika, Deutschland und so weiter zu vereinen“.
Als Lenin dies schrieb, umriss er die Lebensbedingungen der Bäuerinnen und Bauern, die ihre Scholle verließen, um in den „großen Fabriken und Bergwerken“ zu arbeiten, und dabei eine mächtige Arbeiterklasse entstehen ließen. Heute ist es immer noch so, dass viele MigrantInnen aus isolierten, ländlich geprägten Gemeinden stammen. Jedoch hat die Deindustrialisierung in den entwickelten kapitalistischen Ländern dazu geführt, dass sie heute eher einen Wettkampf um einen Job als Reinigungskraft führen müssen. Allerdings bieten Globalisierung und moderne Kommunikation heute durchaus Möglichkeiten, um „die nationalen Schranken und Vorurteile niederzureißen“.
Das hat innerhalb der Arbeiterklasse zu Möglichkeiten des Internationalismus geführt, wie sie so zuvor noch nie bestanden haben. Der globale Charakter der Bewegung gegen die Invasion im Irak, oder jüngst die „Occupy“-Bewegung geben ein Zeugnis davon ab. Wenn die Arbeiterbewegung hinsichtlich der ArbeitsmigrantInnen einen korrekten Ansatz verfolgt, dann werden in ähnlicher Weise auch die ArbeiterInnen in den verschiedenen Ländern mit der Zeit aus den besten Erfahrungen der anderen ihre Lehren ziehen – egal, ob es um die Revolution in Ägypten, die Generalstreiks in Griechenland, oder die „Hartals“ (kollektive Verweigerung) in Indien geht. Das wird die organisierte Arbeiterklasse in den Ländern stärken, in die man ausgewandert ist.
Zwischenstaatliche Spannungen nehmen zu
Jedoch ist der Kapitalismus nicht in der Lage, die durch den Nationalstaat gesetzten Grenzen zu überwinden. Nur ein Jahr, nachdem Lenin seine oben zitierten Gedanken zu Papier gebracht hatte, mündeten die nationalen Spannungen zwischen den verschiedenen kapitalistischen Ländern in das Blutbad des Ersten Weltkriegs. Die Ära der „weltweiten freien Migration“ war somit abrupt und blutig beendet. Heute stehen wir nicht vor einem erneuten Weltkrieg. Doch die Wirtschaftskrise bringt abermals auch nationale Spannungen mit sich, da die verschiedenen kapitalistischen Klassen in den jeweiligen Ländern gezwungen sind, einen Weg aus der Krise zu finden, der ihren nationalen Interessen am ehesten entspricht. Seinen Niederschlag findet dies in den Argumenten, die beim letzten G20-Gipfel zur Frage darüber ausgetauscht wurden, welchen Weg die Eurozone nehmen sollte und – vor allem, was die Eurokrise selbst angeht.
Weil die nationalen Spannungen zunehmen, haben die rassistischen, rechtsgerichteten und nationalistischen Kräfte mehr Möglichkeiten zu wachsen. Auch können sie Auswirkungen auf die Einwanderungspolitik haben. Die Beratung des Magazins „The Economist“ 2011, die den Titel „Nach €urogeddon“ trug, ist ein Ausdruck davon, dass es nach einem Aufbrechen der Eurozone „auch schnell möglich sein kann, dass andere Mitgliedsstaaten die Freizügigkeit der Arbeitskräfte beschneiden, um zu verhindern, dass es zu einer Auswanderungswelle von Arbeitskräften in andere EU-Staaten kommt“. Gerade erst wurde bekannt, dass Beamte des britischen Verteidigungsministeriums Notfallpläne erörtern, um zu verhindern, dass ArbeiterInnen – sollten Griechenland oder andere Staaten aus der Eurozone gedrängt werden, in größerer Anzahl versuchen, aus den dann ehemaligen Euro-Ländern nach Großbritannien zu gelangen.
Sollte die Eurozone komplett auseinanderbrechen, was im Bereich des Möglichen liegt, könnte es zu einem ähnlichen Zusammenbruch kommen, wie es in „Exceptional People“ am Beispiel der „EU ohne Visa“ beschrieben wird. Es könnte sich ein Alptraum-Szenario abspielen, in dem ArbeiterInnen aus anderen EU-Staaten von Abschiebung oder dem Verlust ihrer Aufenthaltsberechtigung betroffen sein werden. SozialistInnen würden dann eine Kampagne für das Recht der ArbeiterInnen ins Leben rufen, weiterhin im Land bleiben und legal arbeiten zu dürfen.
Lehren aus dem Beispiel Griechenlands
Mit der richtigen Herangehensweise wird es möglich sein, die Mehrheit der Arbeiterklasse für ein Programm zu gewinnen, das die Rechte der ArbeitsmigrantInnen verteidigt. Dennoch wird dieser Aspekt weiterhin Anlass für Diskussion sein, bis die Arbeiterklasse in der Lage sein wird, die Macht zu übernehmen und selbst danach. Griechenland ist ein Land, in dem heute jede der damit zusammenhängenden Problemstellungen am stärksten zu Tage tritt. Die Angriffe auf die Arbeiterklasse sind hier am schärfsten, genau wie die Kämpfe dagegen. Und jetzt führte auch die Suche der Arbeiterklasse nach einer politischen Alternative mit dem linken Wahlbündnis „Syriza“, das 27 Prozent der Stimmen erhalten hat, weiter gegangen als anderswo in Europa. Der einzige Weg aus der Krise besteht für die Menschen in Griechenland darin, mit dem Kapitalismus zu brechen und damit anzufangen, eine demokratische, sozialistische Gesellschaft aufzubauen.
Und doch verlangt der Kampf für den Sozialismus auch die Auseinandersetzung mit den komplizierten Fragen der Immigration. Auch was diesen Aspekt angeht, sehen wir im Falle Griechenlands das extremste Beispiel. Für neunzig Prozent der sogenannten illegalen EinwandererInnen stellt das Land den ersten Anlaufpunkt auf dem Weg in die EU dar, deren Zahl – bei einer Bevölkerung von elf Millionen Menschen – bei geschätzten 470.000 liegt. Das Erstarken der neo-faschistischen Schlägerbanden von der Organisation „Goldene Morgenröte“ ist eine Warnung. Die Linke muss darauf reagieren, indem sie die Verteidigung der ArbeitsmigrantInnen und linker AktivistInnen organisiert, die Gefahr laufen, Opfer von brutalen Übergriffen der Mitglieder von „Goldener Morgenröte“ zu werden.
Hierbei handelt es sich aber nur um einen Teilaspekt. Zehntausende MigrantInnen leben mittellos auf den Plätzen Athens und anderer Großstädte. Das ist ein Alptraum vor allem für die MigrantInnen selbst. Viele von ihnen wollen gar nicht in Griechenland bleiben, sind dort aber durch die Einwanderungsgesetze der EU ohne jeglichen Rechte gefangen. Auch für die griechische Arbeiterklasse stellt dies ein echtes Problem dar. Schließlich sind eine große Zahl von ihnen obdachlos und leben ebenfalls ohne jede Versorgung auf der Straße. Und der daraus resultierende unausweichliche soziale Absturz hat ganz reale Folgen auf das Leben der ArbeiterInnen in Griechenland.
Die „Goldene Morgenröte“ versucht unterdessen, bis zur Raserei Vorurteile gegen EinwandererInnen zu schüren. „Jugend gegen Rassismus in Europa“ (JRE) in Griechenland hat in einigen der betroffenen Viertel zu diesem Thema gearbeitet, wo sich das Problem besonders gravierend darstellt und die „Goldene Morgenröte“ in der Lage war, ein bedeutsames Maß an Unterstützung zu bekommen. Das Programm von JRE gibt die Schuld für die Probleme ganz eindeutig dem kapitalistischen System und ruft dazu auf, dass die ArbeiterInnen, die Erwerbslosen, die Armen und die MigrantInnen in Griechenland einen gemeinsamen Kampf führen, um die Lebensbedingungen zu verteidigen.
Zu den Forderungen gehört auch, dass die EU-Gelder für Wohnraum und Nahrungsmittel für Flüchtlinge eingesetzt werden, statt die Kosten für Abschiebungen zu decken. Das Bleiberecht wird ebenso gefordert wie die Abschaffung der bisher auferlegten Hürden (die Kosten allein dafür lagen bei 1.000 Euro). Seit 2005 hat nicht ein einziger Flüchtling das Bleiberecht erhalten! Und auch die Ängste der griechischen Bevölkerung werden aufgegriffen. So wird zu Massenversammlungen aller AnwohnerInnen aufgerufen: GriechInnen wie ImmigrantInnen. Und es wird gefordert, dass es demokratisch gewählte Komitees der AnwohnerInnen geben soll, um darüber diskutieren zu können, wie man für eine bessere Ressourcenverteilung kämpfen kann, aber auch um über die herrschenden Probleme zu beratschlagen, wie etwa darüber, wie mit der gestiegenen Kriminalität umzugehen ist, den Gesundheitsgefahren, die sich aus überfüllten Plätzen ergeben usw.
Käme es zu einer Arbeiterregierung, so würde dieser korrekte, bisher aber sehr eng gefasste und auf die lokale Ebene begrenzte Ansatz ungleich erweitert werden. Dann würde der Kapitalismus beendet, die Banken und Konzerne würden verstaatlicht. Eine solche Regierung müsste ein Sofortprogramm zum Wiederaufbau der Wirtschaft aufstellen, das als Teil eines sozialistischen Plans demokratisch beschlossen werden muss. Am wichtigsten wäre die Versorgung mit dem Lebensnötigsten: Nahrung, Strom, angemessener Wohnraum, Arbeitsplätze mit Mindestlohn für die Gesamtbevölkerung – MigrantInnen wie GriechInnen. Die demokratischen Rechte für MigrantInnen, das Recht auf Asyl für alle, die vor kapitalistischer Schikane fliehen, das Recht auf legalen Status, das Recht der Familienzusammenführung könnten allesamt und umgehend eingeführt werden. Allerdings wäre es für einen neuen und kleinen griechischen Arbeiterstaat offenkundig nicht möglich, die Versorgung aller ArbeiterInnen sicher zu stellen, die von überall aus der Welt nach Griechenland kommen wollen würden. Sollten SozialistInnen anders argumentieren, würden sie von der Masse der Arbeiterklasse zu Recht als Utopisten betrachtet.
Immigration und der „Arbeiterstaat“
1917 kam dieser Aspekt in Russland, einem viel weniger entwickelten und ärmeren Land als es Griechenland heute ist, wesentlich krasser zum Ausdruck. Die führenden Köpfe der Revolution, Lenin, Leo Trotzki und die Bolschewiki, waren InternationalistInnen bis ins Mark. Sie legten den höchsten Stellenwert darauf, bei der Entwicklung der Revolution in anderen Ländern mitzuhelfen und verstanden dabei, dass es unmöglich sein würde, den Sozialismus nur in einem Land aufzubauen. Trotzdem war es für den verarmten russischen Staat nicht möglich, allen Armen dieser Welt seine Tore zu öffnen.
Es liegen diverse Korrespondenzen aus der Zeit nach der Russischen Revolution vor, in denen Lenin und die Bolschewiki ganz praxisbezogene Debatten zur Frage der Grenzkontrollen im ersten Arbeiterstaat der Welt führen. Darin geht es in erster Linie darum, die Kräfte der Konterrevolution außer Landes zu halten. Schließlich handelte es sich um einen gerade erst geborenen Arbeiterstaat, der um sein Überleben kämpfen musste und nicht notwendiger Weise unmittelbar vergleichbar ist mit dem, was wir in der Zukunft erleben werden. Dennoch: 1922 schickte Lenin zum Beispiel eine Note, in der er feststellte: „Mir liegen Meldungen vor, dass gegenwärtig eine starke illegale Einwanderung (von Russen und Amerikanern) über verschiedene Grenzpunkte, besonders über die Häfen des Schwarzen meeres, stattfindet. Laut Mitteilung der Abteilung Industrieeinwanderung beim Obersten Volkswirtschaftsrat reisen monatlich an die 200-300 Personen ein. (Dabei Spekulanten, Konterrevolutionäre u. dgl. Publikum) Ich bitte Sie diese Art von Einwanderung aufs energischste zu unterbinden.“. (Brief an die GPU vom 6. November 1922, in Lenin Briefe 1921-1923)
Andere Dokumente handeln allerdings auch davon, ob es SympathisantInnen der Revolution erlaubt werden sollte, nach Russland zu kommen. Dabei geht es um eine rein pragmatische Frage hinsichtlich der zur Verfügung stehenden Ressourcen. 1921 schreibt Lenin über eine Debatte darüber, ob einer Gruppe AmerikanerInnen gestattet werden soll, eine Siedlung zu gründen. Er meint, dass sie 200 US-Dollar mitzubringen hätten und ergänzt: „Im Wesentlichen bin ich dafür, soweit die amerikanischen Arbeiter und Siedler folgendes mitbringen: 1. Lebensmittel für zwei Jahre (Sie sagten, dass dies auch vorher schon geschehen sei und somit möglich wäre); 2. Kleidung, die für dieselbe Zeitspanne ausreicht; 3. Arbeitsgerät. Nr.1 (und Nr.2) sind die wichtigsten Dinge. Die 200 US-Dollar sind weniger von Bedeutung“. („An LK Martens“, Lenins Gesammelte Werke, 22. Juli 1921, übersetztes Zitat aus dem englischsprachigen Artikel)
Ein griechischer Arbeiterstaat würde nicht in der Lage sein, die Armen dieser Welt aufzunehmen, aber er könnte ihnen ein Beispiel dafür geben, wie der Kapitalismus in den eigenen Ländern überwunden werden kann. Indem die Überlegenheit einer sozialistisch-demokratisch geplanten Wirtschaft aufgezeigt wird, Schritte in Richtung Bereitstellung angemessenen Wohnraums, ausreichender und bezahlbarer Lebensmittel und Arbeit für alle unternommen werden, und eine Gesellschaft aufgebaut wird, in der Diskussionen im Interesse der Bevölkerungsmehrheit geführt werden, im Sinne der Arbeiterklasse und der Armen statt der winzigen kapitalistischen Elite, würde ein sozialistisches Griechenland die Welt inspirieren. Das gilt vor allem auch für die Länder Afrikas und des Balkans, aus denen viele ArbeitsmigrantInnen in Griechenland ursprünglich kommen.
Eines der Vorteile der Globalisierung ist es, dass ein Aufruf eines griechischen Arbeiterstaats an die ArbeiterInnen in anderen Ländern, denselben Weg einzuschlagen, ein viel breiteres internationales Echo hervorrufen würde, als dies zur Zeit der Russischen Revolution möglich war. Zumal die ArbeiterInnen in Südeuropa sich rasch um einen derartigen Aufruf sammeln würden. Damit würde die Perspektive einer demokratisch-sozialistischen Föderation der Staaten der „Peripherie“ als Schritt hin zu einer freiwilligen demokratisch-sozialistischen Föderation Europas und später auch der ganzen Welt eröffnet. Nur durch den Kampf für eine sozialistische Welt ist es möglich, die Schranken des Nationalstaats zu überwinden und eine Welt ohne Grenzen schaffen.
Hannah Sell ist stellvertretende Generalsekretärin der Socialist Party in England und Wales. Der Artikel erschien zuerst in „Socialism Today“, dem Monatsmagazin der Socialist Party im Juli 2012.