Der tunesische Präsident Marzouki hat Angst vor „neuer Revolution“
Anfang Mai entschied sich der neue Präsident Tunesiens, Moncef Marzouki, den Ausnahmezustand, den der Diktator Ben Ali am 14. Januar vergangenen Jahres ausgerufen hatte, erneut um drei weitere Monate zu verlängern. Kurz nachdem Ben Ali 2011 zu diesem Mittel gegriffen hatte, wurde er zur Flucht aus dem eigenen Land gezwungen. Einen Teil der Begründung für die jetzige Entscheidung mag sich aus einem Interview heraushören lassen, das Marzouki dem katarischen Fernsehsender „Al Jazeera“ gab, und in dem der Präsident äußerte, er habe „Alpträume“ wegen einer „erneuten Revolution“!
von BerichterstatterInnen des CWI
Die von der Polizei am 7. und 9. April im Zentrum von Tunis gegen friedliche DemonstrantInnen angewandte fürchterliche Repression, bei der ihr zivile Milizen behilflich waren (vgl. www.socialistworld.net/doc/5693), hat offenbart, dass die „Troika“, die Drei-Parteien-Koalition, die zur Zeit an der Macht ist, dabei ist, auf die schlimmsten Methoden der Ben Ali-Diktatur zurückzugreifen. Damit soll die Opposition eingeschüchtert und die eigene Macht gegen all jene abgesichert werden, die nur das zu Ende bringen wollen, was eigentlich als unvollendete Revolution bezeichnet werden muss.
Ein aktueller Bericht der „Landesweiten tunesischen Journalisten-Gewerkschaft“ (NSJT) stellt fest, dass die Anzahl der Angriffe auf JournalistInnen „bestürzend hoch ist und selbst in der Zeit des diktatorischen Regimes von Ben Ali nicht solche Ausmaße“ angenommen hat. Die Berufung verschiedener Berater des alten Regimes diesen Januar an die Spitze der öffentlichen Medien zeigt, dass die führende Partei „Ennahda“, unter Mithilfe ihrer Assistenten in den Behörden, langsam aber sicher dabei ist, sich auf den Weg in Richtung einer neuen Diktatur zu machen. Ein weiterer Hinweis darauf ist, dass man von den repressiven Gesetzen Gebrauch macht, die man direkt vom Ben Ali-Regime geerbt hat. Erkennbar wird dies im Fall zweier Tunesier, die im März wegen der Veröffentlichung von Material, das „wahrscheinlich zur Unterwanderung der öffentlichen Ordnung und Moral“ gedient habe, zu siebenundhalb Jahren Haft verurteilt wurden. Die Haupt-Stoßrichtung des neuen Regimes, das darüber öffentlich nicht spricht, ist, wieder für ein attraktives Klima zu sorgen, das ausreicht, um private tunesische und ausländische Unternehmen in die Lage zu versetzen, Profit aus der fortdauernden Ausbeutung der tunesischen ArbeiterInnen zu schlagen. Allerdings scheinen sie bisher nicht in der Lage zu sein zu erreichen, was sie anstreben.
Serie stadtweiter Generalstreiks
Gewiss, an der sozialen Front ist die Situation geprägt von immer wieder aufkommenden Streiks, Sit-Ins oder manchmal auch von Unruhen oder gewaltsamen Zusammenstößen mit der Polizei. Dies gilt vor allem für die armen und aufständischen Gebiete im Landesinneren. Die Inflation steigt (die Einzelhandelspreise für Lebensmittel haben sich in einem Jahr nahezu verdoppelt) und die Arbeitslosigkeit explodiert über die Maßen. Die Folge ist, dass kein Tag vergeht, ohne dass es irgendwo zu sozialen Konflikten kommt.
Selbst das Innenministerium spricht von im Schnitt bis zu „10 Sit-Ins jeden Tag“. Ein besonderes Merkmal der momentanen Situation ist die enorm gestiegene Zahl an stadtweiten Generalstreiks, zu denen in der jetzigen Phase einer auf den anderen folgt.
Am 24. April organisierten die EinwohnerInnen der südtunesischen Stadt Tataouine (ca. 60.000 EinwohnerInnen; Erg. d. Übers.) einen eintägigen Generalstreik, der jede wirtschaftliche Aktivität zum Erliegen brachte. Am 4. Mai zwangen die BewohnerInnen der ebenfalls im Süden des Landes befindlichen Stadt Kebili (ca. 20.000 EinwohnerInnen; Erg. d. Übers.) den örtlichen Gouverneur, sein Amt niederzulegen. Sie baten den Generalsekretär des Gewerkschaftsbundes UGTT, aus Protest gegen die soziale Ausgrenzung ihrer Region einen Generalstreik zu organisieren. Am 7. Mai begannen die Menschen in Sahline (ca. 22.000 EinwohnerInnen; Erg. d. Übers.), im Gouvernement Monastir, einen unbefristeten Streik. Einen Tag später, nach einer Woche des Protestes dort, entschieden sich die EinwohnerInnen von Feriana (ca. 25.000 EinwohnerInnen; Erg. d. Übers.), in der Region Kasserine im Westen Tunesiens, für einen Generalstreik. Sie forderten ihr Recht auf Arbeit und auch die Entwicklung der Ökonomie. Alle privaten und öffentlichen Einrichtungen in der Stadt standen still. Am 12. Mai war die Stadt Sidi Amor Bouhajla (ca. 6.000 EinwohnerInnen; Erg. d. Übers.) in der Region Kairouan, im Zentrum des Landes, an der Reihe. Die Untergliederung der UGTT in Médenine (ca. 62.000 EinwohnerInnen; Erg. d. Übers.) in Südtunesien hat ihre Absicht erklärt, am 22. Mai ebenfalls einen Generalstreik zu organisieren.
In einigen Teilen des Landes herrscht eine Art semi-aufständische Stimmung. Dies gilt beispielsweise auch für die Bergbauregion Gafsa und vor allem für die kampfeslustige Stadt Redeyef (ca. 26.000 EinwohnerInnen; Erg. d. Übers.), in der es am 8. Mai ebenfalls zu einem Generalstreik kam. Während des heldenhaften Aufstands, der dort im Jahr 2008 stattfand, war der Gewerkschaftsführer Adnane Hajji, der in der Region ein hohes Maß an Autorität genießt, für seine kämpferischen Aktionen verhaftet und gefoltert worden. Jetzt hat er die Zentralregierung vor weiteren Aufständen und massivem zivilen Ungehorsam gewarnt, sollten die sozialen Forderungen bis Ende des Monats nicht erfüllt werden.
Das „Gesetz über die Ergänzungsfinanzierung“
Vor diesem Hintergrund schwankt die Regierung hin und her. Auf der einen Seite wird Druck ausgeübt, um die Kämpfe zu beenden und den Ansprüchen der kapitalistischen Klasse auf „Stabilität“ genüge zu leisten. Andererseits ist die Regierung aber auch darauf bedacht, eine massenhafte, unkontrollierbare Reaktion der ArbeiterInnen und Armen zu verhindern, die der gebrochenen Versprechungen müde sind und denen das bisschen Wandel in ihrem täglichen Leben nicht länger zu reichen scheint.
Doch der neue Nachtragshaushalt („Gesetz über die Ergänzungsfinanzierung“ genannt), der vor einigen Tagen von der Nationalversammlung verabschiedet wurde, verrät eindeutig, dass die neue Regierung nichts Ernstzunehmendes anzubieten hat, was die brennenden sozialen Probleme abmildern könnte. Vor allem gilt dies für die Regionen, die in der Revolution die größten Opfer gebracht und die meisten Märtyrer zu beklagen haben.
Unterdessen macht die Regierung mit ihrer Charmeoffensive weiter, um das Land an private Investoren zu verscherbeln. Dabei brühtet man über denselben neoliberalen Rezepten, die erst zur beständigen Verarmung der Menschen in Tunesien geführt haben, zur strukturellen Massenarbeitslosigkeit der Jugend und zum chronischen Mangel an grundlegenden Gütern in den Regionen im Landesinneren. Dort gibt es einige Ortschaften, die immer noch keinen Zugang zu Wasser und Strom haben.
Natürlich beinhaltet der angenommene Haushalt auch einige Gesten, die darauf abzielen, die soziale Zeitbombe zu entschärfen. Das aber zu erreichen, ohne die Herrschaft des Kapitals über die Wirtschaft anzupacken – erst recht im Kontext der landes- wie auch weltweiten Rezession – kommt einer nicht lösbaren Aufgabe gleich. Verglichen mit dem tatsächlichen Bedarf sind diese sozialen Maßnahmen in Wirklichkeit nur minimal: 100 Millionen zusätzliche Dinar (~ 50 Mio. Euro; Erg. d. Übers.) werden zur Schaffung neuer Arbeitsplätze benötigt (davon wenigstens 25.000 im öffentlichen Dienst) und weitere 100 Millionen Dinar für sozialen Wohnungsbau.
1,2 Milliarden Dinar (~ 0,6 Mrd. Euro; Erg. d. Übers.) für diesen Haushalt stammen aus den Privatisierungen von Unternehmungen, die zuvor im Besitz der Clique um Ben Ali waren und anschließend vom Staat übernommen wurden. Diese zynische und vor allem einmalige Operation versetzt nicht nur die Privatwirtschaft in die Lage, sich des Eigentums des tunesischen Volkes zu bemächtigen, das ihm von der Diktatur gestohlen wurde. Es wird auch dazu führen, dass die Defizite auf lange Sicht größer werden, weil die Staatseinnahmen abnehmen werden. Statt die 217 Unternehmungen, die unter der Herrschaft Ben Alis privatisiert wurden, zurück in öffentliches Eigentum zu überführen und sie im Sinne der Bevölkerung und des Wiederaufbaus des Landes einzusetzen, übernehmen die neuen Herrscher sie lediglich von einer Räuberbande und geben sie an die nächste.
Mehr noch: Beim neuen Haushalt wird davon ausgegangen, dass man damit neue Arbeitsplätze schaffen wird. Basis dieser Annahme ist, dass das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in diesem Jahr um 3,5 Prozent steigen wird. Doch das ist kompletter Nonsens! Die tunesische Wirtschaft befindet sich mit nunmehr vier Quartalen in Folge mit negativem Wachstum in einer formvollendeten Rezession und 80 Prozent des Warenaustauschs des Landes findet ausschließlich mit einem europäischen Kontinent statt, der von einer nie dagewesenen Finanzkrise betroffen ist.
Politische Krise
Die Unterstützung für „Ennahda“ hat bereits einiges an Federn lassen müssen. Das Ergebnis, das die Partei bei den Wahlen letztes Jahr erreichen konnte, scheint bereits der Vergangenheit anzugehören. In einer aktuellen Umfrage gaben 86 Prozent der Befragten an, dass sie der Ansicht sind, die Regierung sei darin gescheitert, das Problem der Arbeitslosigkeit anzugehen. 90 Prozent sind demnach der Auffassung, sie habe auch darin versagt, das Problem der Preissteigerungen in den Griff zu bekommen. Die beiden Koalitionspartner von „Ennahda“, der „Kongress für die Republik“ (CPR) und die (sozialdemokratische; Erg. d. Übers.) „Ettakatol“, machen gerade eine nie dagewesene interne Krise durch und haben viele Mitglieder verloren. Der CPR ist buchstäblich in zwei verschiedene Parteien gespalten.
Angesichts der tiefen Erosion auf der Regierungsseite kommt es zu einer ganzen Reihe an politischen Neuausrichtungen auf Seiten der Opposition. So hat sich in diesem Kontext auch der ehemalige kommissarische Premierminister (und Ex-Folterer) Caid Essebsi an die Spitze einer Sammlung gesetzt, die zu einem neuen Anziehungspunkt geworden ist. Er will eine große „Sammlung der Zentrumsparteien“ repräsentieren, in der ehemalige RCD-Politiker ebenso vertreten sind wie auch Unterstützer der „Bourguibisten“ des ehemaligen Diktators Habib Bourguiba, zu denen Essebsi selbst auch gehört.
Nachdem sie durch die Tür rausgeworfen wurden, versuchen diese Leute nun, durchs Fenster wieder zurückzukehren! Um jene zu reorganisieren, die unter dem alten Regime gründlich abgesahnt haben, benutzen sie Wörter wie „Säkularismus“, „Modernität“, „islamische Bedrohung“ oder „Machtwechsel“. Aus diesem Grund betrachten sie auch die Ambitionen in Richtung Hegemonie, die „Ennahda“ seit ihrem Machtantritt entwickelt hat, mit Argwohn.
Die große Mehrheit der Bevölkerung, die Arbeiterklasse und die jungen Menschen haben absolut nichts von diesen beiden reaktionären Polen zu erwarten, die darum kämpfen, die Oberhand über den Staatsapparat zu erlangen – mit islamistisch-orientierten Gruppen auf der einen und jenen unter der Führung von Essebsi auf der anderen Seite.
Die Salafisten
Hinzu kommen die endlosen Provokationen und Gewaltaktionen, die von salafistischen Gruppierungen angezettelt werden. Von der Regierung unter Führung von „Ennahda“, den Behörden und der Polizei wird dies allgemein mit großer „Nachsicht“ behandelt. Das liegt daran, dass die Salafisten auch ein nützliches Gegengewicht zu den Forderungen und Mobilisierungen der Linken und der Gewerkschaften bilden können.
Dabei handelt es sich hauptsächlich um entfremdete junge Leute, die diesen salafistischen Schlägertrupps mit ihrer ultra-reaktionären Version vom sunnitischen Islam in die Falle gehen. Manchmal geht es dabei einfach um den ideologischen Deckmantel für Kriminelle und Drogenhändler jeden Ranges, die die Notlage und das Elend der Leute in ihrer Suche nach Arbeit ausnutzen, um eine Art Verkaufstechnik oder schlichtweg um ein paar Dinar. Ihr Ziel ist es, die Menschen im Namen der moralischen Ordnung kontrollieren zu wollen und jedeN anzugreifen, die/der mit ihnen nicht übereinstimmt. In El Kabaria, einem Arbeiterviertel im Süden der Landeshauptstadt Tunis, griff eine Gruppe junger Salafisten das örtliche Büro der PCOT („Arbeiter-Kommunistische Partei Tunesiens“) an, plünderte die Geschäftsräume und attackierte die anwesenden Mitglieder mit physischer Gewalt.
Für einen eintägigen landesweiten Generalstreik!
Die neue Führung der UGTT, die auf dem Gewerkschaftstag im vergangenen Dezember gewählt wurde, steht mit den BasisaktivistInnen und gewerkschaftlich organisierten ArbeiterInnen sicherlich enger in Verbindung als die vorherige (was nicht besonders schwer ist). Sie befürwortet Streikmaßnahmen ihrer Mitglieder. Und sie war in der Lage, eine bestimmte Vorgehensweise bei der gewerkschaftlichen Mobilisierung zu rekultivieren, die Massencharakter hat. So nahmen bei den Mai-Demonstrationen dieses Jahr rund 30.000 Menschen teil und auch die Demonstration am 25. Februar, als Reaktion auf die Angriffe auf die UGTT-Büros, war ein Erfolg (vgl. www.archiv.sozialismus.info/?sid=4705).
Allerdings greifen das Programm und die Initiativen des neuen Leitungsteams des Gewerkschaftsbundes weiterhin zu kurz. Jedenfalls gilt dies in Bezug auf die momentane Situation und bezüglich dessen, was eigentlich nötig wäre.
ArbeiterInnen, junge Leute, die Arbeitslosen – sie alle zeigen kontinuierlich ihren Willen, für eine wirkliche gesellschaftliche Transformation zu kämpfen und konterrevolutionäre Kräfte daran zu hindern, die Oberhand über die Lage zu bekommen. Unter den gegebenen Umständen erlauben es der Ruf nach „nationaler Einheit“, wie er von den FunktionärInnen der UGTT bei der Mai-Demonstration gemacht wurde, und die Rhetorik des Generalsekretärs Abassi, der die Notwendigkeit des „Dialogs“ und „Konsenses“ unterstreicht, nicht, dieser Art von Kämpfen der Arbeiterklasse und der Masse der Bevölkerung eine klare Perspektive zu geben. Dabei sind sie es, die nach Antworten suchen. Die Gewerkschaftsführung hingegen verzettelt sich selbst in der Illusion von einer friedlichen Koexistenz mit ihren schlimmsten Kontrahenten.
Stattdessen sollten unter allen Umständen Initiativen linker Organisationen und des Gewerkschaftsbundes nach Art der Einheitsfront in den Vordergrund gestellt werden. In der jetzigen Situation bleibt die Mobilisierung für einen mächtigen und landesweiten Generalstreik eine der wichtigsten Aufgaben, damit alle bisher örtlich vereinzelten Kämpfe zu einer mächtigen und vereinten Bewegung zusammengebracht werden können und die originären Forderungen der Revolution wieder in den Fokus gerückt werden.
Nur eine solch mutige Initiative kann die Zuversicht der Massen zurückbringen und die revolutionäre Bewegung ausweiten. Auf diese Weise kann auch die Richtung für ernsthafte revolutionäre Kämpfe vorgegeben werden, um mit der kapitalistischen Ausbeutung und Brutalität Schluss zu machen und eine freie und demokratische, sozialistische Gesellschaft zu etablieren.
In einem solchen Kampf steht das CWI für:
– die bedingungslose Verteidigung demokratischer Freiheiten und der Rechte der Frau.
– eine fortschrittliche Verkürzung der Arbeitszeit ohne Lohnausgleich mit dem Ziel der Vollbeschäftigung.
– einen Plan im Sinne massiver öffentlicher Investitionen in die Infrastruktur und den öffentlichen Dienst.
– die Nichtanerkennung der Schulden, die zum Erbe des diktatorischen Regimes gehören.
– die Einführung einer gleitenden Lohnskala und die Aufstellung von Komitees der Arbeiterklasse zur Kontrollierung der Preise, um der Spekulation einen Riegel vorzuschieben.
– die Verstaatlichung aller Vermögenswerte der ehemals herrschenden Familien und Unternehmen. Dies muss unter der Kontrolle und Geschäftsführung der Beschäftigten und der Bevölkerung geschehen.
– eine Arbeiter-Regierung, an der die UGTT beteiligt ist, und die auf demokratisch gewählten Komitees der ArbeiterInnen, Erwerbslosen und all jenen basiert, die zu den entscheidenden Kräften der Revolution gehören.
– eine demokratisch geplante Wirtschaft, um die Bedürfnisse der Bevölkerungsmehrheit befriedigen zu können.
– internationalen Kampf und internationale Solidarität der arbeitenden Menschen zum Aufbau einer sozialistischen Welt.