Unbekannter schoss auf fünf junge Männer, einer starb, zwei weitere wurden lebensgefährlich verletzt.
Es ist etwa 1.15 Uhr in der Nacht vom 4. zum 5. April, als Burak B. (†22) und vier Freunde gegenüber des Klinikums Neukölln auf den Bus warten. Alle haben verschiedene familiäre Hintergründe, Buraks Familie kam ursprünglich aus der Türkei. In einem Bezirk, in dem Menschen aus über 160 Ländern leben, ein normales Bild. Ein bislang nicht identifizierter Mann läuft unvermittelt in Kapuzenjacke auf die Fünf zu, zieht einen Revolver und feuert viermal in die Gruppe. Burak erliegt den Schüssen in Lunge und Arm, zwei weitere konnten durch Notoperationen gerettet werden.
von René Kiesel, Berlin
Vom Täter fehlt jede Spur, es gibt nur eine vage Beschreibung. Vor allem MigrantInnen in Berlin sind verunsichert und zunehmend enttäuscht von den Behörden. Viele trauen sich nicht mehr allein auf die Straße. Alle haben das Gefühl, dass es jederzeit wieder passieren kann. Hinter allem steht die Frage nach dem Warum. War es ein verrückter Einzeltäter? Reiht sich die Tat in die starken Aktivitäten der Rechten in diesem Teil des Bezirks ein? Warum ist der Täter noch nicht gefasst?
Eine Chronologie von Ereignissen
War es ein gezielter Angriff auf migrantische Jugendliche durch einen fanatischen Faschisten? Diese Frage wird selbst von bürgerlichen Medien offen gestellt. Nach dem Skandal um die Faschistenzelle aus Zwickau, bei der über zehn Jahre lang felsenfest behauptet wurde, dass es sich um Morde innerhalb der türkischen Community gehandelt habe, sind viele misstrauisch gegenüber den Aussagen der Behörden. Damals war von „Dönermorden“ und „Türkenmafia“ die Rede. Jetzt ermitteln sie in jede Richtung heißt es, ein rechter Hintergrund könne nicht ausgeschlossen werden. Die Zwickauer Faschistenbande agierte ähnlich – ein Mord, spurloses Verschwinden der Täter.
Wirft man einen Blick auf die Ereignisse um den Mord herum, erscheint eine Tat aus Hass auf alles „Nichtdeutsche“ aus rechtsradikalen Kreisen nicht unwahrscheinlich.
Eine rechtsradikale Gruppe mit dem Namen „Reichsbewegung,“ offen antisemitisch, ultranationalistisch, antikommunistisch und antidemokratisch, schrieb im März einen Drohbrief an die jüdischen und muslimischen Gemeinden in Berlin. So auch an die Sehitlik-Moschee in Neukölln, in der Burak B. beigesetzt wurde. In dem Brief forderten sie alle „Ausländer“ auf, das Land bis zum 1. August zu verlassen. Ansonsten drohe ihnen Tod durch Erschießen.
Ein Indiz, dass es keine rechte Tat war, schien die Beschreibung zu sein, dass der Täter einen osteuropäischen, möglicherweise russischen Akzent habe. Auf der Seite der Gruppe „Reichsbewegung“ findet man Verbrüderungsaufrufe zwischen dem russischen und dem deutschen Volk. Dieser Zusammenhang ist frappierend, wurde jedoch bislang von niemanden aufgegriffen.
Am 3. April um 13 Uhr wurde ein junger türkischer Mann an einer Bushaltestelle in Neukölln von einem Mann, auf den die Täterbeschreibung passt (1,80 m groß, etwa 40 – 60 Jahre alt, helle Haut, osteuropäischer Akzent), mit einer Waffe bedroht. Dabei soll er Sätze gesagt haben wie „Ich könnte dich einfach erschießen, aber du bist noch nicht dran.“ Ähnliche Sätze soll der Täter zu den zwei Unverletzten in der darauf folgenden Nacht geäußert haben. Wollte möglicherweise jemand aus dieser Gruppe ein Exempel statuieren, zeigen, dass sie nicht bluffen?
Dann die Schüsse in der Nacht vom 4. April zum 5. April im gleichen Bezirk.
Am Ostersonntag, nachdem der Vater des Ermorderten dessen Beisetzung in der Sehitlik-Moschee im Norden Neuköllns organisierte, wurde das Gebäude mit Farbbomben beworfen. Am Zaun wurde ein Bild von einem blutigen Schwein mit der Aufschrift „Frohe Ostern“ angehängt.
Zwei Tage später meldete die NPD eine Demonstration unweit des Tatortes unter dem Motto „Zeit zu handeln – Unserem Volk eine Zukunft – kriminelle Ausländer raus“ an. Bereits Wochen vorher begann eine Mobilisierung der örtlichen Bündnisse zu einer antifaschistischen Demonstration unter dem Slogan „Zeit zu handeln – keine Homezone für Nazis,“ um gegen die Aktivitäten im Süden Neuköllns ein Zeichen zu setzen und zu zeigen, dass sie dort keine „national befreite Zone“ errichten können (Ein Bericht von dieser Demonstration befindet sich bereits auf der Website sozialismus.info).
In der Gegend um den Tatort wurden in den letzten anderthalb Wochen vermehrt faschistische Schmierereien und rechte Aufkleber gesehen.
Alles nur Zufall? Wollen die Faschisten den Mord an Burak für ihre Zwecke ausschlachten, oder ist es eine Kampagne, bei der der Mord an Menschen billigend in Kauf genommen wird? Bereits bei den Morden der NSU-Zelle feierten die Rechten deren Taten auf Demonstrationen, lange bevor der Öffentlichkeit offenbart wurde, dass sie dahinter stecken. Ebenfalls stellte sich dort heraus, dass sie ein Netz von Unterstützung hatten (sowohl staatlich als auch in der Szene). Sonst wäre ihnen kaum gelungen, immer wieder erfolgreich abzutauchen. Jetzt fehlt ebenfalls jede Spur des Täters.
Die andere Seite
„Wenn ich als Türke nach Deutschland ziehen würde, würde ich nach Köln oder Neukölln gehen, aber wo sollen wir hin, wenn wir nicht einmal hier sicher sind?“ So äußerte sich bei einem türkischen Einwohner Neuköllns die große Verunsicherung, die vorherrscht.
Nicht nur Freunde und Verwandte der Opfer sind betroffen. Für viele NeuköllnerInnen war diese Tat ein Schock.
Die, die Burak nahe standen kommen jeden Tag zum Tatort und haben dort eine Mahnwache eingerichtet. Über Facebook starteten sie einen Aufruf, am Donnerstag, 13. April, öffentlich Blumen an der Straße niederzulegen. Binnen weniger Stunden meldeten sich Hunderte bei der Veranstaltung an. In den Abendstunden fanden sich dann mindestens 500 Menschen ein, die dem Toten zum Gedenken eine Blume oder einen Blumenstrauß niederlegten. Selbst dort wollte eine Gruppe von 15-20 Faschisten provozierend auftreten, wurde aber vorher von der Polizei abgefangen.
An der Beerdigung am folgenden Freitag nahmen über 2.000 Menschen Abschied. Weitaus mehr, als nur die Freunde und Verwandten des Erschossenen. Die Solidarität, die die Familie von der Bevölkerung erhält, ist wichtig. Aber es zeigt ebenso, wie sehr sich die Spannungen innerhalb eines Bezirks, der von steigender Arbeitslosigkeit und Armut, vor allem unter Jugendlichen geprägt ist, in einer großen Beteiligung bei solchen Anlässen widerspiegeln.
„Wenn er überfahren worden wäre, wüssten wir wenigstens, was dahinter steckt.“ Gepaart mit der ständigen Hetze gegen MigrantInnen durch bürgerliche Politik, staatlichen Rassismus und sozialer Not, birgt dieses Thema einige Sprengkraft in sich. Vor einem Monat waren bei der Beisetzung eines Jugendlichen, der bei einer Messerstecherei starb, bereits 3.000 TeilnehmerInnen. Sollte sich der Verdacht, dass ein Faschist hinter der Tat steht, bestätigen, kann es zu Frusthandlungen kommen. Wenn offenbar wird, dass die Polizei fahrlässig handelte oder nicht mit dem gewollten Ergebnis, der Ergreifung und Verurteilung des Mörders, verstärkt das das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden.
Sofortige, transparente Aufklärung!
Der Süden Neuköllns ist seit Jahren ein Schwerpunkt der rechtsradikalen Szene, vor allem der Autonomen Nationalisten, die in völliger Personalunion einen NPD-Kreisverband Neukölln gegründet haben. 2009 kam es zu einer ganzen Serie von Anschlägen auf linke Vereine und Jugendeinrichtungen, die beschädigt und angezündet wurden. Physische Angriffe gegen MigrantInnen und Linke (oder jene, die die Faschisten dafür halten), stehen seit langem auf der Tagesordnung.
Die Polizei wurde bereits für ihre respektlose Informationspolitik kritisiert, denn sie informierte die Familie erst Stunden nach der Tat, als sie es längst von anderen erfahren hatte. Es existiert die Befürchtung, dass die Polizei Details der Ermittlung vorenthält, bzw. ein fahrlässiges Vorgehen in dem Fall unter Verschluss hält. So wurde der Mann, der am Tag zuvor den jungen Türken an der Bushaltestelle bedrohte, zwar auf die Wache geführt und in Gewahrsam genommen. Es besteht jedoch die Sorge, dass dieser nach 24 Stunden wieder entlassen wurde, die Tat begangen hat und nun trotz einiger weniger Hinweise weder Identität, noch Aufenthaltsort bekannt sind. Gerade nach dem NSU-Skandal ist die Sensibilität der Öffentlichkeit für solche „Fehler“ groß. Um eine Kontrolle über die Ermittlungen zu haben, sollte eine unabhängige Kommission aus Betroffenen, VertreterInnen migrantischer und antifaschistischer Organisationen und AnwohnerInnen gebildet werden, die freien Zugang zum Stand der Untersuchungen haben. Damit kann vermieden werden, dass möglichen Hinweisen nicht gefolgt wird oder Fehler unter Ausschluss der Öffentlichkeit begangen und vertuscht werden. Es ist dann ebenso möglich, durch eine unabhängige Öffentlichkeitsarbeit die Realität wahrheitsgetreu wiederzugeben und dies nicht tendenziösen bürgerlichen Medien zu überlassen.