Interview mit David Matrai, Gewerkschaftssekretär, Fachbereich Gesundheit, ver.di Niedersachsen-Bremen. Das Gespräch führte Lasse Schmied, Kassel
Das Vorfeldpersonal des Frankfurter Flughafens hat im Februar durch einen neuntägigen Streik kräftige Lohnerhöhungen erkämpft. Die Gewerkschaft der Flugsicherung (GdF) erstritt einen eigenständigen Tarifvertrag für die knapp 200 Beschäftigten. Das Ergebnis bedeutet für die KollegInnen von Verkehrszentrale und Vorfeldkontrolle einen Angleich ihrer Löhne an die Gehälter des Münchner Flughafens. Für die FahrerInnen wurden ebenfalls Verbesserungen erzielt. Diese Auseinandersetzung führt nun zu einer Neuauflage der Debatte um das Streikrecht – nachdem die DGB-Oberen letztes Jahr eine gemeinsame Initiative mit dem Arbeitgeberverband für „Tarifeinheit“ (und damit für eine Einschränkung des Streikrechts) auf den Druck vieler Mitglieder hin fallen gelassen hatten.
Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt sagte in der FAZ vom 1. März: „Entwicklungen wie in Frankfurt gefährden die Tarifautonomie und den Wirtschaftsstandort.“ Siehst du das auch so?
Die Tarifautonomie wird nicht durch Arbeitskämpfe gefährdet, sondern durch Arbeitgeber und Politik, die dafür jede sich bietende Gelegenheit zu nutzen. Dies betrifft etwa die Bestrebung, eine sogenannte Tarifeinheit gesetzlich herbeizuführen oder aktuelle Diskussionen, Streiks in bestimmten Bereichen der Daseinsvorsorge ganz zu verbieten. Im Übrigen ist es gerade nicht die Aufgabe der Beschäftigten, „ihren“ Arbeitgeber im Standortwettbewerb zu stärken, sondern durch überbetriebliche gewerkschaftliche Organisierung einen Wettbewerb zu Lasten der Arbeitsbedingungen zu verhindern.
Welchen Anteil hatten Arbeitgeber und Regierende daran, dass die Tariflandschaft in den letzten Jahren immer weiter zerschlagen wurde?
Es waren und sind Unternehmer und Politik, die privatisiert, ausgegliedert und die Belegschaften gespalten haben. Wenn die selben Arbeitgeber und Politiker nun eine Zersplitterung der Tariflandschaft beklagen, ist das heuchlerisch.
Wo siehst du Nachholbedarf im Streikrecht in Deutschland?
Wir sind weit entfernt von einem umfassenden Streikrecht. Am Frankfurter Flughafen wurde erneut vorgeführt, dass es kein uneingeschränktes Recht auf Solidaritätsstreiks gibt. Weiterhin muss das Streikrecht auf alle politischen Fragen und Beschäftigtengruppen, also auch auf Beamte, ausgedehnt werden. Geschehen wird dies allerdings erst, wenn die Gewerkschaften willens und in der Lage sind, ein solches Streikrecht durch eigene Praxis und Druck durchzusetzen.
Was ist dran am „Schreckgespenst“ Minderheitengewerkschaft?
Es ist ja nicht so, dass unablässig neue Spartengewerkschaften entstehen und Arbeitskämpfe anzetteln. Nach wie vor ist Deutschland ein streikarmes Land. Offenbar sind die Herrschenden jedoch in Sorge, dass sich dies ändern könnte und Spartengewerkschaften dabei eine Vorreiterrolle einnehmen und die DGB-Gewerkschaften unter Druck setzen. Dabei stellen die Spartengewerkschaften die Interessen ihrer Mitglieder teils kompromisslos in den Vordergrund und brechen mit der Logik des Verzichts und Maßhaltens. Diese Haltung wollen die Arbeitgeber nicht verbreitet sehen.
Was muss sich ändern, damit sich Berufsgruppen wie die benannten von den DGB-Gewerkschaften vertreten fühlen?
Die Herausforderung besteht darin, die konkreten Anliegen dieser Beschäftigtengruppen aufzunehmen, ohne eine solidarische Tarifpolitik aufzugeben. Kampfbereitschaft und strategische Position dieser Kolleginnen und Kollegen müssen genutzt werden, allerdings zugunsten der gesamten Belegschaften.
Wie ist es um Berufsgruppen bestellt, die Opfer der Erosion der Tariflandschaft sind und nicht über eine vergleichbare Kampfkraft verfügen. Was macht ver.di in diesen Bereichen und wo ist Nachholbedarf?
In diesen Bereichen haben wir es oft mit prekärer Beschäftigung und zunehmendem Druck zu tun. Die Strukturen der Gewerkschaft und Interessenvertretungen sind oft schwach oder nicht vorhanden. Für ver.di ist es eine Existenzfrage, ob es gelingt, hier neue Strukturen aufzubauen. Dafür müssen gewerkschaftliche Ressourcen in diese Bereiche gelenkt werden und Ansätze der Kampagnenarbeit und des Organizing weiterverfolgt werden. Erfahrungen damit gibt es – beispielsweise im Handel und Gesundheitswesen. Insgesamt steht ver.di jedoch am Anfang. n
Wiesbadener Appell
Im März wurde ein Aufruf für ein umfassendes Streikrecht gestartet. Zu den ErstunterzeichnerInnen gehören Oskar Lafontaine (DIE LINKE), Rudolf Dreßler (SPD), Professor Elmar Altvater, Bernd Riexinger (Geschäftsführer ver.di Bezirk Stuttgart, Vorsitzender der LINKEN Baden-Württemberg) und Jakob Schäfer von der Gewerkschaftslinken.
In der Erklärung wird bemängelt, dass „das Streikrecht in Deutschland lediglich Richterrecht“ ist. „Im Grundgesetz (GG) findet sich außer der Koalitionsfreiheit gemäß Art. 9, Abs. 3 kein konkreter Hinweis.“ Abgesehen von Großbritannien und Österreich ist die Bundesrepublik das einzige EU-Land, in dem der politische Streik illegal ist. Zwar besteht kein gesetzliches Verbot, es gibt jedoch Gerichtsentscheidungen, die darauf beharren, dass Arbeitsniederlegungen lediglich in Tariffragen gestattet sind.
Neben der Forderung, ein umfassendes Streikrecht per Gesetz zu verankern, wird in dem Appell vorgeschlagen, diesem Ziel auch mit Hilfe der Tarifpolitik näherzukommen.