Neujahrsgruß an unsere LeserInnen
Was für ein Jahr! Als wir MarxistInnen nach dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise 2008/09 davon sprachen, dass eine neue Ära von Revolutionen und Konterrevolutionen begonnen habe, schüttelten nicht wenige den Kopf und auch in unseren eigenen Reihen mag es den einen oder anderen Zweifler gegeben haben. Nach diesem Jahr 2011 kann kein Zweifel bestehen, dass wir mit dieser Prognose richtig lagen und liegen.
von Sascha Stanicic, SAV-Bundessprecher
2011 begann die Arabische Revolution! Mubarak und Ben Ali wurden gestürzt, Gaddafi ebenso. Und doch endet das Jahr, wie es begann – mit Massendemonstrationen auf Kairos Tahrir-Platz. Denn die arabische Revolution hat begonnen, wurde aber nicht vollendet. Es ist eine Revolution, denn die Massen haben in Ägypten und Tunesien die Bühne der Geschichte betreten, ihr Schicksal in die eigene Hand genommen. Sie waren stark genug, Diktatoren zu vertreiben, die allmächtig erschienen. Aber sie waren nicht stark genug, das System der Ausbeutung und Ungerechtigkeit zu vertreiben. Warum? Weil ein klares Programm für eine alternative Gesellschaft genauso fehlte, wie eine revolutionäre Massenorganisation, die ein solches Programm zur Realität machen kann. Das kann nicht verwundern nach Jahrzehnten der politischen Dunkelheit. Aber die arabischen Massen haben den ersten Schritt getan und sie werden lernen, auch die nächsten Schritte zu gehen.
Hoffnung
2011 war ein Jahr der Massenbewegungen nicht nur in der arabischen Welt. Generalstreiks in Israel, Griechenland, Portugal, Italien, die größten Massenstreiks in Großbritannien seit dem Jahr des Generalstreiks 1926, ebensolche Massenstreiks in Belgien – und dann die Bewegungen der "Empörten" in Spanien, Griechenland, Portugal, die "Occupy"-Bewegung in den USA und vielen anderen Ländern, die Massenproteste in Russland im Dezember. Am 15. Oktober fanden zeitgleich Demonstrationen und Proteste gegen die Macht der Banken an so vielen Orten der Welt statt, wie nie zuvor in der Geschichte der Menschheit. Der Kapitalismus hat die Wirtschaft globalisiert, seine Krise ist weltweit – und auch der Widerstand dagegen ist international!
2011 war ein Jahr der Hoffnung. Hoffnung auf demokratische und soziale Rechte in Nordafrika und im Nahen Osten. Hoffnung darauf, dass Alternativen zum krisengeschüttelten Kapitalismus entwickelt werden können. Hoffnung darauf, dass die Mehrheit der Weltbevölkerung beginnt ihre eigenen Interessen gegen die Interessen der verschwindend kleinen Minderheit von Kapitalbesitzern, Regierenden und Militärs wahrzunehmen. Diese Hoffnung wird 2012 weiter leben und sie wird wachsen.
Warnungen
2011 war auch ein Jahr der Warnung. Die Krise des Weltkapitalismus ist nicht vorbei. Der Aufschwung, der 2010 eingesetzt hatte, neigt sich schon wieder dem Ende, ein neuer Abschwung hat eingesetzt und die Euro-Krise wird immer bedrohlicher. Der Euro steht am Abgrund und mit ihm die ganze EU und der europäische Kapitalismus. Bezahlen müssen die arbeitenden Massen in allen Ländern. In Griechenland hat sich das Durchschnittseinkommen einer Arbeiterfamilie in den letzten Jahren halbiert. Es klingt unfassbar, aber es gibt Fälle von GriechInnen, die sich absichtlich mit HIV infizieren, um die lebenslange staatliche Mindestsicherung für HIV-Positive von 700 Euro zu erhalten, anders wissen sie nicht, wie sie überleben sollen. Denn die soziale Mindestsicherung liegt in dem krisengeschüttelten Land bei unter 500 Euro und wird nur ein Jahr ausgezahlt.
Warnungen sind auch die Erfolge rechtspopulistischer Parteien in verschiedenen Ländern und der Terror des Anders Breivik in Norwegen und der NSU (Nationalsozialistischer Untergrund) in Deutschland. Die Unfähigkeit und der Unwillen kapitalistischer Staaten, dem Faschismus den Garaus zu machen, hätte nicht deutlicher dokumentiert werden können, als durch die Verbindungen zwischen staatlichen Sicherheitsorganen und Neonazis in Deutschland. Einmal mehr beweist sich hier die These von MarxistInnen, dass sich die Arbeiterbewegung und die Linke im Kampf gegen die Faschisten nicht auf den kapitalistischen Staat verlassen dürfen. Die Mobilisierung zu den Blockaden des Nazi-Aufmarsch in Dresden im Februar 2012 ist besonders wichtig, um zu zeigen, dass eine unabhängige antifaschistische Bewegung sich nicht von der Debatte über ein NPD-Verbot von der Aufgabe ablenken lässt, sich den Faschisten in den Weg zu stellen.
Die größten Warnungen für die Menschheit waren im Jahr 2012 aber die Atomkatastrophe von Fukushima und das offensichtliche Scheitern aller Bemühungen die globale Erwärmung zu stoppen. Fukushima führte vor Augen, dass Kernenergie auch in einem der reichsten und entwickeltesten Ländern der Welt nicht sicher sein kann und dass die Macht privater Konzerne im globalen Kapitalismus nahezu grenzenlos ist. Der Klimagipfel zum Jahresende zeigte ebenso die Machtlosigkeit kapitalistischer Umweltpolitik gegenüber den mächtigen Krisenprozessen und Profitinteressen, die sich in diesem System letztlich immer durchsetzen werden. Die Umwelt schreit geradezu nach einer sinnvollen und nachhaltigen Wirtschaftsplanung, damit die Lebensgrundlagen für die Menschheit nicht nachhaltig zerstört werden – auf der Basis von Privateigentum an Banken und Konzernen und profitgetriebener Marktkonkurrenz unmöglich.
Deutschland
Auch in Deutschland haben wir 2011 große Bewegungen gesehen. Die GegnerInnen von Stuttgart 21 haben ihren beeindruckenden Kampf gegen dieses umwelt- und menschenfeindliche Milliardengrab mit wöchentlichen Demonstrationen und unzähligen anderen Aktionen fortgesetzt und trotzdem bei der Volksabstimmung am Jahresende eine empfindliche Niederlage einstecken müssen. Diese bedeutet nicht das Ende des Widerstands gegen Stuttgart 21, macht aber eine Neuaufstellung der Bewegung nötig. Diese muss sich nun auf einen langwierigeren Kampf einstellen.
Nach der Atomkatastrophe von Fukushima explodierte in Deutschland eine Massenbewegung gegen Kernkraft, die innerhalb kürzester Zeit die Bundesregierung zu einer Kehrtwende ihrer Energiepolitik zwang. Trotzdem gibt es keinen sofortigen Ausstieg aus dieser todbringenden Energieform und muss die Anti-Atom-Bewegung weiter machen, wie sie zum Jahresende eindrucksvoll bei den Blockaden der Castor-Transporte zeigte.
Die SAV war bei diesen und vielen anderen Bewegungen aktiver Bestandteil und hat immer dafür argumentiert, solche Kämpfe miteinander zu verbinden und zu politischen Auseinandersetzungen gegen den herrschenden Kapitalismus zu machen. Ähnliches gilt für die vielen lokalen, betrieblichen und gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen, an denen unsere Mitglieder beteiligt waren. Hervorzuheben sind hier ohne Zweifel die Streiks am Berliner Universitäts-Klinikum Charité im Mai und dann von September bis Dezember 2011. Hier haben einmal Pflegekräfte bewiesen, dass man einen erfolgreichen Vollstreik in einem Krankenhaus organisieren kann und die Beschäftigten des ausgegliederten und teilprivatisierten Krankenhausdiensleisters CFM (Charité Facility Management) haben einen langen und beispielhaften Kampf für einen Tarifvertrag in ihrem Unternehmen geführt. Dieser Kampf ist nicht vorbei und wird 2012 in die nächste Runde gehen.
Auch wenn große Angriffe auf den Lebensstandard der Arbeiterklasse, wie wir sie in Südeuropa, Belgien, Irland und Großbritannien gesehen haben, bisher an der deutschen Arbeiterklasse vorbei gegangen sind, ist Deutschland nicht immun gegen die kapitalistische Krise. Die Konkurrenzfähigkeit deutscher Unternehmen basiert nicht zuletzt auf dem Rückgang von Löhnen und Arbeiterrechten in den letzten zehn Jahren. Millionen arbeitende Arme können davon ein Lied singen. Deutschlands Exportabhängigkeit ist seit 2009 noch gestiegen, das wird wie ein Bumerang einschlagen, wenn die Weltwirtschaft ins Stocken gerät. Ein Blick in die anderen EU-Länder und nach China genügt, um zu erkennen, dass diese Gefahr jeden Tag wächst. Dann wird es auch hier zu Versuchen der Herrschenden kommen, den Lebensstandard der breiten Masse der Bevölkerung abzusenken, um die Profite zu retten, werden Betriebsschließungen und Entlassungen auf der Tagesordnung stehen. Gewerkschaften und LINKE müssen sich auf diese Situation vorbereiten. Das bedarf eines Kurswechsels in den Gewerkschaften, deren sozialdemokratisch dominierte Führungen 2011 ihren angepassten Kurs fortsetzten und sich mit ihrer „Ja zum Euro“-Erklärung faktisch an die Seite der bürgerlichen Parteien stellten. Bernd Riexingers Kritik, die deutschen Gewerkschaften seien die friedlichsten in ganz Europa ist zuzustimmen. Geändert werden kann das nur durch den Aufbau aktiver Gewerkschaftsgruppen, die sich für einen kämpferischen Kurs und demokratische Strukturen einsetzen und zu einer kämpferischen Strömung vernetzen.
LINKE und Rechtspopulismus
DIE LINKE hat sich 2011 ein neues Parteiprogramm gegeben, dass zweifellos einen Schritt nach links im Vergleich zu den bisherigen Programmen von PDS und WASG darstellt. Doch diese Programmatik wird nicht in reale Politik übersetzt. Die Partei erscheint als linkes Korrektiv von SPD und Grünen, nicht als eine Kraft, die sich grundlegend von allen etablierten Parteien unterscheidet und ihren Schwerpunkt auf die Unterstützung außerparlamentarischer Bewegungen legt. In Mecklenburg-Vorpommern und Berlin ging sie mit dem erklärten Ziel, Juniorpartner in SPD-geführten Landesregierungen zu werden, in den Wahlkampf und erlitt bittere Enttäuschungen. Der Kapitalismus steckt in der tiefsten Krise seiner Geschichte und DIE LINKE kann nicht punkten. Stattdessen erscheint sie in der Öffentlichkeit als zerstrittene Partei, in der persönliche Machtinteressen von Spitzenpolitikern genauso dominieren, wie in den anderen Parteien. DIE LINKE braucht dringend einen Kurswechsel hin zu klarer, antikapitalistischer und sozialistischer Oppositionspolitik, sie muss ran an die Menschen und an die Kämpfe und Bewegungen. Dann kann sie nicht nur mehr Stimmen bei Wahlen erhalten, sondern auch viele neue Mitglieder gewinnen und eine tatsächliche Bedrohung für den Kapitalismus werden. Für einen solchen Kurswechsel setzen sich SAV-Mitglieder in der LINKEN ein.
Angesichts dieser Situation der Partei DIE LINKE fällt die Freude über den Niedergang der FDP und die Dauerkrise der Regierungskoalition, über Rücktritte von Guttenberg und anderen, klein aus. Doch die Tatsache, dass trotz relativen Wirtschaftswachstums die politische Instabilität im Land zugenommen hat, deutet darauf hin, wie schnell es dramatische politische Veränderungen geben kann, sollte der Euro scheitern und eine neue Rezession ausbrechen. Deshalb Angela Merkels Konzentration auf die europäische Außenpolitik und die verzweifelten Versuche, einen Zusammenbruch der Euro-Zone zu vermeiden. „Europa spricht Deutsch“, sagte Unionsfraktionsvorsitzender Kauder und zog damit den Groll der Menschen in ganz Europa auf sich. Die Zunahme antideutscher Stimmungen in vielen Ländern sind logische Folge einer rücksichtslosen Dominanz Deutschlands in der EU. Doch Merkels Politik wird den Euro kaum retten können und so ist es auch nur eine Frage der Zeit, dass die euro-kritischen Stimmen in der Bundesrepublik wieder lauter werden. Hans-Olaf Henkel hat sich den Freien Wählern angeschlossen, ob sich daraus nun eine bundesweite rechtspopulistische Partei entwickeln wird oder in den nächsten Monaten noch rechtzeitig vor der Bundestagswahl eine Neugründung aus Union und/oder FDP heraus entstehen wird, bleibt offen. Der Raum rechts von Union und FDP wird aber früher oder später gefüllt werden mit einem Versuch, es der österreichischen FPÖ oder der Partei Geert Wilders in den Niederlanden nachzumachen. Auch um das Potenzial für Rechtspopulismus einzuschränken, braucht es eine starke LINKE, die sich von den etablierten, pro-kapitalistischen Parteien abhebt. Die SAV hat in 2011 mit der Veröffentlichung des „Anti-Sarrazin“ einen Beitrag zum Kampf gegen Rechtspopulismus, Rassismus und Islamfeindlichkeit geleistet und wird auch weiterhin darin einen ihrer Aktivitätsschwerpunkte sehen.
Jahr der Wahlen
2011 wurden eine Reihe von Regierungen gestürzt und abgewählt. Vor allem die Regierungswechsel in Griechenland und Italien sind ein Hinweis darauf, dass die Kapitalisten selbst die bürgerlich-parlamentarische Demokratie einschränken werden, wenn sie diese als ein Hindernis bei der Durchsetzung ihrer Interessen betrachten. Hier regieren nun nicht vom Volk gewählte Technokraten-Regierungen, die direkten verlängerten Arme des Finanzkapitals.
2012 werden weitere Regierungen fallen. Einige durch Wahlen, andere durch Massenproteste. Die wichtigsten Präsidentschaftswahlen finden zweifellos in den USA, Frankreich und Russland statt. In den USA hat Obama sich in den Augen von Millionen Menschen entzaubert und wird das Fehlen einer Partei, die Arbeiterinteressen vertritt, immer spürbarer. In Russland haben in den letzten Wochen die größten Proteste seit Jahrzehnten stattgefunden Die Dominanz Putins bröckelt. Auch in Deutschland kann es 2012 zu vorgezogenen Bundestagswahlen kommen. Eine schwache Bundesregierung mit einer noch schwächeren FDP wird jedenfalls einen neuen Tiefpunkt der Euro-Krise möglicherweise nicht überleben.
Fazit
Wir stehen am Beginn eines ereignisreichen Jahres und am Ende eines Jahres, das in vielerlei Hinsicht ein Wendepunkt war, der in Zukunft rückblickend vielleicht mit dem Wendepunkt des Jahres 1968 verglichen werden wird.
Die Sackgasse des Kapitalismus wird jedenfalls immer mehr Menschen bewusst. Dazu eine sozialistische Alternative aufzubauen ist dringender denn je. Daran werden die Mitglieder der SAV weiter entschlossen arbeiten: in Betrieben und Gewerkschaften, in der Partei DIE LINKE, bei Linksjugend["solid], in der antifaschistischen und antirassistischen Bewegung, durch Kampagnen, die Herausgabe unserer Zeitung und anderer Materialien, durch praktische Unterstützung fpr Streiks, Kämpfe und Bewegungen. 2012 wollen wir unsere Webseite neu gestalten und verbessern, unser Magazin sozialismus.info häufiger herausbringen, wir planen die Veröffentlichung eines Buchs zur Benachteiligung von Frauen im Kapitalismus und andere Bücher und Broschüren, werden wieder die Sozialismustage durchführen und andere Seminare anbieten. Wir bitten alle unsere LeserInnen uns bei der Umsetzung dieser Vorhaben zu unterstützen: am besten dadurch, selbst aktiv zu werden und der SAV beizutreten, oder aber durch ein Abonnement unserer Zeitung bzw. unseres Magazins oder durch eine regelmäßige Spende für unsere Arbeit.