Wie es zu den Großdemos nach der Parlamentswahl kam
Seit dem Zerfall der stalinistischen Sowjetunion hatte die russische Arbeiterklasse wenig zu lachen: Zwar verbesserte sich der Lebensstandard nach dem katastrophalen Einbruch der neunziger Jahre in der Zeit des Wirtschaftsbooms Anfang des letzten Jahrzehnts. Diese Erholung war jedoch mehr Schein als Sein.
von Anna Shadrova, Berlin
Die in den Neunzigern begonnene Privatisierungspolitik wurde fortgesetzt und begann, an der Gesundheitsversorgung, der Rente und am Bildungssystem zu nagen. Die Auswirkungen der Privatisierungen – leere Stadt- und Staatskassen, weitere Kürzungen, Preiserhöhungen im Nahverkehr, die Abwälzung nahezu aller Medikamentenkosten auf die Bevölkerung – sind seit ein paar Jahren verschärft zu spüren. Mehr noch: Sei es bei den massiven Waldbränden 2010, die zahlreiche Häuser zerstörten (deren Ausweitung hauptsächlich auf die Kürzungen bei der Feuerwehr und in der Forstwirtschaft zurückzuführen war) und die die Lebensmittelpreise in die Höhe trieben, oder sei es bei der Bildung, wo Fächer wie Mathe, Biologie oder Literatur aus dem Lehrplan gestrichen werden sollen, um sie gegen Extragebühr „freiwillig“ anzubieten – alle Lohnerhöhungen gehen für Mehrkosten an anderer Stelle drauf.
Demokratieabbau
Gleichzeitig tut sich Russland auch im Hinblick auf Menschenrechte und Demokratie nicht gerade hervor: Über 600 ReporterInnen wurden in den letzten zwei Jahrzehnten ermordet oder kamen unter dubiosen Umständen ums Leben. Scharfe Einschnitte bei der Presse- und Versammlungsfreiheit sollten jeden Versuch, Widerstand aufzubauen, unterdrücken.
Putin und seine Freunde
Die nach der „Rubelkrise“ 1998, begünstigt von den Öl- und Gasvorkommen, einsetzende wirtschaftliche Erholung und der kurzfristig steigende Lebensstandard trugen dazu bei, dass Wladimir Putins „Politik der harten Hand“ von vielen erstmal geschluckt wurde. Bei Teilen der Bevölkerung verfing die Medienpropaganda, die ihn als genau denjenigen, „den Russland jetzt braucht“ und der sich vom Westen nichts sagen lässt, präsentierte.
In dieser Zeit vollzog sich ein Machtkampf innerhalb der neu entstandenen Kapitalistenklasse. Während einige Millionäre wie Michail Chodokowski ausgeschaltet wurden, vertrat Putin die Interessen der „schweren Bataillone“ der Wirtschaft. Demgegenüber bauten pro-westliche Unternehmer gerade, im Dienstleistungsbereich oder im Einzelhandel, eher auf Dmitri Medwedew.
Nachdem dieser Konflikt durch die Ankündigung von Putins Kandidatur zur Präsidentschaftswahl am 4. März 2012 beigelegt schien, bekommt das Bild vom „Einigen Russland“ (so der Name der dominanten Partei der Landes) nun an ganz anderer Stelle gefährliche Risse: Plötzlich bricht sich die über Jahre hinweg angestaute Unzufriedenheit breiter Bevölkerungsschichten Bahn.
Und jetzt diese Wahl…
Bei der Parlamentswahl vom 4. Dezember 2011 kam es zu dreisten Fälschungen: Im Rostower Umland ergaben die addierten Ergebnisse eine Gesamtsumme von 146,47 Prozent. Berichte von Leuten, die im Bus von Wahllokal zu Wahllokal gefahren wurden oder mit Hunderten von Pässen zu den Urnen gingen und für andere gleich mitwählten, sowie von Urnen, die mit ausgefüllten Stimmzetteln in Wahllokalen ankamen, drücken eine unglaubliche Absurdität aus.
Dieser Wahlbetrug löste die größten Proteste seit 20 Jahren aus. In Moskau beteiligten sich am 10. Dezember 100.000 Menschen an der Demonstration, parallel dazu fanden in 100 weiteren Städten Demos statt. Bei diesen Protesten waren Schilder mit Sprüchen wie „Ich bin doch kein Hornochse“ oder „Die Wahl ist gefälscht – das wahre Ergebnis lautet: 146 Prozent für Putin“ zu sehen.
Zeit für eine Partei im Interesse der Mehrheit der Bevölkerung!
Aber was ist die Alternative? AktivistInnen vor Ort schätzen: Selbst bei nicht gefälschten Wahlen hätten alle neoliberalen Parteien, die die offizielle Opposition darstellen, zusammen nicht mehr als zehn oder 15 Prozent erhalten. Ihre Politik wäre ebenfalls nicht im Interesse der Arbeitenden und Armen im Land. Auch die heutigen Oppositionsparteien sind auf die Bereicherung Einzelner aus.
Was fehlt, ist eine starke politische Interessenvertretung der Arbeiterklasse und der Jugend. Bei der Moskauer Großdemo brachte ein Schild das aktuelle Dilemma gut auf den Punkt: „Ich habe meine Stimme nicht diesen Bastarden gegeben – ich habe sie den anderen Bastarden gegeben!“