Italien im Auge des Sturms: Neue Stufe der Euro-Krise
Jetzt sind wir wieder – wie schon beim Lehman-Brothers-Desaster – an der Stelle in Spielbergs „Weißen Hai“, als Polizeichef Roy Scheider das Tier zum ersten Mal zu Gesicht bekommt und daraufhin konsterniert zum Haijäger Robert Shaw sagt: „Wir werden ein größeres Boot brauchen.“ Nachdem in der Euro-Krise wochenlang die drohende Insolvenz Griechenlands im Mittelpunkt stand, ist nun Italien erneut in den Fokus gerückt. Während Hellas Schulden in Höhe von 350 Milliarden angehäuft hat, beläuft sich das Defizit Italiens (dessen Ökonomie fast 20 Prozent der Euro-Wirtschaft ausmacht) auf 1,9 Billionen Euro. Jeder weiß, dass sich, um im Bild zu bleiben, kein Boot in einer Größe zimmern lässt, um dem italienischen Schuldenberg gerecht zu werden. Der Euro-Rettungsschirm jedenfalls mit seinen real zur Verfügung stehenden 250 Milliarden Euro würde trotz aller Hebeltricks nicht ausreichen.
von Aron Amm, Berlin
Lucas Zeise, Kommentator der Financial Times Deutschland, stellte die These auf, dass die Finanzmärkte Italien ganz bewusst ins Visier genommen haben, damit die dortigen Politiker ihre Austeritätsvorhaben endlich forcieren. Natürlich zielt die Aufruhr der Bürgerlichen darauf ab. In Griechenland begründet man ein Kürzungsprogramm nach dem anderen mit den unabsehbaren Folgen eines Staatsbankrotts und Austritts aus der Euro-Zone. In Portugal will die neue konservative Regierung mit dem Verweis auf die Turbulenzen in Athen und Rom in Rekordzeit weitere Kahlschlagsgesetze durchs Parlament peitschen. (Die Regierungswechsel in Griechenland und Italien in diesen Tagen gingen vom Kapital aus – und komplett am Parlament und an der Bevölkerung vorbei. Das lässt Erinnerungen an die Notverordnungen vom Reichskanler der Zentrumspartei Heinrich Brüning und seinen „Spar“maßnahmen in Deutschland zu Beginn der dreißiger Jahre wach werden. Den Kapitalisten drohen ihre „Demokratie-Sicherungen“ durchzubrennen).
Trotzdem handelte es sich in den vergangenen Tagen im Fall von Italien nicht einfach um ein abgekartetes Spiel der Märkte – schließlich wissen sie, dass sie mit dem Feuer spielen. Vielmehr haben die Sorgen vor einer Pleite der drittgrößten Euro-Ökonomie eine handfeste Grundlage.
Plötzlich ist die Gefahr von Euro-Staatspleiten akut
Spätestens seit den Euro-Turbulenzen im Juli dieses Jahres ist es ein offenes Geheimnis, dass Griechenland früher oder später Insolvenz anmelden muss und womöglich gezwungen ist, den Euro-Raum zu verlassen. Ziel der diversen Gipfeltreffen seither war es, vor solch einem Verlauf zum einen die Banken zu rekapitalisieren (und damit zu schützen) und zum anderen eine Brandmauer zu schaffen, die verhindert, dass sich das Feuer ausbreiten und Portugal, Irland, Spanien, aber vor allem Italien erfassen kann. Wie die Financial Times meinte, nach dem Motto: „Wer eine Sprengung wagt, muss das Gelände vorher absichern.“
Die Euro-Kapitalisten stecken nun in einem Dilemma. Zwar wurde den Banken eine Erhöhung der Eigenkapitalquote von vier auf neun Prozent verordnet und der Euro-Rettungsschirm von 440 auf 780 Milliarden Euro ausgeweitet sowie Pläne zur Hebelung der real einsetzbaren 250 Milliarden um den Multiplikationsfaktor vier geschmiedet. Bei alledem war und ist man auf den Regierungsbänken, in der Europäischen Zentralbank (EZB) und im Internationalen Währungsfonds (IWF) erpicht, es den Banken so angenehm wie möglich zu machen. Dennoch gibt es weiter viele Fragezeichen und Unbekannte.
Gleichzeitig ist jetzt eine neue Lage eingetreten. Nachdem Bundeskanzlerin Angela Merkel, Frankreichs Staatspräsident Nicolas Sarkozy und andere bislang daran dachten, dass Hellas möglicherweise Pleite geht und die Euro-Zone verlassen muss, haben sie diese Gefahr – angesichts der verzweifelten Volksabstimmungspläne von George Papandreous Anfang November – erstmals offen ausgesprochen. Zudem signalisiert der ausgehandelte Schuldenschnitt von 50 Prozent: Was jahrzehntelang galt, stimmt heute nicht länger – Staatsanleihen sind nicht mehr sicher! Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hatte man Geldanlagen in Staatsanleihen als 100 Prozent sichere Anlagen betrachtet. Damit ist es nunmehr vorbei.
Worst Case Italien
Diese Entwicklung ließ die Risikoprämien für italienische Staatsanleihen plötzlich auf sieben Prozent steigen. Eine Rendite von sieben Prozent für zehnjährige Staatsanleihen bedeutet ein lange Zeit unvorstellbares Niveau für staatliche Schuldenpapiere. Es war genau diese Größenordnung, die nicht nur Griechenland, sondern auch Irland und Portugal zwang, um Euro-Hilfsprogramme zu bitten.
Selbst wenn die Bürgerlichen Silvio Berlusconi nun abschießen und – auf Kosten der Arbeiterklasse – immense Kürzungen beschließen, wird sich die Frage eines Bankrotts von Italien schon bald in aller Schärfe wieder stellen. Erstens muss das Land 2012 Schulden in Höhe von sage und schreibe 300 Milliarden Euro refinanzieren. Zweitens wird die stagnierende Wirtschaft durch den Abschwung im Euro-Raum und die Rotstiftpolitik (wie Griechenland geschehen) in den Rezessionsstrudel gerissen werden. Für Italien „gilt nicht der Grundsatz „too big too fail“, sondern die Regel „too big to save“, so der Deutschlandfunk vom 11. November.
Nach Meinung von Nobelpreisträger Paul Krugman wäre der Worst Case für die kommenden Jahre ein Szenario, in dem Italien die Gemeinschaftswährung verlässt: „Kunden ziehen ihre Einlagen ab. Banken schließen. Spanien wird mit nach unten gezogen. Wahrscheinlich fällt dann auch Frankreich. Die Konsequenz: Der Euro mutiert zu einer erweiterten Deutschen Mark. Ich kann kaum glauben, was ich da sage“ (Handelsblatt-Interview vom 11. November).
EFSF und EZB
Nicht nur die Insolvenz Griechenlands oder Portugals, sondern auch Italiens ist nur eine Frage der Zeit. Stefan Homburg von der Leibnitz-Universität in Hannover erklärte am 11. November, dass er den Euro schon abgeshrieben habe: „Es kann sein, dasss durch irgendwelche drastischen Maßnahmen und Rechtsverstöße die Staats- und Regierungschefs es schaffen, die Situation noch zwei, drei Jahre hinauszuschieben. Es kann aber auch genauso gut sein, dass uns schon nächste Woche gesagt wird, so geht es nicht weiter.“
Selbst wenn der erweiterte Euro-Rettungsschirm mittels Hebelmechanismen eine Billion Euro mobilisieren sollte, würde das für ein mit jetzt schon knapp zwei Billionen Euro verschuldeten Staat nicht rausboxen. In Börsenkreisen machte in Bezug auf die Europäische Finanzstabilisierungsfazilität EFSF das Wort von der Bazooka die Runde. Die Bazooka ist eine Panzerfaust. Der Oxford-Professor Clemens Fuest meinte, dass es sich bei der Wirkung des Rettungsschirms in Sachen Italien jedoch eher um eine Wasserpistole handeln würde.
Wenn die EFSF-Mittel nicht reichen, dann bleibt – so die Bürgerlichen – immerhin noch die Europäische Zentralbank. Die EZB war bei ihrem Ankauf von bald 200 Milliarden Euro Staatsanleihen primär bemüht, die Finanzhäuser zu entlasten. Ein Gros der Papiere stammt bekanntlich aus Griechenland. In diesem Fall wurden die Anleihen aufgekauft und „sterilisiert“; sprich, an anderer Stelle wurde die Geldschöpfung verringert. Das wird sich bei Italien nicht fortschreiben lassen. Vielmehr droht die Geldbasis dann über kurz oder lang anzusteigen, die Gefahr der Inflation – beziehungsweise „Stagflation“ wie in den siebziger Jahren, also eine riskante Kombination von Stagnation und Inflation – könnten das Resultat sein.
Paul Krugman plädiert dennoch für eine solche aktive Rolle der EZB. Aber Krugman ist auch ein Anhänger von John Maynard Keynes, von dem das Bonmot stammen soll: „Auf lange Sicht sind wir alle tot.“
Doch auch Krugman erklärte im Handelsblatt-Interview: „Ja, es gibt keinen gemeinsamen homogenen Wirtschaftsraum. Damit fehlte auch die Voraussetzung für eine gemeinsame Währung. Deshalb war das Euro-Projekt ein schrecklicher Fehler.“ Leidtragende davon sind die arbeitenden und erwerbslosen Menschen, die – im Gegensatz zu den heutigen Kapitaleignern – in der Lage sind, einen solchen „gemeinsamen homogenen Wirtschaftsraum“ zu schaffen, aber nur auf nichtkapitalistischer, auf sozialistischer Grundlage.