Wahlsieg von Ennahda verändert die politische Landschaft in Tunesien

Die sogenannte Erfolgsgeschichte der Wahlen verschleiert die wachsende Wut von unten


 

von BerichterstatterInnen des CWI („Komitee für eine Arbeiterinternationale“, deren Sektion in Deutschland die SAV ist) in Tunis

Mit einer breit angelegten Medienkampagne in Fernsehen, Radio, Zeitungen und auf den Straßen wurde wochenlang im voraus die Werbetrommel gerührt, um die Menschen in Tunesien zu ermahnen, sich zu den Wahlen für die Verfassunggebende Versammlung am 23. Oktober in die Wahllokale zu begeben. Die nun bestimmte Versammlung soll die Verfassung überarbeiten, eine neue Übergangsregierung einsetzen und den Termin für die Parlaments- und die Präsidentschaftswahlen festlegen.

Gekennzeichnet wurden die Wahlen durch den Sieg der islamistischen Partei „Ennahda“, der eine neue, komplexe Situation vor dem Hintergrund mit sich bringt, dass sich eine Krise auf wirtschaftlicher Ebene fortsetzt und unter den Massen großes Verlangen nach gesellschaftlichem Wandel besteht.

Nach Jahrzehnten der Diktatur und Wahlfälschungen, die bei allen vorangegangenen Urnengängen unter der Herrschaft von Ben Ali charakteristisch waren, waren diese Wahlen für viele TunesierInnen nun die erste Gelegenheit in ihrem Leben, im Rahmen von „echten Wahlen“ ihre Stimme abzugeben. Und das, ohne das Ergebnis schon im vorhinein zu kennen. Das ist die wichtigste Erklärung für die enorme Wahlbeteiligung: Viele entschieden sich dafür, ein Recht wahrzunehmen, dass ihnen über so viele Jahre hinweg vorenthalten wurde. Außerdem hat die Revolution breite Bevölkerungsschichten politisiert und viele entschieden sich zu wählen, weil sie nicht wollten, dass die herrschenden Eliten hinter ihrem Rücken weiterhin tun, was sie wollen.

Bisher, so erklärt Dali, ein tunesischer Aktivist „ist die Beteiligung nicht so stark wie die Medien uns glauben machen wollen. Die Meldungen, wonach mehr als 90 Prozent der Bevölkerung ihre Stimme abgegeben haben, sind nichts als Manipulation der Zahlen, weil dieser Prozentsatz nur auf den 4,1 Millionen Menschen basiert, die sich im Vorfeld für die Wahllisten registrieren ließen. In Wirklichkeit liegt die Wahlbeteiligung wohl eher um die 60 Prozent.“ Und in der Tat: Trotz der relativ hohen Wahlbeteiligung und der Erwartungen, dass die ersten angeblich „demokratischen“ Wahlen einige neue Schichten mobilisieren konnten, herrschten Skepsis und ein bedeutsames Maß an Misstrauen gegenüber den Politikern, vor allen unter den jungen Leuten und in den sozial abgehängten Regionen im Binnenland.

Ennahda ins Amt gewählt

Auch wenn die vollständigen Ergebnisse immer noch nicht verkündet wurden, ist klar, dass die islamistische Partei „Ennahda“ mit Abstand auf den ersten Platz gekommen ist. Sie liegt in fast allen Regionen vorn und heimste mit 40 Prozent der Stimmen rund 90 der insgesamt 217 Sitze in der Verfassunggebenden Versammlung ein. Auf den ersten Blick mag das überraschen, weil diese Partei bei den Massenprotesten zu Jahresbeginn kaum sichtbar war. Und eine Rolle in der Revolution spielte sie gar nicht. Dennoch hat diese Partei von der Tatsache profitiert, dass auf der Linken keine Alternative vorhanden ist, die eine Herausforderung hätte darstellen können. Das Fehlen einer strategischen Vision, eines klaren revolutionären Programms, um die Revolution weiterzuentwickeln und in den Wohnvierteln Wurzeln schlagen zu lassen, hat „Ennahda“ die Möglichkeit eröffnet, das Vakuum für sich zu nutzen. Dali erklärt: „Die Rhetorik der Linken – radikal in der Form, aber ziemlich arm, was ihr programmatisches Gehalt angeht, hat nicht ausgereicht, um die Massen zu erreichen. Dies hat sie daran gehindert, unter der Armen, die von den Islamisten gewonnen werden konnten, eine echte Basis zu erlangen.“

Indem sie sich auf ein Netzwerk von wohltätigen Organisationen stützen konnte, die in den ärmsten Wohnquartieren und Ortschaften aktiv sind, und auf enorme finanzielle Unterstützung, die angeblich von den Golf-Monarchien stammt, konnte „Ennahda“ einen über das ganze Land ausgedehnten Wahlkampf führen und die Frustration der Menschen für sich ausnutzen. Dabei spielte sie mit den religiösen Gefühlen der Leute und einer populistischen Sozial-Rhetorik. So versprach sie zum Beispiel die Schaffung von „590.000 Arbeitsplätzen in fünf Jahren“ und ein Ende der jahrzehntelangen regionalen Ungleichheit. „Ich wähle Ennahda, weil die anderen Parteien wollen, dass 10 Prozent der Bevölkerung im Luxus leben, während der Rest des Volkes in Armut verharren soll“, erklärte ein alter Mann im Interview mit einer französischsprachigen Zeitung.

Der Sieg von „Ennahda“ basiert auch auf deren Versprechen, die Moral zurück ins politische Leben zu bringen, Schluss zu machen mit der sogenannten „Mafiokratie“ und der staatlichen Korruption. Dessen ungeachtet war die Praxis des Stimmenkaufs auch ihnen nicht fremd. Doch überdies haftet ihnen auch das Image an, Märtyrer zu sein, weil sie unter dem Regime von Ben Ali verboten, verfolgt und viele ihrer Mitglieder inhaftiert, gefoltert und ins Exil gezwungen wurden. In einer Situation, in der bis zu 40 der mehr als 100 zur Wahl angetretenen Parteien im Verdacht standen, Schöpfungen der ehemals herrschenden Partei RCD zu sein, erschien „Ennahda“ für viele als glaubwürdiger Kandidat und „echter Bruch“ mit der Vergangenheit.

Die Tatsache, dass einige der politischen Gegner von „Ennahda“ sich in einer Gegenkampagne engagierten, einen inhaltslosen säkularen Jargon von sich gaben und dabei überhaupt nicht die drängenden Bedürfnisse der breiten Masse der Menschen aufgriffen – und das in einem Land mit einer zum Großteil moslemischen Bevölkerung, spielte im Endeffekt nur „Ennahda“ in die Hände. Das ist etwas, vor dem das CWI von Beginn an gewarnt hat.

SozialistInnen sollten die Notwendigkeit, Staat und Religion voneinander zu trennen, mit Feingefühl thematisieren. SozialistInnen verteidigen das Recht der Menschen auf individuellen religiösen Glauben und darauf, diesen auch auszuleben. Das muss aber unabhängig vom Staat geschehen. Aus historischen Gründen wird der Säkularismus von vielen MoslemInnen in Tunesien dennoch oft als Negierung dieser Rechte betrachtet.

Die Geheimpolizei von Ben Ali verfolgte Menschen, die ihre Religion praktizierten oder „zu viel“ an Religiosität auslebten und schüchterte sie ein. So konnten Leute dem Regime als suspekt erscheinen oder sogar von Inhaftierung bzw. Polizeigewalt bedroht werden, nur, weil sie in einer Moschee beteten. Frauen wurde in Universitäten und öffentlichen Einrichtungen das Tragen des Schleiers verboten etc. Die Menschen erinnern sich noch gut daran, dass Ben Ali, nachdem er an die Macht gekommen war, die Bedrohung durch den Islamismus ausnutzte und damit seine Herrschaft rechtfertigte. Bald darauf wurden alle Räume, in denen noch Freiheit herrschte ausgemerzt und seine abscheuliche Diktatur nach und nach aufgebaut errichtet.

Zu den Parteien, die ihren Wahlkampf entlang vergleichbarer Linien ausrichteten und versuchten, die politische Landschaft zu polarisieren, indem sie sich gegen die sogenannten „Modernisten“ und „obskuren Figuren“ stellten, gehörten auch der „Pole Démocrate Moderniste“ (PDM; eine von der sich mittlerweile als „mitte-links“ bezeichnenden, aus der alten „Tunesischen Kommunistischen Partei“ hervorgegangenen Ettajdid gelenkte Liste) und die PDP. Sie haben viele WählerInnen – vor allem aus der Arbeiterklasse und den verarmten Schichten – abgeschreckt. Außerdem sind diese beiden Parteien aufgrund ihrer offenen Zusammenarbeit mit der Übergangsregierung, die direkt auf Ben Ali folgte und maßgeblich mit konterrevolutionären Personen aus der Zeit der Diktatur bestückt war, abgestraft worden. Die PDP hat auch für ihr notorisch aufrecht erhaltenes Bündnis mit den Konzernen und ehemaligen Mitgliedern der Ben Ali-Partei RCD und anderen Überbleibseln des alten Regimes, denen in einigen Fällen sogar gehobene Funktionen in der PDP angeboten wurden, ihren Preis zahlen müssen. Die Partei, welche noch vor einem Monat immer noch davon ausgegangen war, stärkste Partei in Tunesien zu werden, erlitt eine verheerende Niederlage, die zu einer internen Krise führte.

Dali meint dazu: „Monatelang konnten wir eine von bürgerlichen Kräften, Leuten des alten Regimes und rechtsgerichteten Medien dominierte Debatte verfolgen, deren Ziel darin bestand, soziale und ökonomische Themen auszublenden, die für die >einfachen Leute von größter Bedeutung sind. Stattdessen konzentrierte man sich auf abstrakte Fragen über Identität, Säkularismus und Religion. Allgemein haben die Menschen für Parteien gestimmt, die eine solche >Teile und Herrsche-Herangehensweise ablehnten – sie stimmten für die, die soziale Themen ansprachen und echte Fragen aufwarfen.“

Das war auch hinsichtlich der Liste „Congress for the Republic“ (CPR) der Fall, die vom Bürgerrechtsaktivisten Moncef Marzouki gegründet und gemeinhin als ehrliche, politische und prinzipientreue Formation angesehen wurde, die schon historisch gegen die Ben Ali-Diktatur stand. Auch kann man das vom „Democratic Forum for Labour and Liberties“ (arab.: „Ettakatol“; dt.: „Demokratisches Forum für Arbeit und Freiheit“; Erg. d. Übers.) behaupten. Beide haben einiges dafür getan, um bei den Wahlen laut Schätzungen nun auf 30 bzw. 21 Sitze zu kommen.

Die Liste „El Aridha“ (sinngemäß: Partei für die Belange des Volkes; d. Übers.) schaffte einen unerwarteten Durchbruch. Angeführt wird sie vom Millionär Hechmi Haamdi, einem ehemaligen Islamisten, der dann zum offenen Verbündeten des Ben Ali-Regimes wurde, um sich später wieder gegen ihn zu stellen. Ihm gehört ein Fernsehsender, der via Satellit von London aus sendet. Er versprach Baguettes zum Preis von 100 Millimes (rund fünf Euro-Cent; Erg. d. Üners), 200 Dinar (rund 100 Euro) an Unterstützung für jede arbeitslose Person, kostenlosen Nahverkehr für alte Menschen, den Bau von Sozialwohnungen und eine kostenlose Gesundheitsversorgung. Er war in der Lage, etliche Stimmen auf sich vereinen zu können, indem er einfach die wirtschaftliche Misere der BewohnerInnen der ärmsten Regionen des Landes auszunutzen verstand, als auch aufgrund eines Unterstützer-Netzwerks bestehend aus ehemaligen RCD-Mitgliedern in eben diesen Gebieten. Zudem machte er sich die Tatsache zunutze, dass er selbst aus (der zentral-tunesischen Stadt; Erg. d. Übers.) Sidi Bouzid stammt und somit mit regionalen Ressentiments gegenüber den vergleichsweise höheren Lebensstandards in den nördlich gelegenen Küstenstädten spielte. All das war möglich, fast ohne während des Wahlkampfs überhaupt einen Fuß auf tunesischen Boden zu setzen.

Wegen der Anzahl offensichtlicher Unregelmäßigkeiten, die seine Wahlkampagne allerdings kennzeichnete, wurden die von Haamdi angeführten Listen jedoch in sechs Regionen für ungültig erklärt. Das zwang ihn, im Nachhinein auch die anderen Listenvorschläge zu streichen, und er beklagte am Ende den „verrotteten“ Charakter der zu wählenden Versammlung. Da seine Partei gut 30 Sitze gewann, könnte dies dazu führen, dass die Anzahl der Sitze insgesamt jetzt auf alle anderen Parteien neu umgerechnet werden muss. Die ganzen Umstände und Geschichten um Haamdi waren der wesentliche Anlass für die explosiven Proteste und Ausschreitungen am Donnerstag in Sidi Bouzid, wobei auch die örtliche Zentrale von „Ennahda“ niedergebrannt wurde.

Die zuletzt beschriebene Begebenheit widerspiegelt die in den ärmsten Regionen des Landes herrschende soziale Hoffnungslosigkeit. Aber auch den Umstand, dass – obwohl diese Wahlen unvergleichlich demokratischer abliefen als in der Ära Ben Ali – sie nichtsdestotrotz infiziert waren mit all den schmutzigen Facetten, die Urnengänge im Kapitalismus zu eigen sind. Da wäre zuerst die Abhängigkeit davon zu nennen, wie viel jede Partei und jeder Kandidat an Geld zur Verfügung hat, wie auch jede Form von Manipulationsversuchen. Dali kommentiert: „Es ist schon zu mehr als 800 Beschwerden über Verstöße gegen das Wahlrecht, Unregelmäßigkeiten bei der Wahlkampf-Finanzierung, Versuche des Stimmenkaufs, Einschüchterung von Menschen, um sie zur Stimmabgabe für die eine oder andere bestimmte Partei zu bringen, Korruption jeglicher Art […] gekommen. Und das kommt nicht von Seiten der >großen Verlierer wie der PDP, die äußerten, dass es sich bei diesen Wahlen um ein Modell der Demokratie gehandelt habe, sondern vielmehr von den wütenden >einfachen Leuten, die keine Parteien wollen, welche ähnliche Methoden anwenden wie das alte Regime.“

Was kommt als nächstes?

Während der Wahlausgang von den wichtigsten kapitalistischen Kräften und deren Kommentatoren in den Medien im Allgemeinen begrüßt wird, so wird die Tatsache, dass „Ennadha“ dabei zur stärksten politischen Kraft geworden ist, doch einer detaillierten Prüfung unterzogen. Und dies geschieht nicht ohne Sorgen. Klar ist, dass die Führung von „Ennadha“ grundlegend konzernfreundlich eingestellt ist. Ihr Führungspersonal hat in Reden und Mitteilungen vielfach deutlich gemacht, dass die Wirtschaftspartner des Landes (vor allem der europäische Kapitalismus) keinen Grund zur Sorge haben. „Wir hoffen, sehr schnell zu Stabilität und günstigen Bedingungen für Investitionen zurückkehren zu können“, sagte Abdelhamid Jlassi, Vorsitzender des Parteipräsidiums. Die Führungsriege von „Ennadha“ hat zahlreiche Versuche unternommen, um unter Beweis zu stellen, dass man in der Lage ist, eine respektable, moderate und pro-westliche islamistische Partei zu sein. Rachid Ghannouchi, ihr wichtigster Führer, beruft sich unentwegt auf die türkische Regierung unter Premierminister Tayyip Erdogan und seiner „Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung“ (AKP). Er beschreibt seine „Ennadha“ als Partei der Mitte, demokratisch / mitte-rechts und „mit religiösen Wurzeln“.

Auf der anderen Seite herrschen vor allem unter gut ausgebildeten jungen Leuten, der städtischen Mittelschicht aber auch bei vielen Menschen aus der Arbeiterklasse und vor allem Frauen Ängste vor, dass der Sieg von „Ennadha“ als Versuch zu deuten sein kann, einige ihrer Rechte wieder in Frage zu stellen, die Islamisierung der Gesellschaft voranzubringen und reaktionäre Einschränkungen gesellschaftlicher Werte zu bringen (wie etwa regressive Gesetze zu Heirat, Scheidung und Erbschaften, Polygamie, Alkohol, Kopftüchern usw.). Diese Ängste sind vor allem deshalb nicht unbegründet, weil innerhalb dieser Partei ein aggressiver Flügel existiert, der sich aufgrund des errungenen Wahlsiegs selbstbewusster geben und versuchen könnte, eine extremere Agenda durchzusetzen.

Befürchtungen, es würde bei „Ennahda“ ein „Geheimplan“ existieren, wurden durch die Tatsache bestärkt, dass einige Gruppen von Salafisten in den vergangenen Monaten ihre Muskeln haben spielen lassen. So haben sie wegen ihrer Meinung nach gotteslästerlichen Materials ein Kino und eine Fernsehstation angegriffen, demonstriert, um ihrer Forderung nach einer „Islamischen Revolution” Gehör zu verschaffen, und linke AktivistInnen und Frauen physisch brutal angegriffen.

Die Verbindung zwischen „Ennahda“ und diesen fundamentalistischen Aufwieglern bleibt nebulös. Und es kursiert der schlimme Verdacht, dass einige dieser Gruppen auch vom Geheimdienst manipuliert und infiltriert sind, der versucht hat, Ängste vor der „vollkommenen Gefahr” zu schüren, um für Chaos zu sorgen und möglicherweise eine Razzia rechtfertigen zu können, sollte es zu einer größer werdenden Opposition gegenüber dem Regime kommen. Betrachtet man den historischen Konflikt zwischen dem tunesischen politischen Islam und dem alten säkular-authoritären System Ben Alis, dessen Strippenzieher weiterhin in Amt und Würden sind, so besteht durchaus das Potential für Zusammenstöße zwischen der nun herrschenden islamistischen Partei und dem Polizeiapparat, der höheren Verwaltungsebene und dem Netzwerk der alten RCD.

„Ennahda“ wird in der nun bestimmten Versammlung keine absolute Mehrheit und somit Schwierigkeiten haben, eine extreme Linie zu fahren. Bedingt wird dies vor allem auch dadurch, dass Tunesien ein Land ist, das gerade erst die Erfahrung einer Revolution gemacht hat und von einer starken säkularen Tradition geprägt ist. Dali bestätigt dies: „Die islamistische Gefahr ist insofern begrenzt, als dass diese Kräfte kurz nach einer Revolution an die Macht gekommen sind, und die Menschen sie nicht machen lassen werden, was sie wollen. Die Leute haben gelernt zu kämpfen, wann immer sie das Gefühl haben, dass ihre Rechte in Gefahr sind.“ Die Zugeständnisse, die „Ennahda“ bei der Darlegung einer neuen Verfassung und innerhalb einer neuen Regierungskoalition abverlangt werden könnten, führen womöglich auch zur Abspaltung der Hardliner von der Partei. Letzteren könnte es dann „zu liberal“ werden und zu sehr angepasst an „westliche Werten“.

Wenn aber die Linke nicht die Initiative ergreift und der Arbeiterklasse sowie den armen Massen kein seriöses Alternativ-Programm für echten Wandel anbietet, so kann andererseits nicht ausgeschlossen werden, dass „Ennahda“ die Oberhand gewinnt und sich für einen weitaus fundamentalistischeren Kurs entscheidet. Was das angeht, so schrieben wir bereits im Mai dieses Jahres: „Die Doppelzüngigkeit dieser Partei zeigt, dass sie in internen Widersprüchen zerrissen bleibt. Die einflussreicheren Führungspersonen der Partei zeigen momentan den Willen, die Unterstützung des Imperialismus im Tausch gegen einige Garantien eingehen zu wollen, die ihr mehr Ansehen und den Eindruck verschaffen, als seien sie den Regeln der >Demokratie gegenüber loyal eingestellt. Auch wollen sie den Eindruck erwecken, als stünden sie den Aktivitäten fundamentalistischer Gruppen grundsätzlich ablehnend gegenüber. Wie weit dies gehen kann, bleibt allerdings abzuwarten. Es kann zu Abspaltungen bzw. Übertritten von Mitgliedern zu anderen Formationen kommen oder zu Entwicklungen in die eine oder andere politische Richtung. Maßgeblich dafür sind die noch bevorstehende Entwicklungen, wenn >Ennahdha gezwungen sein wird, über das Level der reinen Propaganda hinauszugehen.“

All diese sich widersprechenden Elemente werden in den kommenden Monaten eine Reihe von Tests durchlaufen müssen.

Ist die Revolution zu Ende?

„Die herrschende Klasse und deren Sprachrohre tun so, als ob diese Wahlen der Höhepunkt seien, der Endpunkt unserer Revolution. Die Klagen über die sozialen und wirtschaftlichen Unzulänglichkeiten seinen demnach nur ein Detail und die Revolution hätte die freien Wahlen zum Ziel gehabt. Schluss und aus.“, so der Kommentar Dalis dazu.

Und weiter: „Jetzt werden sie versuchen, die >Erfolgsgeschichte dieser Wahlen zu nehmen, um das Kapitel der Revolution zu schließen, die Politik von der Straße zurück in die Institutionen zu holen, weg von der kreativen Energie der Massen zurück zur >Professionalität der politischen Kaste, von der die Mehrheit in der Revolution jedoch nicht die geringste Rolle gespielt hat. Doch >die Menschen aus den Versammlungen sind nicht die >Menschen der Revolution“.

Diese Sichtweise widerspiegelt natürlich das Fehlen einer Partei, die vollends die Menschen der Arbeiterklasse und die Armen repräsentiert und eine Plattform gewesen wäre, über die die Interessen der Massen im Zuge der Wahlen ehrlich und aufrichtig hätten vertreten werden können. Die PCOT und das „Movement of Patriot-Democrats“ – zwei linke Parteien, die bei diesen Wahlen kandidierten – waren bis zu einem bestimmten Grad in der Lage, eine solche Rolle zu spielen. Zusammen sind sie Schätzungen zu Folge auf vier Sitze gekommen: drei für die PCOT und einer für die MPD. Was ihr Wirtschaftsprogramm angeht, so sind beide leider ziemlich ausweichend geblieben. Außerdem haben sie eine Gelegenheit vertan, weil sie es ablehnten, bis kurz vor Schluss und explizit die Übergangsregierung von Essebsi herauszufordern. Dass sie dabei zögerten, gegen die verräterische Politik der führenden Bürokratie des Gewerkschaftsbundes UGTT in Opposition zu treten und darin versagten, für eine eindeutig sozialistische Politik Stellung zu beziehen, hat ihre Position aufgeweicht und ihren Bezug zur Arbeiterklasse, den Bäuerinnen und Bauern sowie den Armen geschwächt.

Vor den Wahlen hielt die Essebsi-Regierung einschüchternde Reden und bezog sich damit auf die Proteste, Sit-Ins und Streiks. Man beschrieb die daran Beteiligten als Minderheit, die die Wahlen stören wollten. Eine Schande war es, dass derlei Reden von Mitgliedern der Gewerkschaftsvorstände aufgegriffen wurden, die ihre verschiedenen regionalen und branchenmäßig unterteilten Gliederungen anwiesen, vor den Wahlen jede Streikhandlung zu vermeiden.

Auf diese Attacken auf das Streikrecht, die aus der Mitte der Gewerkschaftsbewegung kamen, gab es keine ernstzunehmende Reaktion von Seiten der Linken. Wenn aber derlei Verhalten nicht ernsthaft begegnet wird, wird die Gewerkschaftsbürokratie bei jeder Gelegenheit ihre führende Rolle weiterhin nutzen, um Aktivitäten der Arbeiterklasse zu sabotieren. Was wird dann ihr nächstes Argument sein? – Dass ArbeiterInnen, die streiken, die Legitimation einer demokratisch gewählten Regierung unterminieren?

Wirklich linke und dem Gewerkschaftsgedanken verhaftete AktivistInnen dürfen nicht länger damit warten, vor dem bevorstehenden UGTT-Kongress im Dezember eine alternative Plattform aufzubauen. Die folgende Phase muss genutzt werden, um den Kampf zur Abwahl der korrupten und verkommenen Unterstützer von Ben Ali vorzubereiten, die immer noch in der Gewerkschaft den Ton angeben und die wieder und wieder gezeigt haben, dass sie die schlimmsten Feinde der Arbeiterklasse sind. Das erfordert demokratisch gewählte Komitees in den Betrieben und den Wohnvierteln wie auch eine Demokratisierung der UGTT insgesamt.

Bevorstehende Kämpfe

Trotz dieses Klimas der Einschüchterung ist es regelmäßig zu vereinzelten Protesten und Streiks gekommen. Die Wahlen waren kaum beendet, als es in Redeyef zu einer wichtigen Demonstration kam. Redeyef ist eine Bergbaustadt mit kämpferischem Bewusstsein in der Nähe von Gafsa (Zentraltunesien) und hier wurde in besonderem Maße Gerechtigkeit für die Märtyrer der Revolution eingefordert, deren Belange von den momentanen Autoritäten bisher systematisch verunglimpft wurden. Es wurde alles dafür getan, Kriminelle und Mörder vor jedweder Art von rechtlicher Verfolgung zu schützen.

Am Donnerstag begann ein offener, landesweiter Streik der Postbeschäftigten für höhere Löhne. Jetzt, da die Wahlen vorüber sind, kann es zu neuen Aktionen der ArbeiterInnen kommen, weil die Arbeiterklasse „Demokratie“ will und damit grundlegenden Wandel bezüglich Lebensstandards und Arbeitsbedingungen meint.

Der Eindruck relativer Stabilität und die Hoffnungen auf eine allmähliche, ordnungsgemäß verlaufende demokratische Transformation könnten von nur kurzer Dauern sein, weil die tunesische Gesellschaft vor einer tiefen Krise steht und weiterhin von großen sozialen Widersprüchen gekennzeichnet ist. Und tatsächlich hat sich das Alltagsleben der tunesischen Massen kaum verändert. Wenn überhaupt, so muss man von einer Verschlechterung sprechen.

Die Preise für Grundbedarfsgüter – vor allem für Lebensmittel – sind aufgrund von Handelsspekulationen, einer großen Zahl von Flüchtlingen aus Libyen und vereinzelten Panikkäufen durch „einfache Leute“ kontinuierlich gestiegen. Seit Beginn des Jahres ist die Arbeitslosenrate offiziell von 14 Prozent auf 19 Prozent gewachsen. Und das ist nur die Spitze des Eisbergs.

In den ärmsten Regionen liegt die Arbeitslosigkeit teilweise bei über 40 Prozent. Anfang September haben sich fünf Menschen auf einem öffentlichen Platz im westlich gelegenen Kasserine gemeinschaftlich aufzuhängen versucht, weil sie jahrelang keine Arbeit gefunden haben.

Der dramatische Mangel an Arbeitsplätzen, der die Grundlage für die Revolution war, wirkt wie eine Zeitbombe. Eine alte Frau, die in einer Schlange vor einem Wahllokal stand und von einem Fernsehsender gebeten wurde, einen Kommentar abzugeben, sagte: „Kann ich wirklich sagen, was ich will? Diese Parteien, wenn sie unseren Kindern keine Arbeit geben, dann, schwöre ich, werden wir zu den Waffen greifen und sie rausschmeißen!“

Mehr noch: Der Grad an politischer Freiheit, der im Lande herrscht, steht auf wackeligen Füßen. Anders kann es auch gar nicht sein, weil die politische Szenerie nicht grundlegend ausgetauscht wurde, und der Staatsapparat weiterhin von korrupten Elementen durchdrungen ist, die auf Rache aus sind und eine konterrevolutionäre Linie verfolgen. Die Sicherheitskräfte bilden weiterhin eine Gefahr für „einfache Leute“, führen willkürlich Verhaftungen durch, wenden Gewalt an und foltern tagtäglich.

Können die Erwartungen erfüllt werden?

Es herrscht das weit verbreitete Gefühl, dass, wenn Politiker den Belangen der Menschen nach echtem Wandel nicht entsprechen können, eine weitere Revolution bevorsteht. Bisher deutet alles darauf hin, dass es nicht zu einem solchen Wandel kommen wird, wenn die Massen nicht einbezogen und dahingehend organisiert werden. Das ist die erste Lehre aus der revolutionären Erfahrung der vergangenen zehn Monate und dem Sieg von „Ennahda“.

Die beiden Parteien, die sich an Gesprächen zur Bildung einer Koalition mit „Ennahda“ beteiligen, CPR und FDTL, haben ihre Intentionen klargemacht. Mitte September sagte Moncef Marzouki, führender Kopf der CPR, in einem Interview, dass Investoren „mit sauberen Händen […] willkommen“ in seiner Partei sind. Als die FDTL angesprochen wurde, argumentierte man für ein konzernfreundliches Klima und nötige Gespräche, um „soziale Spannungen zu abzufedern“.

Keine Partei oder Koalition, die an der Fortführung des Kapitalismus festhält, wird eine starke Basis finden oder eine Chance auf langfristigen Erfolg haben. Der wirtschaftliche Aufruhr, den der Welt-Kapitalismus gegenwärtig erfährt, und die Armutslöhne und Massenarbeitslosigkeit, mit denen die Massen in Tunesien zu kämpfen haben, verbauen jeden Weg hin zu einer nachhaltigen Entwicklung des Landes – so lange wie die Wirtschaft im Interesse einer dünnen Schicht von großen, plündernden Konzernen und Banken geführt wird. Indem sie versprechen, das ökonomische Modell Tunesiens zu respektieren, das für die Lebensumstände von Millionen von Menschen ein Desaster bedeutet, werden diese Parteien nicht in der Lage sein, spürbare Lösungen für die sozialen Bedürfnisse der ArbeiterInnen und Armen zu bringen. Und dass ist ihnen bewusst.

In einer Fernsehdebatte am Montag sprach sich Mustafa Ben Jafaar (FDTL) für eine breite Regierung der nationalen Einheit aus. Er beklagte, dass es nicht fair sei, wenn ein paar Oppositionsparteien „das ganze Ausmaß der Wut des Volkes zu spüren kriegen“. Die vorherrschende soziale und ökonomische Instabilität wird voraussichtlich zu einer nie dagewesenen politischen Situation führen, welche von Krise und Unwägbarkeit gekennzeichnet ist, weil der revolutionäre Geist für Wandel unter den Massen – wenn auch in der jetzigen Phase noch relativ niederschwellig vorhanden – noch nicht unter Kontrolle gebracht worden ist.

Die tunesische Revolution ist noch lange nicht vorbei. Es liegt auf der Hand, dass neue Kämpfe ausbrechen werden, da es nur zu einer Restauration und Stabilisierung des bestehenden Wirtschaftssystems kommen kann, wenn die Anliegen der Massen nach einem neuen Leben negiert werden. Diese aber wurden durch die Revolution genährt.

Dali sagt dazu: „Die Führer von >Ennahda sagen jetzt, dass die Menschen Ruhe bewahren müssen. Die Leute sollen warten, weil sie keinen Zauberstab haben würden, um ihre Probleme zu lösen. Aber die Menschen werden nicht warten, weil die Bedingungen es uns nicht erlauben. Die revolutionäre Bewegung kann nicht aufgeben. Die arbeitenden Massen, die Gewerkschaften, müssen sich auf Kämpfe vorbereiten. Die Geschichte aller Revolutionen zeigt, dass Wahlen nicht das Ende sein können. Betrachtet man die Natur der bei diesen Wahlen siegreichen Parteien, so wird die wirkliche Zukunft der Menschen in Tunesien nicht in der Verfassunggebenden Versammlung bestimmt: Sie wird auf der Straße, in den Betrieben und den Gewerkschaften festgelegt. Die Massen müssen die Macht dieser Versammlung entzaubern, um ihre eigene Macht durchzusetzen.“

Die linken Kräfte, die die ArbeiterInnen und jungen Leute repräsentieren, müssen erklären, wie die bestehenden Hoffnungen auf Basis des alten Kapitalismus, dem Kumpan des alten Regimes, nicht erfüllt werden können. Wenn sie Forderungen nach Vollbeschäftigung, der Verteilung der Arbeit auf alle, das Auflegen eines breiten Wohnungsbauprogramms und zur Verstaatlichung der Industrie, des Bodens und der Banken unter demokratischer Kontrolle und Geschäftsführung der Beschäftigten aufstellen, dann können sie rasch zu einer einflussreichen Kraft werden. Es ist sowohl eine Massenpartei nötig, die wirklich die Interessen der ArbeiterInnen und all jener vertritt, die vom Kapitalismus ausgebeutet werden, als auch ein sozialistisches Programm, das die soziale Revolution weiterführt und sie auf internationale Ebene ausweitet.