Der „Schwarze Donnerstag“, der brutale Polizeieinsatz vom 30. September 2010, hat die Bewegung gegen Stuttgart 21 einschneidend geprägt. Das wurde daran deutlich, dass die Demonstration zum ersten Jahrestag mit etwa 20.000 die größte Demonstration gegen Stuttgart 21 seit vielen Monaten war.
von Wolfram Klein, aktiv bei Bad Cannstatter gegen Stuttgart 21 und im Arbeitskreis Stuttgart 21 ist überall
Ein Tribunal
Am Vorabend des Jahrestags fand im gerammelt vollen Alten Feuerwehrhaus in Stuttgart-Heslach ein „Bürgertribunal“ statt. Dort wurden verschiedene Gesichtspunkte des Polizeieinsatzes mit Videomaterial, Zeugenaussagen und verlesenen Erklärungen beleuchtet. (Zusätzlich las der bekannte Krimiautor Wolfgang Schorlau eine Passage aus seinem Krimi „Die letzte Flucht“ vor, in der der Schwarze Donnerstag thematisiert wird.)
Die verschiedenen Aussagen bestätigten, dass die Baumfällaktion insgesamt illegal war, dass obendrein der Einsatz von Wasserwerfern, Pfefferspray und Schlagstöcken diversen Polizeirichtlinien widersprach. Wenn man als häufiger Demoteilnehmer die Zitate aus diesen Richtlinien hörte, bekam man aber den Eindruck, dass solche Richtlinienverletzungen keine Ausnahmen sind.
Dazu kamen viele Schilderungen, die deutlich machten, mit welcher Brutalität die Polizei teilweise vorging.
Angeprangert wurde auch, dass es von offizieller Seite keine Aufarbeitung des Schwarzen Donnerstag gab, sondern sowohl der Landtags-Untersuchungsausschuss im Winter als auch der Abschlussbericht der Polizei (vom selbst am Einsatz beteiligten Polizeiinspekteur Schneider) im Juli aus Opfern Täter machten. Den Abschlussbericht hat sich auch der SPD-Innenminister Gall der neuen Landesregierung von Kretschmann zu eigen gemacht.
Gut war, dass der Schwarze Donnerstag in den damaligen politischen Kontext gestellt wurde: Merkels „Herbst der Entscheidungen“ und das Drängen von Kapitalvertretern nach einem Durchpeitschen von Stuttgart 21.
Eine Abschlusserklärung wurde verabschiedet (http://www.bei-abriss-aufstand.de/2011/09/30/abschlusserklarung-des-stuttgarter-burgertribunals-zum-30-09-2010/), die an der Mahnwache am Hauptbahnhof unterschrieben werden kann und in einigen Tagen Ministerpräsident Kretschmann übergeben werden soll.
Eine Großdemonstration
Am 30. September selbst fand eine Großdemonstration statt. Bei der Auftaktkundgebung auf dem Schlossplatz gab es mehrere Redebeiträge. Der ehemalige Richter Dieter Reicherter berichtete über das Tribunal vom Vortag. Er zitierte eine Aussage eines damals 14-jährigen Schülers: „‚Ich wurde von einem Polizisten am Kopf gepackt. Er zog mich an sich heran und rieb mir mit der Hand – er trug Handschuhe, die innen mit Metall oder ähnlichem beschlagen waren – das Pfefferspray brutal ins Gesicht. Ich fürchtete, dass er meine Nase brechen würde‘ – ist einigen Schülern passiert – ‚schreien konnte ich nicht, weil mir der Mund dabei zugehalten wurde.‘“ Er fasste die Abschlusserklärung zusammen. Das Tribunal sei nur ein Anfang gewesen, „aber besser ein Anfang als ‚Weiter so! Basta!‘“
Brigitte Dahlbender, BUND und Sprecherin des Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21, behandelte die Demokratie-Frage, Gangolf Stocker, ehemaliger Sprecher des Aktionsbündnis, die Kriminalisierung der Bewegung gegen Stuttgart 21.
Anna Zouhar sprach für die Jugendoffensive gegen Stuttgart 21. Die Jugendoffensive hatte am 30. September 2010 einen Schülerstreik gegen Stuttgart 21 organisiert. Als der Parkschützer-Alarm per SMS kam, strömten rund 2000 SchülerInnen in den Park und blockierten stundenlang friedlich Wasserwerfer und die Vorbereitung der Baumfällarbeiten. In ihrer Rede erinnerte Anna daran, dass die Polizisten zum Teil von Anfang an aggressiv waren und alle auf eine Eskalation vorbereitet waren.
Anna sagte, dass der Schülerstreik unter dem Motto „Bildung statt Bahnhof“ gestanden hatte und prangerte den weiterhin desolaten Zustand des Bildungssystems an, während für Stuttgart 21 Milliarden ausgegeben werden sollen. Stuttgart 21, das angebliche „neue Herz Europas“, „wäre der teuerste Arsch Europas“.
Sie kritisierte, dass auch unter der neuen Regierung Aggression und Verleumdung gegen die Jugendoffensive weiter gingen. Als die Jugendoffensive für den 2. August zu einer Jugendblockade am Grundwassermanagement aufgerufen hatte, verbreitete das Innenministerium Unwahrheiten und Polizei und Presse streuten die Lügen weiter. Kultusministerin Gabriele Warminski-Leitheußer (SPD) behauptete, die Jugendoffensive trüge die Schuld an der Eskalation des 30.9. Anna bedankte sich für die breite Unterstützung aus der Bewegung für die Blockade, an der über 250 Menschen teilnahmen.
Während sich verschiedene Teile der Bewegung von der Baustellenbesetzung vom 20. Juni (siehe ./?p=14306) distanziert haben, sagte Anna: „Auch die Baustellenstürmung am 20. 6. war eine weitere Demonstration unserer Stärke und hat gezeigt, dass es durchaus möglich ist, einen mehrtägigen Baustopp zu erzwingen. Denn aktiver Widerstand ist das einzige, was die Projektbetreiber in Bedrängnis bringt. Und etwas Neues zu wagen, kann einen auch weiter bringen.“
Viele werden das Rede-Stakkato des Schauspielers Volker Lösch als den Höhepunkt der Auftaktkundgebung empfunden haben. Er prangerte den Filz aus Wirtschaft und Politik hinter Stuttgart 21 an. Ihr Ziel beim Schwarzen Donnerstag sei gewesen, „durch Erzeugung von Angst künftig Kritik verhindern zu wollen“.
Er schilderte, wie die Bewegung gegen Stuttgart 21 das Leben von vielen AktivistInnen verändert hat, die erfahren haben, „dass Solidarität sogar Spaß machen kann, dass solidarisches Handeln eine kraftvolle Alternative zu rein gewinnorientierter Tätigkeit darstellen kann“. Er stellte den Kampf gegen Stuttgart 21 in den Kontext der Bewegungen „in Madrid, in Griechenland, in Frankreich“ und formulierte „bewusst pathetisch“: „es konstituieren sich derzeit Kräfte, die die Welt wieder verändern können“.
Wenn es eine Neuauflage des 30. September 2010 geben würde, „dann werden wir wieder – und das ist ein Versprechen – zu zigtausenden da sein, mit zigtausendfacher physischer Präsenz blockieren und demonstrieren und demonstrieren und blockieren und blockieren und demonstrieren und Stuttgart 21 verhindern“
Zur geplanten Volksabstimmung und ihrem undemokratischen und unfairen Charakter sagte er: „Wann wurden wir jemals gerecht behandelt? Wann hat es im Streit um Stuttgart 21 für uns jemals eine faire Ausgangslage gegeben? Wir haben immer auf nahezu verlorenem Posten gekämpft und sind dann als Punktsieger daraus hervorgegangen.“
Nach der Kundgebung gab es eine Demonstration zum Schlossgarten, wo eine Abschlusskundgebung mit weiteren Reden und Kulturbeiträgen stattfand.
Nur ein Hauch von déjà-vu
2010 hatte der Polizei-Großeinsatz am 30. September stattgefunden, weil am 1. Oktober die Vegetationsperiode juristisch vorbei war und deshalb Bäume gefällt werden durften. Jetzt ist wieder die Vegetationsperiode vorbei und am 4. Oktober gab es wieder einen Polizeieinsatz im Park. In dem vor einem Jahr zerstörten Teil des Parks wurde das „Grundwassermanagement“ errichtet („Grundwassermanupulation“ trifft besser). Von dort aus werden jetzt hässliche Rohre verlegt, durch die Grundwasser gepumpt werden soll, wenn ein Teil des Parks in eine Baugrube verwandelt werden soll. Am 4. Oktober wurde jetzt ein an das Grundwassermanagement angrenzender Teil des Parks (der „Feldherrnhügel“) abgezäunt, um dort einen Graben für Rohre zu graben.
Letztes Jahr machte die Polizei ihren Einsatz, als zwei Straßen weiter die Auftaktkundgebung des Schülerstreiks war. Diesmal machte sie ihren Einsatz, als auf der anderen Seite des Grundwassermanagements das wöchentliche dienstägliche Blockiererfrühstück stattfand, also mehr AktivistInnen vor Ort waren als an anderen Wochentagen, plus die, die wegen der Ankündigung der Bauarbeiten kamen. Mehrere Dutzend AktivistInnen besetzten den „Feldherrnhügel“. Die Polizei errichtete einen Bauzaun, hatte aber zunächst nicht genug Gitterteile für den Zaun, so dass sich Leute weiterhin den Menschen auf dem „Feldherrnhügel“ anschließen konnten. Als ein weiteres Fahrzeug mit Gitterteilen kam, wurde es von AktivistInnen blockiert, die von der Polizei weggetragen oder -gedrängt wurden. Dabei ging die Polizei zum Teil ziemlich brutal vor und versuchte, einem Blockierer ohne erkennbaren Grund Handschellen anzulegen. Schließlich gab die Polizei die Versuche auf, dem Fahrzeug die Straße freizumachen und die Gitterteile wurden über die Wiese getragen, wobei die Polizei DemonstrantInnen abdrängte. Da inzwischen ein Parkschützeralarm ausgelöst worden war, waren mehrere Hundert Menschen vor Ort. Nachdem der Zaun geschlossen war, begann die Polizei, die Leute auf dem Feldherrnhügel wegzuführen oder wegzutragen, Personalien aufzunehmen und Platzverweise zu erteilen. Inzwischen war es Mittag geworden. Da drei AktivistInnen auf Bäume geklettert waren, wurde ein Sondereinsatzkommando angefordert, um sie wegzubringen. AktivistInnen berichteten die Aussage eines Hundertschaftsführers über einen Baumbesetzer in 4 Meter Höhe: „Ist doch gut wenn er runter fällt, dann brauchen wir ihn schon nicht runter holen.“ Dafür wurde ein Demosanitäter, der geblieben war, falls sich die Baumbesetzer verletzen, von der Polizei weggetragen.
Vorübergehend heizte sich die Stimmung auf. Ein Bagger entfernte Büsche zwischen dem Grundwassermanagement und dem „Feldherrnhügel“. Inzwischen wurde auch ein Baum beseitigt. Der geplante Graben würde die Wurzelballen mehrerer großer Bäume verletzen und sie so schädigen. Wirklich eine seltsame Art, bis zur Volksabstimmung keine unumkehrbaren Fakten zu schaffen! Grundlage dafür ist ein Gestattungsvertrag, der die Arbeiten im Park erlaubt, der dem Land gehört. Unterschrieben hat ihn Finanzminister Nils Schmid von der SPD, die im Wahlkampf versprochen hat, dass es bis zur Volksabstimmung einen Baustopp geben würde. Der BUND erklärte, dass die Bauarbeiten trotzdem illegal waren, weil die landschaftspflegerische Begleitplanung, die schon vor dem 30. September 2010 hätte vorliegen müssen, nach über einem Jahr immer noch nicht da ist!
AktivistInnen rüttelten mittags am Zaun, hinter dem Büsche zerstört wurden, und testeten seine Stabilität. Die Polizei reagierte auf diesen „Stresstest“ aggressiv und drohte den Einsatz von Pfefferspray an. Bald entspannte sich die Lage aber wieder. Am Spätnachmittag herrschte eher Partystimmung bei strahlendem Sonnenschein. Am Dienstagabend gab es noch eine kleine Spontandemonstration durch die Innenstadt.
Am Mittwochmorgen war die Polizei mit einem Großaufgebot da. 60 Wannen wurden gezählt. Vor dem Bauzaun wurden noch zusätzlich Hamburger Gitter aufgestellt. Zwischen dem Grundwassermanagement und dem „Feldherrnhügel“ wurde der Zaun geöffnet, so dass ein Bagger vom Grundwassermanagement zum Feldherrnhügel fahren kann, um dort den Graben auszuheben (nicht ohne durch das ständige Hin-und-Herfahren den Rasen zu zerstören).
Wie weiter?
Es dürfte schwierig sein, das Grabenausheben wirksam zu behindern, ohne das Gelände zu besetzen. Nach der Hetze und Kriminalisierung seit dem 20. Juni schrecken viele AktivistInnen vor radikaleren Aktionen zurück und wittern hinter ihnen leicht Provokateure. Es gibt aber bei vielen eine Bereitschaft zu weitergehenden Aktionen. Als Wolfgang Schorlau beim Tribunal vorlas, dass die Hauptfigur seines Romans einem gewalttätigen Polizisten den Finger brach (was reine Fiktion ist, beim Tribunal wurde auch berichtet, dass die Polizei nach dem 30. 9. 2010 tagelang PolizistInnen bearbeiten mussten, bis einzelne sich für verletzt erklärten), gab es einen Beifallssturm! Wenn wir die Sackgasse hilflose Aktionen von vielen plus sinnlose Gewalt von einzelnen vermeiden wollen, brauchen wir Strukturen, die das Vertrauen der AktivistInnen haben und demokratisch über Aktionsformen entscheiden. Bezugsgruppen und Sprecherräte sollten diese Aufgabe erfüllen. Das funktioniert aber in der Praxis nicht.
Aber selbst wenn wir es jetzt nicht schaffen, das Verlegen der Rohre durch den Feldherrnhügel zu verhindern – je weiter sich das Verlegen der Rohre vom Grundwassermanagement entfernt, desto schwieriger wird es logistisch werden und desto mehr Möglichkeiten für Widerstand werden sich bieten.
Gleichzeitig gilt es in den kommenden Wochen natürlich, alles dran zu setzen, dass wir – zuallererst in Stuttgart möglichst viele Stimmen für den Ausstieg erreichen – um zu verhindern, dass die Gegenseite Nutzen aus der Volksabstimmung ziehen kann und die S21-Gegner möglicherweise demoralisiert werden.
Am 6. Oktober hat der Verwaltungsgerichtshof Mannheim einen Teil der Bauarbeiten gestoppt. Wir müssen beobachten, wie die Bahn mit dem Urteil umgeht. Wenn jetzt tatsächlich Bauarbeiten zurückgefahren würden und es weniger zu Blockieren gäbe, dann sollten wir die gewonnene Zeit erst recht nutzen, um für die Volksabstimmung zu mobilisieren.