„Seht nur, wie überall die Erde bebt…“
Am 6. August 2011 strömten 300.000 Menschen durch die Straßen von Tel-Aviv, Jerusalem und anderer Städte in Israel. „Das Volk will soziale Gerechtigkeit!“, wurde in Israel gebrüllt, und es erinnerte an die Slogans der revolutionären Aufstände in der arabischen Welt. Rein zahlenmäßig handelte es sich um die größte Demonstration, die es in Israel je gegeben hat. Mit einer offiziell niedrigen Arbeitslosigkeit und wachsender Wirtschaft wird das Land nun von einer historischen Massenbewegung erschüttert. Dies noch nicht von den unterdrückten PalästinenserInnen, sondern im Wesentlichen von israelischen Jüdinnen und Juden, die die Unterstützung für das Regime in Frage stellen.
von Shahar Ben-Khorin, Tnua´t Maavak Sozialisti / Harakat Nidal Eshtaraki (Bewegung Sozialistischer Kampf, Schwesterorganisation der SAV und Sektion des CWI in Israel/Palästina), 09/08/2011
Was ist übrig geblieben von dem, was Premierminister Benjamin Netanjahu Ende März noch von sich gab: „Es gibt nur ein Land im Herzen des Nahen Ostens, das keine Erschütterungen, keine Proteste erlebt […] Seht her. Überall, von der Straße von Gibraltar bis in den Westen Indiens, bebt die Erde. Alles bebt und wankt und der einzige stabile Ort, das einzige stabile Land ist diese Demokratie Israel – ein entwickeltes, florierendes Land, in dem vor dem Gesetz alle gleich sind, das eine starke Armee hat, weil es ein starkes Gemeinwesen ist.“
Jüngst musste Netanjahus Regierung zugeben, Mubarak politisches Asyl angeboten zu haben. Jetzt stehen junge Leute kämpferisch an den Straßensperren und skandieren: „Mubarak – Assad – Bibi Netanjahu!“, worin der Wunsch hörbar wird, den Repräsentanten der Diktatur des Kapitals in Israel stürzen zu sehen.
Am 14. Juli hatte eine Gruppe von jungen Leuten aus der Mittelschicht auf dem teuren Boulevard Rothschild im Zentrum von Tel-Aviv gegen die hohen Mieten, und zum Teil auch inspiriert von den Bewegungen in Südeuropa, ein paar Protest-Zelte aufgebaut. Einige unter ihnen sprachen davon, lediglich für einige Tage vor Ort bleiben zu wollen. Die von ihnen ergriffene Initiative wurde aber zum Signal. Sie öffnete der lang angestauten Abneigung gegenüber hohen Lebenshaltungskosten und überhaupt der Herrschaft des Kapitals im Land Tür und Tor. Innerhalb weniger Tage kursierte unter Regierungsbeamten, dass der aufkommende soziale Protest die Regierung auch zu Fall bringen könnte.
Überall im Land kommt es zu Diskussionen in Zelten, wie die Gesellschaft verändert werden muss und überall trauen sich Leute darüber nachzudenken, wie eine andere, eine bessere Zukunft aussehen kann. Es handelt sich zwar nicht um eine revolutionäre Situation, aber jedeR würde zustimmen, dass eine „soziale Revolution“ für „soziale Gerechtigkeit“ notwendig ist. Verglichen mit der allgemeinen Entfremdung und dem Leid, das Kapitalismus und Militarismus zu bieten haben, ist es kein Wunder, dass es in den Zelt-Camps von Tel-Aviv und anderer Städte nun zu fröhlicher Stimmung mit Musik, Filmvorführungen und der Darbietung satirischer Theaterstücke kommt.
Vom Boykott zum Streik
Einige Wochen bevor die Zelt-Proteste anfingen, zwang ein erfolgreicher, massenhafter, symbolischer und über Facebook organisierter Boykott von Hüttenkäse die Milchindustrie zur Senkung ihrer Preise. Es dauerte aber fast nur einen Augenblick, bis die Idee des Konsumentenboykotts zur Lösung des schwerwiegenden Problems immenser Lebenshaltungskosten umschlug in eine Strategie des aktiven Massenprotests mit Zelten, Protestmärschen, Straßenblockaden etc. Protest-Camps sprießen wie Pilze überall im Land aus dem Boden. Sie sind zum Magnet für nahezu alle anderen sozialen Proteste geworden, die sich in dieser tiefgreifenden Bewegung vereinen. Viele nehmen zum ersten Mal in ihrem Leben an Protesten teil. Und dabei geht es nicht nur um Jugendliche und junge Erwachsene. Auch Eltern sind darunter, die aus Protest gegen ihre hohen Lebenshaltungskosten mitmarschieren. Nicht nur die „privatisierten“ LehrerInnen und TaxifahrerInnen, sogar Angestellte bei Polizei und Justiz, denen es verboten ist sich gewerkschaftlich zu organisieren, nahmen an einigen der Proteste teil, um auf ihre Niedriglohn-Situation aufmerksam zu machen. Während der Demo der 300.000 hingen linke Fußballfans ein haushohes, gigantisches Transparent an einem Gebäude auf, auf dem ein Soldat aus der Russischen Revolution abgebildet war und das den englischen Titel „Arbeiterklasse“ trug. Das sind nur Beispiele von einer Reihe von Initiativen, die ergriffen wurden.
Die Regierung wägt unterdessen ihre Mittel ab, um mit der Bewegung irgendwie zu Rande zu kommen. Man fährt einen Zick-Zack-Kurs zwischen fehlschlagenden Versuchen, das Ganze kleinzureden und zu delegitimieren, sich damit solidarisch zu erklären und sogar, indem man aggressive neoliberale Schritte als Lösung für die Forderungen der ProtestiererInnen anbietet. Nur, um am Ende dann zu stumpfer Arroganz und Hetze zurückzukehren. Bisher fordert die Bewegung als Ganzes nicht klar und deutlich den Rücktritt der Regierung. Aber bisher greift auch keine der von der Regierung aufgelegten Taktiken. Der Versuch, die Privatisierung von Bauland (das zum größten Teil in Staatsbesitz ist) zu beschleunigen und es zu Schleuderpreisen an die Baulöwen auszuhändigen, rief eine energische Reaktion hervor, die durch die ganze Bewegung ging. Sie wurde dadurch nur noch größer. An der zentralen Demo, die nach einer Woche stattfand, nahmen rund 30.000 Menschen teil. Innerhalb einer Woche verfünffachte sich diese Zahl mit parallel stattfindenden Protestkundgebungen überall im Land. Nach einer weiteren Woche wurden dann schon 300.000 Menschen mobilisiert!
Von Anbeginn gab es eine bedeutende Schicht unter den ProtestiererInnen, die zur Einsicht gekommen waren, dass all die Demonstrationen an sich gegen die Regierung nicht ausreichen würden und dass Streikaktionen nötig seien. Innerhalb weniger Tage traten 20.000 Menschen einem Facebook-Aufruf für einen umfassenden individuellen Streik am 1. August bei. Die von den kapitalistischen Bürgermeistern kontrollierte Vereinigung der Behörden auf lokaler Ebene wurde mitgerissen, dieser Initiative ebenfalls beizutreten. Sie führte Teilschließungen an besagtem Tag durch, um hinsichtlich der Krise den Druck auf die Regierung zu erhöhen. Und schließlich wurde auch der untätige Gewerkschaftsbund Histadrut, die wichtigste Arbeiterorganisation, in die Bewegung hinein gezwungen.
Das Eingreifen des Gewerkschaftsbunds Histadrut
Auf die Stimmung eingehend machte der Histadrut-Vorsitzende Offer Eini, der auch in seiner „Arbeits“partei ziemlichen Einfluss hat, den ersten Schritt. Er gab sich radikal und griff alle vorherigen Regierungen (auch die, an denen die „Arbeits“partei beteiligt war) dafür an, den Staat „in einem Tag von sozialistischer Politik, unter der der Staat für seine Bürger sorgt, zum kapitalistischen Markt“ hin umgeformt zu haben. Er lobte die jungen AnführerInnen des Protests und drohte der Regierung, dass die Histadrut alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel nutzen wird, sollte die Regierung nicht damit beginnen, ernsthaft auf die Forderungen des Protestes einzugehen. Doch sobald eben diese Forderungen auch radikale Reformen wie kostenlose Bildung und Gesundheitsversorgung umfassten, trat Eini empört dem kapitalistischen Chor bei. Er zog diese Forderungen ins Lächerliche, bezeichnete sie als grundlos und als „nicht praktikabel“. Als ob er gar nicht an der Spitze der stärksten Arbeiterorganisation Israels stünde. Zudem hob er hervor, dass die ProtestiererInnen den Premierminister zu respektieren haben und dass er hoffe, dass die Regierung nicht stürzt!
In den letzten Jahren haben die rechten und pro-kapitalistischen Kollaborateure in der Histadrut unter Eini eine erklärte Politik des betrieblichen Friedens betrieben und die Zahl der Streiks in Israel auf einen historischen Tiefstand gebracht. Das war Teil eines offiziellen Bündnisses mit den Kapitalisten und von zerstörerischen Abkommen mit verschiedenen Regierungen. Vor diesem Hintergrund handelte es sich bei der nun vom Histadrut organisierten Kundgebung mit 10.000 teilnehmenden ArbeiterInnen zwar doch um eine arg begrenzte, aber nichtsdestotrotz seltene Veranstaltung. Viele unter den Tausenden, die gekommen waren, identifizierten sich nicht mit dem Motto des Histadrut, das lautete: „Die Arbeiter sind FÜR den Protest“. Als ob die ArbeiterInnen nicht der Faktor sein müssten im Kampf gegen hohe Lebenshaltungskosten und die Herrschaft des Kapitals. Auf der Kundgebung lieferte Eini angesichts der Wut wegen der rapiden Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen in den letzten Jahrzehnten einige heuchlerische Lippenbekenntnisse ab. Für einige HafenarbeiterInnen, RettungsschwimmerInnen und weitere war das einfach zu viel. Sie standen schließlich zusammen bei den AktivistInnen von Tnua´t Maavak Sozialisti (CWI in Israel) und riefen: „Die ArbeiterInnen fordern den Generalstreik!“. Sie begehrten auf gegen die Heuchelei dieses falschen Fünfzigers. Besagte Parolen wurden von der „zionistisch-sozialistischen“ Jugendbewegung namens No`al energisch übertönt, die auch zugegen war. Abgesehen davon, dass versucht wurde, Megaphone abzunehmen, gingen sie dazu über, „ArbeiterInnen fordern soziale Gerechtigkeit“ zu brüllen, was in dieser Situation nichts als eine leere Phrase blieb.
Eine bedeutende Schicht der organisierten Arbeiterklasse hasst Eini und seine Kumpanen bis auf die Knochen, weil sie eine verräterische Politik betreiben, den ArbeiterInnen Handschellen anlegen und sie den Kapitalisten und der Regierung des Kapitals als billige Mahlzeit auf dem Tablett servieren. Bevor es nun zu dieser Bewegung kam, hatten Beschäftigtengruppen verschiedener Branchen aufgrund der krass gestiegenen Lebenshaltungskosten damit angefangen, den Weg des Kampfes zu beschreiten. Gerade noch rebellierten die SozialarbeiterInnen laut und in noch nie dagewesenem Ausmaß gegen einen Versuch Einis, ihnen nach ihrem Streik im März eine Vereinbarung zu diktieren, die einem Verrat gleichkam. Das führte zur Gründung einer Oppositionsbewegung innerhalb der Gewerkschaft der SozialarbeiterInnen. Der immer noch laufende Ärztestreik stand während der ersten Tage der Zelt-Proteste kurz davor, verraten zu werden. Doch dann folgten die AssistenzärztInnen dem Beispiel der SozialarbeiterInnen und rebellierten gegen die Führung der unabhängigen Ärzteorganisation. Das gab dem ganzen Streik neuen Schwung und brachte die überwältigende Unterstützung der Bevölkerung. Parallel dazu kommt es innerhalb des Histadrut seit geraumer Zeit dazu, dass ArbeiterInnen zumeist noch nur damit drohen auszutreten und in die neue, kleine und kämpferische Gewerkschaft „Power to the Workers“ (sinngemäß: Alle Macht den ArbeiterInnen) überzuwechseln. Aber hin und wieder tun sie es dann doch, wie die ArbeiterInnen des Betriebs Haifa Chemicals North, die sich momentan in einem schwierigen und schon drei Monate dauernden Streik befinden. Diese Entwicklungen deuten zum ersten Mal in Israel auf das vorhandene Potenzial für die Entwicklung einer unabhängigen Arbeiterbewegung hin.
Natürlich hofft die Regierung nun, dass angesichts der streikbrecherischen Leistungen, die Eini zum Beispiel auch im Fall des Verrats des jüngsten Streiks der SozialarbeiterInnen vorzuweisen hat, er jetzt dabei helfen wird, den Protest auf den Straßen zu einem gemächlichen Ende zu bringen. Zwar gibt es hierfür keine Garantie, da Eini und seine Bürokratie nicht einfach den politischen Selbstmord wählen werden. Sie werden aber versuchen, ihr politisches Überleben trotz des vielfältigen Drucks von Seiten der ArbeiterInnen, der Konzernchefs und der eigenen Regierung zu sichern. Aus diesem Grund unterstützte die Histadrut-Führung auch gerade erst einen recht kämpferischen Streik der Bahnbeschäftigten. Auch wenn es für diesen Moment nicht die wahrscheinlichste aller Möglichkeiten ist, so kann es sein, dass die Gewerkschaftsbürokratie sogar dazu gebracht wird, zu einem späteren Zeitpunkt den Generalstreik auszurufen. Eine Voraussetzung dafür ist natürlich, dass die Bewegung nicht im August schon abbröckelt. Tnua´t Maavak Sozialisti würde es begrüßen, wenn der Histadrut einen aktiven 24-stündigen Warnstreik in Form eines Generalstreiks ausrufen würde. Wir rufen dazu auf, dass – wo immer möglich – Arbeiterkomitees direkt in die Protestbewegung einbezogen werden, um sich über die Forderungen und möglichen nächsten Schritte der Bewegung auszutauschen, wozu dann auch Arbeitsniederlegungen gehören sollten.
Israelisch-palästinensischer Konflikt
Von großer Bedeutung ist es, dass auch einige Zelte von arabisch-palästinensischen Israelis aufgebaut wurden. Der Moment wurde genutzt, um Forderungen nach angemessenem Wohnraum aufzustellen und sich gegen die nationalistisch-rassistische Diskriminierung zu positionieren, die nämlich die Grundlage dafür ist, dass die palästinensische und arabische Bevölkerung unter den schlimmsten Wohnungsproblemen in Israel zu leiden hat. Dies geschieht trotz der Tatsache, dass viele der in Israel lebenden PalästinenserInnen der Meinung sind, es handele sich nicht um „ihren“ Protest. Teilweise ist das eine Reaktion auf die stark im Vordergrund stehende Idee der „Einheit zwischen Linken und Rechten“, die in der Praxis nur bedeutet, dass man keinen Widerstand gegen die Besetzung leistet. Und so taucht die Sehnsucht nach Frieden momentan noch nicht neben den Rufen nach „sozialer Gerechtigkeit“ auf. Hemmend hierbei wirkt auf gewisse Weise, dass der israelisch-palästinensische Konflikt der herrschenden Klasse dabei in die Hände gespielt hat, vorhergegangene soziale Proteste abschwächen zu können. Allerdings handelt es sich bei jedem Ansatz, der die nationale Frage ignoriert um eine gefährliche Falle, eben weil dies der israelischen herrschenden Klasse in die Hände spielt. Es hilft nur dabei, diese Aufstände auf den Bereich der Lebenshaltungskosten zu beschränken und sie von den anderen Kämpfen in der Region – vor allem von dem der PalästinenserInnen für Bürgerrechte und Unabhängigkeit – zu isolieren.
Bisher schlug jeder Versuch des herrschenden Establishments fehl, der Bewegung die Legitimation abzusprechen. Einer der OrganisatorInnen im Zentrum von Tel-Aviv ist in einem Video eines anonymen Internetusers der extremen Rechten sogar dafür angegriffen worden, Mitglied von Tnua´t Maavak Sozialisti zu sein und diese Bewegung sei angeblich kontrolliert und finanziert von einer linken Nichtregierungsorganisation. Aber so lange diese Bewegung und diejenigen, die ihr zweifellos folgen werden, keinen solidarischen Zugang zu den palästinensischen Massen finden und gegen die Besetzung und die Siedlungen auftreten, könnte es unter Umständen zu einem scharfen Bruch kommen, sobald es zur neuerlichen Eskalation des Konflikts zwischen Israel und den PalästinenserInnen oder aber Israel und den Ländern in der Region kommt. Die irreführenden Sicherheitswarnungen, die die israelische herrschende Klasse der jüdischen Bevölkerung gegenüber aussendet, werden dazu dienen, die Bewegung aufzuspalten. Man versucht Teile der Bewegung dazu zu bringen, den palästinensischen Kampf zu unterdrücken, der im Begriff ist, in nächster Zeit wieder loszubrechen.
Ein Warnsignal war bereits die Infiltrierung von rechtsextremen Personen, die sich tarnen und an die Bewegung anhaften. Sie versuchen Nationalismus zu entfachen, Werbung zu machen für die jüdischen Siedlungen im Westjordanland und auf gehässige Art und Weise Stimmung gegen arabische PalästinenserInnen, afrikanische Flüchtlinge und ausländische ArbeiterInnen zu machen. Ein gemeinsamer Protestmarsch arabischer und jüdischer Israelis aus verarmten Nachbarschaften aus dem Süden Tel-Avivs, Jaffa und anderen Orten wurde abgesagt, nachdem Drohungen von den rechtsextremen Kahanisten kamen. Zelte, die in Tel-Aviv von jüdischen und arabischen Israelis gemeinsam aufgebaut und organisiert wurden, sind physisch angegriffen worden. Von einer Minderheit der radikaleren Schichten der Bewegung werden diese rechtsextremen Elemente als Gefahr wahrgenommen, die sie rauszuwerfen versuchen. So wurden zum Beispiel Zelte von Rechtsextremen abgefackelt. Doch erfolgreich raushalten kann man diese Leute nur, wenn man sich der Methoden des vereinten solidarischen Kampfes zwischen allen Ausgebeuteten und Unterdrückten bedient. Jüdinnen, Juden und PalästinenserInnen müssen gemeinsam gegen Rassismus und die Besetzung vorgehen. Bislang fühlte sich der Sprecher der Studierendenvereinigung souverän genug, um die wichtigste Organisation der Siedler herzlich dafür willkommen zu heißen, sich „den Protesten anzuschließen“, auch wenn er sich damit zum Erfüllungsgehilfen der reaktionären Kräfte macht.
Sozialismus muss auf die Tagesordnung
In einem Brief an den Premierminister wagten es einige namhafte Kapitalisten, ihre Sympathie für die Proteste auszudrücken und schamlos davon zu sprechen, dass man sich um die Lebenshaltungskosten der arbeitenden Menschen sorge. In Wirklichkeit fürchten die Top-Industriellen, dass die Wut sich gegen die Herrschaft des Kapitals richten wird. Kurz bevor die Bewegung aufkam, versuchten einige von ihnen noch, Werbung für ein Gesetz zu machen, dass ein üblicher Terminus für Arbeitgeber in der Gesetzgebung verbieten sollte. Wörtlich bedeutete dieser, „die, die andere versklaven / arbeiten lassen“! Jetzt drücken sie hingegen wesentlich verzweifelter ihre Bereitschaft aus, den Kopf von Netanjahu zu opfern, um das Feuer abzuhalten.
Netanjahu selbst unterliegt eindeutig der Hoffnung, entweder das Gespenst der wirtschaftlichen Rezession für sich zu nutzen oder die bevorstehende UNO-Abstimmung über die staatliche Anerkennung Palästinas. Er will irgendeinen Vorwand, um die Bewegung abzuschwächen – im Namen der jüdisch-israelischen „nationalen Einheit“.
Die kapitalistischen Medien berichteten von Anfang an hauptsächlich sehr „sympathisierend“ über die Bewegung. Die Finanzzeitungen versuchten sie darzustellen als eine Art Rebellion gegen die „Zentralisierung des Marktes“ und für „mehr Wettbewerb“ zwischen den Kapitalisten. Es handelt sich hierbei um dieselben Organe, die sich über Forderungen nach echten Sozialreformen lustig machen.
Es ist offensichtlich, dass nicht wenige aus der kapitalistischen Klasse die Möglichkeit in Erwägung ziehen, das soziale Gewitter für sich zu nutzen und eine neue Koalitionsregierung ins Spiel zu bringen, die glaubwürdiger darin wäre, ihre eigenen geo-strategischen Interessen durchzusetzen und die sozialen Unruhen zu befrieden. Das ginge freilich sogar mit dem Feigenblatt einer neuen „sozialenn“ politische Partei, die aus dieser Bewegung heraus erwachsen würde. Immerhin würde eine solche Partei laut Meinungsumfragen 90 Prozent der Befragten durchaus ansprechen. Eine Partei, die aus der Bewegung heraus entstehen würde, könnte laut einer Erhebung 20 der 120 Sitze im Parlament erringen und damit zu einer der stärksten politischen Kräfte werden!
Dazu bestehen allerdings unterschiedliche Meinungen und nur wenige würden die Gründung einer solchen Partei zum jetzigen Zeitpunkt unterstützen. Das liegt an der allgemein herrschenden riesigen Lücke, die zwischen den momentan vorhandenen Erwartungen der ArbeiterInnen und jungen Menschen nach radikalem Wandel und den konkreten Schritten und Forderungen, die zur Zeit vorgebracht werden, besteht. Generell ist die Vorstellung weiterhin die, das Beste, was man tun könne sei, mit der weiter an Zuspruch gewinnenden Mobilisierung für die Bewegung fortzufahren. Eine Initiative spricht in diesem Zusammenhang von der Möglichkeit, eine Demonstration mit einer Million Menschen am 3. September auf die Beine zu stellen. Zwar haben viele ihre Zweifel, ob das zu echten Ergebnissen führen wird, um einen gründlichen Wandel zu erreichen, sehen aber auch keinen anderen Weg. Mangels klarer sozialistischer Alternative hegen viele nostalgische Gefühle gegenüber dem Sozialstaat Israels vergangener Zeit, als die Arbeits- und Lebensbedingungen weit mehr abgesichert waren. Aber auch mit diesem vagen und im Endeffekt nicht realisierbaren Konzept, den israelischen Kapitalismus „korrigieren“ zu wollen, scheint nicht klar zu sein, welche Schritte unternommen werden müssen, um zumindest in dieser Richtung voranzukommen.
Es ist offensichtlich, dass es wachsende Zustimmung für Ansätze gibt, die Streikaktionen favorisieren, die die Notwendigkeit einer „anderen“ Partei hervorheben, welche die Stimme des Kampfes sein muss, die die indirekten Steuern drastisch gekürzt wissen wollen und die die Notwendigkeit dafür sehen, dass die Regierung eingreifen muss, um „bezahlbaren Wohnraum“ zu schaffen. Bisher noch stehen die Forderungen nach Verstaatlichung und für energische Schritte gegen die Konzernherren nicht im Mittelpunkt. Aus diesem Grund ersetzt Tnua´t Maavak Sozialisti zum Beispiel den populären Slogan „Die Antwort auf Privatisierung heißt Revolution!“ durch „Die Antwort auf Privatisierung heißt Verstaatlichung!“. Einer der jungen Leute, die die Zeltaktionen im Zentrum von Tel-Aviv organisieren, und der mehr oder weniger zufällig zu einem der führenden Köpfe der Bewegung wurde, hat wieder und wieder erklärt, dass die Lösung des Problems den „freien Markt“ einbeziehen muss und nicht im Gegensatz zum Kapitalismus steht.
Wenn auch weiterhin unklar ist, wie weit es gehen wird, so ist diese großartige Bewegung, diese fantastische Rebellion gegen die Herrschaft des Kapitals in vielerlei Hinsicht nur der Anfang. Eine der größten Errungenschaften, die die Bewegung bisher hervorgebracht hat, ist, dass es mehr und mehr Interesse an wirklich sozialistischen und marxistischen Ideen als ernsthafte Lösung für die gescheiterte Gesellschaft gibt.
Die jüdisch-israelischen und palästinensischen Mitglieder von Tnua´t Maavak Sozialisti sind quasi rund um die Uhr in der Bewegung aktiv. Dazu zählt auch, dass wir Beiträge zur Solidarität zwischen jüdischen und palästinensischen ArbeiterInnen und Jugendlichen machen sowie gegen die Besetzung und für Frieden (zum Beispiel durch den Slogan: „Die Antwort auf das Teile-und-Herrsche: Auch mit der Besetzung muss Schluss sein!“).
Einer unserer neueren Genossen, der 12-jährige Orr Akta, ist unterdessen als „Kind der Revolution“ zum Fernsehstar geworden. Für die etablierten Medien ist er nur ein Kuriosum. Aber der Genosse erklärt den Medien gegenüber fließend die sozialistischen Ideen und macht Tnua´t Maavak Sozialisti einem breiteren Publikum bekannt. Alles in allem haben wir zur Hauptsendezeit besondere Aufmerksamkeit erhalten.
Menschen aller Altersgruppen kommen in Kontakt mit sozialistischen Ideen und wollen darüber diskutieren. Dazu gehört auch ein neunjähriger Junge, der uns folgende Anfrage zuschickte, Mitglied zu werden: „Ich bin Sozialist. Ich weiß alles über Sozialismus, mein Bruder hat´s mir beigebracht. Ich meine es ernst und komme zu den Demonstrationen“….